Am 30. April 2020 ist der Tag für gewaltfreie Erziehung - und gerade in Zeiten von Corona ist das Recht in Gefahr. Viele Familiene stehen unter einem enormen Druck. Der Verein SOS-Kinderdorf hat anlässlich des Tages Erfahrungsberichte von verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisation veröffentlicht. Was diese über die aktuelle Situation sagen.

"Viele Familien, die wir betreuen, hatten schon vor der Krise Sorgen. Finanzielle Probleme, Arbeitslosigkeit und mangelnde Perspektiven nehmen viele Eltern jetzt noch stärker wahr. Es kommt zu Stress oder Überforderung. Zudem fehlen Orte wie Kitas oder Schulen, die Eltern in Problemlagen unterstützen und entlasten können. Wir merken deutlich: Die Situation in vielen Familien ist angespannt. Für diese Familien müssen wir da sein, damit die Kinder nicht die Leidtragenden werden", sagt Heidrun Boye von den Ambulanten Hilfen des SOS-Kinderdorfs Hamburg: 

"Hilfe vor Ort ist nötiger als zuvor."

"Wir bieten jetzt auch digitale und telefonische Beratung an, aber bei offensichtlichen Gefährdungen für die Kinder brauchen wir den persönlichen Kontakt. Gerade bei kleinen Kindern, die sich nicht selber Hilfe holen können, müssen wir nach dem Rechten schauen." Mit der gebotenen Schutzkleidung und in enger Absprache mit dem Jugendamt sind Boye und ihr Team weiterhin in besonders belasteten Familien in Hamburg unterwegs. "Wir schauen im Sinne der Kinder genau hin, aber wir signalisieren auch: wir sind für euch da, wir helfen euch, bevor Grenzen überschritten werden."

Den engen Kontakt hält auch Bärbel Bebensee, Gesamtleiterin des SOS-Kinderdorfs Nürnberg, für unabdingbar: "Viele Eltern fühlen sich überfordert, wir zeigen ihnen: Ihr werdet nicht allein gelassen! Diese Entlastung kommt vor allem auch den Kindern zugute." Die Ambulanten Hilfen der Einrichtung in Nürnberg haben auf telefonischen oder Mail-Kontakt umgestellt und bieten nun auch Beratungsspaziergänge an, die gut angenommen werden. "So können wir eng an den Familien dran sein. Oft ist die Kontaktfrequenz jetzt sogar höher als zuvor. Bei akuten Gefährdungen müssen wir aber vor Ort sein – natürlich unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen", bekräftigt Bebensee.

Corona-Pandemie: Kinderschutzstellen befürchten hohe Dunkelziffer

Tanja Duttlinger ist Bereichsleiterin im SOS-Kinderdorf Saarbrücken und unter anderem zuständig für Kinderschutz und Beratung. An die Beratungsstelle können sich Eltern, Kinder sowie Fachkräfte bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung wenden. Sie sagt: "Durch die aktuelle Belastung steigt der Druck auf die Eltern: Sie müssen ihre Kinder rund um die Uhr betreuen oder  beschulen. Beengte Wohnverhältnisse und finanzielle Sorgen spitzen die Situation zusätzlich zu. Zugleich fällt eine mögliche Entlastung durch Sportvereine oder Treffen mit Freunden weg. In dieser Situation sind viele Eltern überfordert, die Gefahr von Überreaktionen steigt – und somit auch das Risiko für die Kinder."

Das Kinderschutz-Team bietet in der Krise elektronische, telefonische oder Video-Beratung an und hat ein Online-Beratungsangebot per Chat etabliert, als weitere Möglichkeit, sich schnell und anonym Hilfe in Krisen zu holen. "Trotzdem bieten wir auch weiterhin Einzeltermine unter geeigneten Schutzmaßnahmen an", ergänzt Duttlinger. Trotz der Krise verzeichnet die Stelle für Kinderschutz und Beratung momentan nicht mehr Anfragen als zuvor. "Leider müssen wir befürchten, dass jetzt Vieles im Verborgenen stattfindet, denn durch die geschlossenen Schulen und Kitas fallen wichtige Kontrollinstanzen weg. Familiäre Probleme fallen derzeit nach außen kaum auf, wenn die Familien nicht schon in einem Hilfesystem angebunden sind", erklärt Beate Thome, Beraterin in der Beratungsstelle des SOS-Kinderdorfs Saarbrücken.

Michael Breiner: "Viele Familien sind hohem Stress ausgesetzt."

Auch im SOS-Kinderdorf Kaiserslautern gibt es eine Gewaltschutzstelle, die telefonisch und elektronisch erreichbar ist – und das rund um die Uhr. Michael Breiner leitet als Bereichsleiter für Beratung und Frühe Hilfen die Kinderschutzstelle. Auch er konstatiert momentan keine vermehrten Anfragen und teilt die Befürchtungen der Kolleginnen und Kollegen: "Wir haben sogar weniger Anfragen für Erstgespräche als vor Corona. Dabei wissen wir, dass viele Familien hohem Stress ausgesetzt sind. Das Gefährdungspotential für Kinder und Jugendliche ist da. Das heißt für uns: Vieles findet momentan in den eigenen vier Wänden statt, Übergriffe bleiben so unbemerkt. Auf Grund der geschlossenen Schulen und Kitas geraten belastete Kinder aus dem Blick. Das macht uns große Sorgen."

Auch Breiner und sein Team von der Gewaltschutzstelle rechnen mit einem starken Anstieg der Anfragen, sobald Kitas und Schulen wieder öffnen. "Darauf bereiten wir uns auch schon ganz konkret vor, indem wir bspw. mehr Kapazitäten für Erstgespräche einplanen, sobald der Regelbetrieb wieder aufgenommen werden kann."

Familienberatungsstellen sind weiter für Familien da - trotz Corona-Krise

Um Kinder in der Ausnahmesituation zu schützen und Gefährdungen vorzubeugen, ist es umso wichtiger, Familien und Eltern zu entlasten und stark zu machen. Die Familienberatungsstellen von SOS-Kinderdorf sind gerade in der Krise für Familien da und beschreiten durch telefonische Beratung, Chat-Beratung oder Videocalls neue Wege.

Niels Meyring, Bereichsleiter für Ambulante Hilfen und Beratungsangebote des SOS-Kinderdorfs Worpswede, berichtet von einer stark erhöhten Nachfrage bei der Familienberatung und ist froh, Familien so stärken zu können: "Unser Appell an die Familien ist, sich Rat zu holen, wenn die Belastungen zu hoch werden. Natürlich kommen Eltern momentan in Grenzbereiche. Aber es gibt Lösungen; durch Beratung und Unterstützung kann man sich Luft verschaffen. Wir rufen Eltern dazu auf, darauf auch zurückzugreifen und sich externe Hilfe zu holen, bevor Grenzen überschritten werden und Kinder in Gefahr geraten," so Meyring.