Junge Eltern haben heute oft keine Vorbilder mehr, an denen sie sich orientieren könnten: Sie wissen nicht, wie man Kinder erziehen. Vielen ging es in ihrer eigenen Familie nicht gut. Die Zahl der Eltern, die bereits mit einem Baby völlig überfordert sind, steigt stetig an, sagt Stephan Dauer, Erziehungswissenschaftler aus dem oberbayerischen Putzbrunn. Aus diesem Grund werden immer mehr Säuglinge in Kleinstkindgruppen der stationären Jugendhilfe betreut.

Geraten Babys in ihrer Familie in bedrohliche Notsituationen, werden sie, sofern das zuständige Jugendamt davon mitbekommt, aus dieser Familie herausgenommen. "Gerade die Zahl der Inobhutnahmen von Säuglingen ist sprunghaft angestiegen", erläutert Dauer, Leiter des "Salberghauses", einer Einrichtung der Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising. Zunächst werde versucht, die Kinder in einer Pflegefamilie unterzubringen: "Doch gerade in großen Städten haben wir inzwischen einen eklatanten Mangel an Pflegeeltern."

Manche Jugendämter seien deshalb gezwungen, Einrichtungen anzufragen, ob sie ad hoc Kleinstkindgruppen einrichten könnten. Solche eilends installierten Gruppen bieten Babys nicht immer eine gute Perspektive auf ein gesundes Aufwachsen. Wobei es Häuser gibt, die schon lange Säuglinge in Gruppen aufnehmen und dafür sorgsam ausgearbeitete Konzepte vorzuweisen haben. Das "Salberghaus" ist eines von ihnen. Bis zu 15 Kleinkinder, von denen manche noch kein Jahr alt sind, werden hier in überschaubaren Gruppen betreut.

"Feste Mitarbeiter gehen mit den Kindern durch den Tag", sagt Dauer. Bevor eine Mitarbeiterin Feierabend hat, bereitet sie die Kinder auf die nächste Kollegin vor: "Nachher kommt Melanie und bringt dich ins Bett!" Ein hochaggressiver kleiner Junge, den Laien vorschnell als missratenes Kind abstempeln würden, ist für Traumapädagogen ein junger Mensch in allerhöchster Not. "Eine Person alleine wäre mit diesem Kind völlig überfordert", sagt Ursula Winter, Erziehungsleiterin im Thomas Wiser Haus, einer Jugendhilfeeinrichtung in Regenstauf.

Mit der Gruppe "Urmel" existiert dort ebenfalls eine Kleinkind- und Notaufnahmeeinheit. Bis zu sieben Kinder zwischen 0 und 6 Jahren, die von ihren Eltern teilweise schwer traumatisiert wurden und schon in jungen Jahren massive Bindungsstörungen aufweisen, leben in der Gruppe zusammen. Auch Winter beobachtet, dass die Quote der kleinen Kinder, die von den Jugendämtern in Obhut genommen werden müssen, stetig zunimmt. Früher, sagte sie, wurden Heimplätze vor allem für Kinder zwischen neun und elf Jahren gesucht.

Wegen des wachsenden Bedarfs wurde "Urmel" vor fünf Jahren mit einem speziellen pädagogischen Konzept für kleine Kinder gegründet. Die Kinder kommen teilweise von weither: "Gerade hatte ich einen Anruf aus Nordrhein-Westfalen, der Kollege vom Jugendamt sucht einen Platz für ein 22 Monate altes Kind." Nicht selten waren die Kinder schon in Pflegefamilien. Winter hatte schon vier Jahre alte Kinder, für die ihre Einrichtung die fünfte Station in ihrem kurzen Leben war.

Erhalten Babys zu wenig Liebe, ist dies ein großer Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen. Bei stationärer Unterbringung, muss ihr Bedürfnis nach Wärme, Zuwendung und Verlässlichkeit unbedingt gewährleistet sein, sagt Michael Neuner vom Bayerischen Landesjugendamt. Wie viele Kleinstkindgruppen es in Bayern gibt, ist ihm nicht bekannt: "Im Verhältnis zu allen stationären Plätzen bilden die Plätze für Kleinstkinder jedoch einen sehr geringen Anteil."

Die Jugendämter versuchten alles, um kleine Kinder in Pflegefamilien unterzubringen. Pflegeeltern seien bei Kommunen hoch im Kurs, da immer mehr Kinder aus ihrer Familie herausgenommen werden müssen. Neuner sagt, dass dies in Bayern vor allem auch Säuglinge und ganz kleine Kinder betrifft. Ursache dafür sei der Kinderschutzparagraf des 8. Sozialgesetzbuches. Sensibler noch als früher schauen Jugendämter seit 20 Jahren, ob ein Kind in seiner Familie gut aufwachsen kann.

Kleine Kinder in höchster Not

Ist dies zweifelhaft, werden im Notfall schon wenige Tage alte Kinder in Obhut genommen. Wobei auch möglich ist, dass sie gemeinsam mit ihrer Mutter in eine Einrichtung gehen. Viele potenzielle Pflegeltern spielen aus einem Solidaritätsgefühl heraus mit dem Gedanken, ein benachteiligtes Kind aufzunehmen. "Personen, die bereit sind, ein fremdes Kind befristet oder auf Dauer zu erziehen, zeigen ein hohes soziales Engagement", sagt Jugendamts-Experte Neuner.

Dass es immer weniger solcher Menschen gibt, liegt laut Neuner an den heute sehr komplexen Problemlagen der Pflegekinder. Außerdem mangele es an finanzieller und gesellschaftlicher Anerkennung. Neuner: "Die Leistungen, die Pflegeeltern erbringen, stellen inzwischen ein knappes Gut dar." Dass es die kommunale Jugendhilfe heute schwer hat, Pflegeeltern zu gewinnen, sagt auch Edith Petry vom Sozialreferat der Landeshauptstadt München. Auch nach ihren Worten liegt das daran, dass die Kinder immer komplexere Hilfe benötigen.

Nicht selten scheitert der Wunsch, ein Pflegekind aufzunehmen, aber auch an mangelndem Wohnraum. Schließlich spielen gesellschaftliche Entwicklungen mit hinein: Immer mehr Frauen arbeiten, Beruf und Kindererziehung sind schwer zu vereinbaren. Petry: "Zudem eröffnete die Reproduktionsmedizin für ungewollt kinderlose Paare neue Möglichkeiten." Der aktuelle Trend bei den Kommunen geht laut Petry deshalb hin zur sogenannten Netzwerkerkundung. Dabei versucht das Jugendamt, Bezugspersonen im familiären oder sozialen Umfeld des Kindes für eine Vollzeitpflege zu suchen. Ist es auch auf diese Weise nicht möglich, ein Kind zu vermitteln, wird erst bayern- und dann bundesweit nach einem Platz gesucht.

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