"Und der Tod wird nicht mehr sein, auch kein Leid, kein Geschrei, keine Schmerzen werden mehr sein. Denn Gott wird abwischen alle Tränen" (Johannesoffenbarung 21,4)

Diese Vision steht auf der letzten Seite der Bibel. Doch auch Menschen, die nicht an Gott glauben, machen sie sich zu eigen. So versprach die DDR-Kinderzeitung "Bummi" (Ausgabe vom September 1970) Kindern eine Zukunft ohne Krankheiten: "Man braucht keine Tränen zum Weinen mehr. Opa und Oma werden nicht mehr krank, sondern immer leben und sich freuen über alles. Kluge Menschen haben sich ausgedacht, wie die Krankheiten, eine nach der anderen vertrieben werden. Und so marschieren die Tränen nacheinander, hübsch in Reihe, damit es keine Überschwemmung gibt, ab ins Meer."

Dank des medizinischen Fortschritts würden die Menschen irgendwann ewig leben und damit unsterblich sein, so prophezeiten es zumindest die Macher des Magazins 1970 allen "Arbeitern, die Lenins Glückschlüssel kennen“.

Unsterblichkeit als nächste Ziel?

Heute wäre damit wohl am ehesten die Arbeiterklasse Nordkoreas gemeint, doch dass diese demnächst in den Genuss der Unsterblichkeit kommt, lässt uns mitleidig aufhorchen. Diese armen Menschen haben ja noch nicht einmal einen Kühlschrank. Aber was ist mit den Multimilliardären aus dem Silikon Valley?

Einige von ihnen wollen nach Eintritt des Todes eingefroren werden. Sie hoffen auf eine Zukunft, in der Krankheiten heilbar sind. Sie setzten darauf, dass Menschen dann ewig oder zumindest sehr, sehr lange leben werden. Der Google-Gründer Larry Page ist beispielsweise einer derjenigen, die große Beträge in die Unsterblichkeitsforschung investieren.

Erst Larry Page und die kalifornischen Milliardäre, dann der deutsche Privatversicherte und als letztes auch die Arbeiter aus dem sozialistischen Nordkorea? Der israelische Ur- und Frühgeschichtsprofessor Yuval Noah Harari sieht tatsächlich den unsterblichen Menschen – er nennt ihn "homo deus" – als zukünftige Möglichkeit am Horizont auftauchen.

Harari spannt den Bogen vom Beginn der Menschheitsgeschichte in die Zukunft. Seine Analyse langfristiger Entwicklungsprozesse mündet in der Prognose, dass wir in Folge des medizinischen Fortschritts den Tod überwinden werden. So unglaublich das klingt: Ermutigende Erfolge auf dem Weg dahin gibt es bereits.

Den Tod überwinden

Die durchschnittliche Lebenserwartung in den europäischen Industriestaaten steigt alle zweieinhalb Jahre um ein Jahr. Diese Entwicklung ist seit 100 Jahren – nur durch Kriege unterbrochen – stabil. Und Harari findet viele überzeugende Argumente, warum wir noch lange nicht am Ende unseres Kampfes gegen die Endlichkeit sind.

Doch auch wer nicht an die Mensch-gemachte Unsterblichkeit glaubt, setzt implizit auf das Konzept, das hinter diesem Ziel steht: Wissenschaftliche Forschung, optimale medizinische Betreuung und maximale Protektion sollen uns vor dem Tod bewahren. Wenn schon nicht für immer, dann wenigstens möglichst lange!

Das Coronavirus und der Tod

Doch jetzt konfrontieren uns die Corona-Toten knallhart mit unseren derzeitigen Grenzen: Särge in norditalienischen Turnhallen, Schicksale jung verstorbener und täglich neue Todeszahlen? Das führt uns vor Augen, dass der Mensch immer noch schmerzhaft sterblich ist. Zugleich macht unsere Reaktion auf diese Bedrohung sichtbar, wie unsere heutige Gesellschaft mit dem Tod umgeht.

Wir wollen leben. Wir wollen möglichst lange leben. Wir wollen, dass möglichst alle Menschen möglichst lange leben. Das Leben zu schützen und zu bewahren ist der große kulturelle Konsens. In der Coronakrise wird er lagerübergreifend zur Staatsraison. Dafür setzten sich auch die beiden großen Kirchen mit ein. Die Unantastbarkeit des Lebens kategorisch zu verteidigen, ist eine beeindruckende zivilisatorische Errungenschaft. Aber ist diese Einstellung auch Ausdruck eines souveränen Umgangs mit dem Tod?

"I don’t want to die, nobody wants to die, but man, we got to take some risks and get back in the game."

Zu deutsch: "Ich möchte nicht sterben, niemand möchte sterben, aber hey, wir müssen ein paar Risiken auf uns nehmen und zurück ins Spiel kommen." Mit diesen Worten warb Dan Patrick, Vizegouverneur von Texas, dafür, es mit den Corona-bedingten Beschränkungen nicht zu übertreiben.

Der 70-jährige Republikaner argumentierte dabei mit seinen sechs Enkeln, deren Zukunftsperspektiven er durch die Maßnahmen beeinträchtigt sieht. Auf seine eigene Zugehörigkeit zur Risikogruppe befragt, erklärte er: "There are more important things than living."

"Es gibt wichtigere Dinge als zu leben."

Deutsche Medien reagierten mit einem Shitstorm. Patricks Äußerungen wurde als "abstrus" und "verantwortungslos" verurteilt. Ich wurde während meiner Tätigkeit als Seelsorger in einem Pflegezentrum auf ihn hingewiesen. Eine 88-jährige hat mir von ihm berichtet. "Ich mag diese Republikaner ja eigentlich nicht" – erläutert die ehemalige Gymnasiallehrerin – "aber an dieser Stelle hat der Mann doch einfach recht!"

Die aktuelle Aufgeregtheit wegen Corvid-19 verwundert sie: "Viele Menschen scheinen auf einmal zu entdecken, dass es den Tod gibt. Oh!? Wir müssen sterben? Wie schrecklich! Ich habe das aber auch schon vor Corona gewusst. Es gibt ja auch andere Krankheiten, die für Menschen in meinem Alter tödlich sind."

Wie sehen Bewohner eines Pflegeheims das Coronavirus?

Rigorose Kontaktbeschränkungen schützen die Bewohner dieses Pflegezentrums bislang mit Erfolg. Ihre Kinder und Enkel bringen größtes Verständnis dafür auf, dass man sich nur in einem Besuchsraum mit Plexiglasscheibe getrennt sehen darf. Die jüngeren Generationen wollen alles dafür tun, das Leben ihrer Eltern beziehungsweise Großeltern zu schützen. Doch wenn ich eine Umfrage unter den 133 hochbetagten Bewohnern machen würde?

Ich bin mir sicher, dass eine Mehrheit für einen entspannteren Umgang mit den Risiken wäre. Nicht, weil sie die Risiken nicht sehen, sondern weil sie wissen, dass sie ohnehin in absehbarer Zeit sterben müssen.

Ist es wirklich sinnvoll, die Verlängerung des Lebens zum alles bestimmenden Ziel zu machen? Alles zu tun, damit möglichst alle möglichst lang leben? Ja, das ist richtig. Diesen großen zivilisatorischen Konsens will ich nicht infrage stellen. Aber zugleich spüre ich: Nein, diese Strategie nimmt dem Tod nicht seine Macht! Das zeigt sich in der Coronakrise. Sie führt uns vor Augen, wie unsouverän unsere Kultur mit dem Tod umgeht.

Souveräner Umgang mit dem Tod

Dass doch bitte möglichst alle möglichst lange leben sollen, das ist keine souveräne Antwort auf den Tod. Diese Einstellung setzt ja auf nicht anders als die eingangs geschilderten Unsterblichkeitsphantasien. Die Realität des Todes wird verdrängt. Der Konfrontation mit unserer Sterblichkeit weichen wir aus. Wir schieben den Tod vor uns her. Dass es in unserer Gesellschaft eine breite Zustimmung zu einschneidenden und teuren Maßnahmen gegen Corvid-19 gibt, zeigt, wie stark unser Bedürfnis ist, den Tod zu verdrängen.

Die Kirchen tragen diese Maßnahmen mit. Sie erweisen sich darin als systemloyal. Sie beanspruchen keine Extrawürste gegenüber Baumärkten und Friseursalons. Das ist fair. Aber als diese dann teilweise noch vor den Gotteshäusern ihre Türen wieder öffnen durften, kam in der Kirche die Frage auf, wie "systemrelevant" wir denn überhaupt noch sind?

Hat der Tod einen Sinn?

Solange die Kirchen mit dafür Verantwortung übernehmen, dass möglichst alle möglichst lange leben, sind sie sympathisch systemloyal. Relevant bleiben sie aber nur, wenn sie einen Beitrag dafür leisten, dass wir souveräner mit dem Tod umgehen. Der Tod ist und bleibt real. Aber vielleicht hat er ja sogar einen Sinn? Vielleicht lädt die Begrenztheit der Lebenszeit uns dazu ein, bewusster zu leben?

Vielleicht erfüllt es unsere Beziehungen mit einer spezifischen Wertschätzung, dass wir wissen, dass wir einander nicht ewig haben? Vielleicht genießen wir besondere Augenblicke, gerade weil wir nicht unbegrenzt Zeit haben? Vielleicht ruft gerade die Verletzlichkeit des Lebens uns zu einem achtsamen Umgang mit unseren Ressourcen auf? Vielleicht macht es uns oberflächlich, dauernd vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit davonzulaufen?

Chancen in der Coronakrise

Diese "Vielleicht"-Fragen zeigen, dass in der Coronakrise auch Chancen stecken: Wir könnten neu über unseren Alltag, unsere Beziehungen und unsere Gesellschaft nachdenken. Wir könnten dann in einer heilsamen Weise die eine oder andere Weiche umstellen. 

In der christlichen Überlieferung war der Tod immer ein Lebensthema. Er hat zur Lebensbilanz eingeladen, existenzielle Fragen aufgeworfen und starke Emotionen geweckt. Zugleich hat der Glaube Gelassenheit und Hoffnung angesichts des Todes ermöglicht. Genau dieses Erfahrungsspektrum scheint vielen Menschen heute zu fehlen.

Unsere Gesellschaft reagiert deshalb vor allem mit "Technik" auf den Coronavirus: Medizin, Forschung und staatlich organisierte Protektion sollen dafür sorgen, dass möglichst wenige sterben müssen.

Ja, das wird Leben retten! Aber, nein, damit kriegen wir den Tod nicht aus der Welt.

An dieser Stelle sind die christlichen Traditionen im Umgang mit dem Tod nicht nur souveräner, sondern auch realistischer. Die Kirche hat das Potenzial, den Tod realistisch, als ein zentrales Lebensthema und in lebensbejahender Weise zur Sprache zu bringen.

Das ist eine Kulturleistung, die sie über Jahrhunderte relevant gemacht hat. Einfach nur loyal mitzumachen, bei dem großen gesellschaftlichen Projekt, möglichst viele Leben möglichst lange zu verlängern – das ist deswegen nicht falsch. Aber es ist zu wenig.