Unsere Gegenwart könnte man so beschreiben: Wir leben in einer Welt des schnellen Wandels, unsere Gesellschaft ist geprägt von Individualisierung. Vielfältige Lebensweisen und Lebensentwürfe werden zunehmend akzeptiert. Nicht mehr aber, dass die Interessen von Minderheiten außen vor bleiben.

Das ist ein gesellschaftlicher Fortschritt. Aber auch mit Herausforderungen verbunden. Denn: Wie geht der Zusammenhalt in der Gesellschaft inmitten dieser Vielfalt nicht verloren? Und: Welchen Beitrag können Kirchen dabei leisten?

EKD-Grundlagentext: "Vielfalt und Gemeinsinn"

Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt ein neuer Grundlagentext der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der von der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD erarbeitet und jetzt veröffentlicht worden ist.

Unter dem Titel "Vielfalt und Gemeinsinn" beschreiben die Autoren, wie die beiden Waagschalen durch das Einwirken von evangelischem Christentum ausbalanciert werden können: Pluralität und Diversität in der einen, der Wunsch nach Gemeinsamkeiten und Gemeinsinn in der anderen.

"Aufgabe der Kirchen ist und bleibt es, einen Grundkonsens zu vermitteln, der zugleich Vielfalt ermöglicht", sagte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm bei der Vorstellung des Textes. "Wer heute die Zeitung aufschlägt oder in sozialen Netzwerken unterwegs ist, stößt fast überall auf öffentlich diskutierte Themen, hinter denen letztlich ethische Fragen stehen."

"Unabhängig von der jeweiligen Mitgliederzahl bleiben die Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Diskurs über ethische Grundorientierungen wichtige Orte"

Über solche Fragen der Lebensführung und Lebenshaltung müsse in einer demokratischen Zivilgesellschaft diskutiert werden. "Unabhängig von der jeweiligen Mitgliederzahl bleiben die Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Diskurs über ethische Grundorientierungen wichtige Orte", so der bayerische Landesbischof.

Es sei "ohne Zweifel richtig", sensibel dafür zu sein, wenn die Sichtweisen und Bedürfnisse von Minderheiten von der Mehrheit nicht angemessen berücksichtigt werden. Bedford-Strohm: "Allerdings darf das nicht dazu führen, dass sich immer mehr einzelne Gruppen in der Gesellschaft gegenüberstehen, die einander in wechselseitiger Abgrenzung wahrnehmen."

Christlicher Glaube fördert das Gemeinsame und die Vielfalt

Doch der christliche Glaube stelle Ideen, Orte und Praktiken bereit, die den Sinn für das Gemeinsame und gleichzeitig Vielfalt förderten.

Ganz zentral dabei: der christliche Gottesdienst. Dieser sei mehr als Kult und Ritus, heißt es in dem Grundlagentext, sondern auch das Einüben einer besonderen Haltung, die Vielfalt respektiere, weil es das Wissen um die Gemeinschaft im Glauben gebe.

"Evangelische Ressourcen des Gemeinsinns"

"Die besondere Ressource des christlichen Glaubens liegt darin, einen verbindenden Rahmen vorzugeben und gleichzeitig individuell vielfältige Positionierungen zu ermöglichen", sagt Reiner Anselm, Münchner Theologieprofessor und Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung in der EKD.

In dem Grundlagentext werden die Autoren, zu denen neben Theologen außerdem  Juristen, Wissenschaftler und Politiker gehören, auch ganz praktisch. Sie nennen drei Felder, in denen diese "evangelischen Ressourcen des Gemeinsinns" zur Anwendung kommen können: In der Bildung, Diakonie und im Friedenshandeln.

"Vielfalt und Gemeinsinn - Der Beitrag der evangelischen Kirche zu Freiheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt" ist online als kostenloses PDF abrufbar und kann als gedrucktes Exemplar bestellt werden.