Die Kameras laufen noch, als Margot Käßmann sich des Talars entledigt. In der Live-Übertragung des Festgottesdiensts zum 500. Reformationsjubiläum in Wittenberg sieht das Fernsehpublikum die im Aufbruch befindliche Festgemeinde, hört das Orgelnachspiel. Die Liturgen und Prediger, darunter Margot Käßmann, sind bereits aus der Kirche ausgezogen.

Kaum hinter den großen Kameras angekommen, wechselt die zierliche Frau in den roten Wintermantel. Es ist kühl an diesem 31. Oktober 2017. Käßmann schlingt den Mantel eng um sich, wie man es tut, wenn man fröstelt. Das schnelle Ablegen des Talars wirkt dennoch wie ein vorweggenommener Abschied Käßmanns von ihrer Kirche, der spätestens an diesem Tag greifbar wird.

Margot Käßmann: Botschafterin der Evangelischen Kirche

Als Botschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war Käßmann zuletzt im Einsatz. Acht Monate später wird die Theologin, die zu den prominentesten, beliebtesten und zugleich polarisierendsten Personen der evangelischen Kirche gehört, mit einem Gottesdienst in Hannover offiziell in den Ruhestand verabschiedet. 

Käßmann hat bereits angekündigt, sich dann zumindest für einige Zeit aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. "Jetzt sind andere dran", sagte sie im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. Öffentlichkeit heiße auch "ständige Auseinandersetzung, angreifbar zu sein und Kritik einzustecken". Im Ruhestand will sie Privatperson sein. 

Für Diskussionen hat Margot Käßmann häufig gesorgt

Ihre Neujahrspredigt 2010 mit dem Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" stieß nicht nur eine Diskussion um Deutschlands Beteiligung an einem Krieg an. Politiker echauffierten sich über die einfache, aber wirkungsvolle Aussage. "Ich bin in Rechtfertigungsdruck geraten, der mich atemlos gemacht hat", sagt sie rückblickend. Auch für ihre pazifistische Grundhaltung erntete sie Kritik, Häme und Spott.

Beim Kirchentag in Berlin sah sie sich mit einem rechten Shitstorm im Netz konfrontiert, nachdem ein Zitat von ihr zur Familienpolitik der AfD aus dem Zusammenhang gerissen und hundertfach bei Twitter geteilt worden war. Käßmann polarisiert: Während sie bis heute bei Kirchentagen und anderen Veranstaltungen Säle und Hallen mit Fans füllte, empören sich konservative Christen über ihre Standpunkte.

Margot Käßmann: Vom Theologiestudium zum Ratsvorsitz der EKD

Geboren 1958 als Tochter eines Kfz-Mechanikers und einer Krankenschwester, begann Margot Schulze 1977 ihr Theologiestudium. 1981 heiratete sie Eckhard Käßmann, mit dem sie vier Töchter hat, inzwischen aber geschieden ist. Auch er wird Pfarrer – und nur er bekommt eine Stelle, als sie beide ihr Studium abschließen. Käßmann, auch Kämpferin für Gleichberechtigung, wird zunächst nur Pfarrfrau. "Margot fühlt sich unwohl", berichtet Käßmanns langjähriger Berater Uwe Birnstein in einer Biografie über diese Zeit. 

Käßmann beginnt eine Dissertation und engagiert sich im Ökumenischen Rat der Kirchen. Anfang der 1990er-Jahre wird sie Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Hofgeismar, 1994 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags. 1999 wird sie in Hannover zur Bischöfin von Deutschlands größter Landeskirche gewählt. Zehn Jahre später wird sie erste Frau an der Spitze der EKD, bleibt es aber nur für wenige Monate. Nach einer Fahrt unter Alkoholeinfluss tritt sie im Februar 2010 von allen kirchlichen Ämtern zurück.

"Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand", verabschiedet sie sich

Ihre Glaubwürdigkeit und Beliebtheit scheinen nach dem Fehltritt sogar zu steigen. Wie bereits beim öffentlichen Umgang mit ihrer Brustkrebserkrankung 2006 fliegen ihr Sympathien zu. Käßmann wird zum Vorbild für Geradlinigkeit und den Umgang mit Fehlern. 2016 wird sie wegen ihrer Fähigkeit, Menschen zu erreichen, sogar als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt gehandelt. Käßmann lehnt ab, bleibt als Gesicht des Reformationsjubiläums im Dienst ihrer Kirche.

Stehend applaudierend dankten die Mitglieder der EKD-Synode ihr dafür. Die EKD-Leitung übergab ihr ein Geschenk – ein Buch, das Käßmann im Ruhestand, in dem sie lesen und schreiben will, wohl nicht als erstes lesen muss: die Bibel.

 

"Rebellinnen": Die Ausstellung über starke Frauen

Dieser Text ist Teil der Wanderausstellung "Rebellinnen". Sie stellt Frauen aus dem deutschsprachigen Raum vor, die für ihre Überzeugungen und Rechte kämpften, die Gesellschaft prägten, sie verändern wollten.

Als Medienpartner von "Rebellinnen" veröffentlicht sonntagsblatt.de Porträts und weiterführende Informationen zu allen Frauen, die in der Ausstellung gezeigt werden.

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