Impfgegner*innen, die sich auf Corona-Demonstrationen sogenannte "Judensterne" mit dem Wort "Ungeimpft" anheften, verharmlosten zwar den Holocaust – seien aber nicht antisemitisch. Das behauptete kürzlich der Kolumnist Harald Martenstein im "Tagesspiegel".

Die Zeitung hat seine Kolumne inzwischen entfernt und sich für den Inhalt entschuldigt. Dennoch bleibt die Frage, woher solche Ideen kommen, eine Relativierung der Shoah könne unter bestimmten Umständen nicht antisemitisch sein. Martenstein hatte als Argument angebracht, die Impfgegner*innen identifizierten sich doch mit den verfolgten Jüdinnen und Juden.

Axel Töllner ist Beauftragter für christlich-jüdischen Dialog der bayerischen Landeskirche und erklärt im Interview, warum das nichts am antisemitischen Charakter der Verwendung ändert, warum Juden als Kronzeugen für Antisemitismus schon immer eine Rolle spielen und warum auch Philosemitismus mitunter problematisch sein kann.

 

Der Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein hat kürzlich geschrieben, die Verwendung von sogenannten "Judensternen” auf Corona-Demonstrationen sei für ihn kein Antisemitismus – weil sich diese Leute damit mit den verfolgten Juden identifizieren würden. Würden Sie ihm zustimmen?

Axel Töllner: Nein. Die Verwendung der "Ungeimpft”-Sterne ist insofern antisemitisch, als damit die Verfolgung und die Shoah bagatellisiert wird. Wir sind ja nicht einmal annähernd in einer ähnlichen Situation wie es damals die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich war. Im Grunde geht es aus meiner Sicht bei dem Vergleich nur darum, die jetzigen politischen Maßnahmen im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Pandemie zu delegitimieren und als nationalsozialistische Willkür zu etikettieren.

"Diese Menschen solidarisieren sich nicht mit einer verfolgten, ausgegrenzten Gruppe. Im Gegenteil, sie relativieren deren Leiden, indem sie sich zu den neuen Juden erklären."

Also identifizieren sich diese Leute damit gar nicht mit den verfolgten Juden?

Töllner: Nein, es geht aus meiner Sicht nicht um Solidarisierung, sondern um reine Instrumentalisierung. Diese Menschen solidarisieren sich nicht mit einer verfolgten, ausgegrenzten Gruppe. Im Gegenteil, sie relativieren deren Leiden, indem sie sich zu den neuen Juden erklären. Sie kennen vielleicht das berühmte Beispiel von dem dänischen König, der sich auch den "Judenstern” angeheftet hat, als die dänischen Juden deportiert werden sollten. Das ist natürlich eine völlig andere Nutzung dieses Symbols.

Die Verwendung der Sterne durch Corona-Leugner ist also in jedem Fall antisemitisch?

Töllner: Zu den Äußerungsformen des Antisemitismus gehört die Leugnung oder Bagatellisierung der Shoah, wie sie hier zum Ausdruck kommt. Man muss sich auch überlegen, wie jemand dazu kommt, diese Situationen überhaupt zu vergleichen. Aus welchem Denken entspringt sowas? Man kann ja ruhig sagen, man findet das ein oder andere an den Corona-Maßnahmen falsch oder auch die grundsätzliche Richtung problematisch. Aber mit so einer Gleichsetzung geht es nur um die größtmögliche Skandalisierung. Deshalb ist es eine reine Instrumentalisierung dieses Sterns.

"Judenfeinde berufen sich häufig auf irgendeinen Juden, der das sagt, was sie auch glauben. Sie suchen sich quasi einen jüdischen Kronzeugen."

Martenstein schien ja anzunehmen, dass jeglicher vermeintlich positive Bezug auf Juden gar nicht antisemitisch sein kann.

Töllner: Das ist aus meiner Sicht ein ganz klarer Irrtum. Wenn man die Geschichte der Judenfeindschaft zurückgeht, dann ist das ein fester Topos: Judenfeinde berufen sich häufig auf irgendeinen Juden, der das sagt, was sie auch glauben. Sie suchen sich quasi einen jüdischen Kronzeugen und meinen: das, was ich sage, kann keine Polemik oder Hassrede sein, sondern entspricht den Tatsachen – das ist ein uraltes Muster. Das findet man auch heute in unterschiedlichsten Zusammenhängen wieder. Auch zum Beispiel, wenn es um israelfeindliche Stereotype geht. Dann verweist man eben auf jüdische Aktivisten und sagt dann: Ja, aber schaut mal her, es gibt auch Juden, die sagen, was ich sage, das kann also gar nicht antisemitisch sein.

Ein Mann mit Brille und offenem Hemdkragen
Axel Töllner, Beauftragter der bayerischen Landeskirche für den christlich-jüdischen Dialog.

Woher kommt eigentlich die auffällige Vorliebe von Verschwörungsgläubigen für antisemitische Sichtweisen?

Töllner: Ein Wesensmerkmal von Antisemitismus ist, dass er die Welt in Gut und Böse einteilt. Und immer dann, wenn das Denken dualistisch strukturiert ist, passiert es relativ leicht, dass sich das mit antijüdischen Stereotypen verbindet. Das ganz typische ‘Die da oben, wir hier unten’ – und am Ende kommen irgendwie die Juden als angebliche Hintermänner raus. Das ist jedenfalls ein sehr verbreitetes Phänomen.

"Es geht beim Antisemitismus nie um reale Menschen oder um Urteile über Personen aufgrund von konkreten Erfahrungen, sondern um ein Kollektiv, "die Juden”, denen man im Grunde all das zuschreibt, was man selbst nicht sein will."

Warum halten sich gerade antisemitische Sichtweisen so hartnäckig?

Töllner: Die Stereotype und Redeweisen sind eben über Jahrhunderte hinweg eingeübt und Teil unserer Kultur. Bereits in der Antike haben Menschen, die nach jüdischen Gesetzen gelebt haben, sich durch ihre Lebensweise in Manchem von anderen unterschieden. Im christlichen Europa waren die Juden dann die einzig größere Gruppe, die nicht zu diesem Typus der christlichen Mehrheitsgesellschaft gehört hat. Dadurch wurden sie quasi das Gegenüber, die Anderen. Und da projiziert man alles hinein, was man selber nicht sein will. Es geht beim Antisemitismus nie um reale Menschen oder um Urteile über Personen aufgrund von konkreten Erfahrungen, sondern um ein Kollektiv, "die Juden”, denen man im Grunde all das zuschreibt, was man selbst nicht sein will, wozu man selbst nicht gehören will, wie man sich selbst nicht verhalten will, woran man nicht glauben will.

Dann gab es noch einen anderen Kolumnisten, Jan Fleischhauer, der seine abenteuerlichen Thesen über die Nazis auf Twitter damit verteidigte, sein Sohn spreche jeden Abend eine Bracha. Was sagen zu diesem Argument?

Töllner: Ich würde zunächst mal die Frage stellen, ob das wirklich Ausdruck von Verbundenheit ist. Es sagt ja im Grunde eigentlich: Ich kenne Juden, deswegen kann ich kein schlechter Mensch sein oder etwas denken und sagen, das problematisch ist. Wenn ich das wie Jan Fleischhauer extra betone, dann will ich damit etwas dokumentieren – in diesem Fall: Ich kann die Nazis gar nicht verharmlosen. Aber warum muss dieser Bekenntnisakt überhaupt sein? Fleischhauer könnte die Unterstellung ja auch argumentativ zurückweisen – wenn er ein Argument für seine merkwürdige Behauptung findet. Der Verweis auf seinen Sohn ändert ja überhaupt nichts an dem, was er geschrieben hat. Und ebenso wenig unterstützt diese Verteidigung seine Behauptung. 

"Wer sagt, alle Juden seien intelligent, will mit dieser Aussage vielleicht ausdrücken, dass er oder sie positiv gegenüber dem Judentum eingestellt ist. Aber im Grunde ist diese Person eher gegenüber einem bestimmten Bild von jüdischen Menschen positiv eingestellt."

Somit können nicht nur negative, sondern auch vermeintlich positive Stereotype über Juden problematisch sein?

Töllner: Ja, weil Stereotype von Kollektiven ausgehen. Ein Beispiel dafür: "Die Juden" sind alle so intelligent. Wer das sagt, will mit dieser Aussage vielleicht ausdrücken, dass er oder sie positiv gegenüber dem Judentum eingestellt ist, aber im Grunde ist diese Person eher gegenüber einem bestimmten Bild von jüdischen Menschen positiv eingestellt. Was mache ich denn, wenn ich plötzlich einem Juden begegnet, der diesem Bild gar nicht entspricht? Und das finde ich ähnlich problematisch wie das Gegenteilige, also das Judentum und alle Juden pauschal zu verdammen, zu verurteilen oder kritisch zu sehen.

Denn es geht nicht darum, Juden als eine Gruppe von Individuen zu sehen, sondern darum, einem Kollektiv bestimmte Eigenschaften, bestimmte Merkmale zuzuschreiben. Das unterstellt, dass im Grunde Juden eben nicht so sind wie andere Menschen. Dabei ist es bei Juden das gleiche wie bei Nichtjuden: Es gibt nette Menschen, es gibt doofe Menschen. Kluge und dumme. Wer von einer mehr oder weniger einheitlichen Gruppe ausgeht, setzt beim eigenen Bild an und fragt nicht: Wie verstehen sich eigentlich die einzelnen Menschen, die zu dieser Gruppe gehören, sondern ich gehe davon aus, da gibt es ein Kollektiv.

Manche sprechen in diesem Zusammenhang von Philosemitismus. Wie schätzen Sie diesen Begriff, der ja erstmal positiv klingt, und das Phänomen an sich ein?

Töllner: Ich will was gegen Antisemitismus setzen. Okay, verstehe ich gut. Aber es kann doch nicht ernsthaft die Alternative sein, zu sagen: Das finde ich alles toll, das ist alles wunderbar, ohne die einzelnen Menschen selbst zu sehen. Ich finde es wirklich ein Geschenk, dass wir verschieden sind und diese Verschiedenheit im Dialog erfahren können. Und dazu gehört auch, dass mir bei Begegnungen im Dialog Manches auch fremd bleibt und Manches mit meinen Bildern nicht zusammenpasst, sondern sie in Frage stellt. Gerade in Begegnungen, die mich irritieren, verlasse ich meine Komfortzone und schaue gewissermaßen über den Kirchturm hinaus und entdecke da etwas Eigenes. Und das macht mein Leben reicher. Wenn ich nur nach dem schaue, was mein Bild bestätigt, dann beschränke ich mich da doch ziemlich und werde dem anderen nicht gerecht, weil ich den in eine Schublade hineinpresse, in die er vielleicht gar nicht rein möchte.

"Antisemitismus ist von vornherein destruktiv, Philosemitismus will von der Intention eigentlich etwas Gutes."

Worin besteht der Unterschied zum Antisemitismus?

Töllner: Antisemitismus ist von vornherein destruktiv, Philosemitismus will von der Intention eigentlich etwas Gutes, bleibt aber dabei in diesem Denkmuster verhaftet, dass es um Gruppen geht. Es gab und gibt aber wirklich ehrenwertes Engagement von Menschen, die sich selbst als Philosemiten bezeichnen würden. Das ist sicher besser, als das Judentum abzuwerten, das will ich gar nicht leugnen. Aber ich sehe das trotzdem mit einem gewissen Unbehagen, weil ich mich frage, ob das letztlich nicht auf Bildern und Zuschreibungen beruht, die dann in der vielfältigen Wirklichkeit nicht tragen, weil sie meine eigenen Wunschbilder zum Kriterium macht.

Und Juden damit wieder instrumentalisiert?

Töllner: Ja. Zumindest lese ich immer wieder, dass es für Juden zum Teil echt unangenehm ist, wenn sie mit bestimmten Zuschreibungen konfrontiert werden: Ihr seid alle so intelligent, so gebildet, habt diesen tollen Humor und so weiter. Das ist sicherlich zunächst mal alles als Kompliment gemeint, aber es ist eine Aufdringlichkeit, die nicht auf den einzelnen Menschen schaut, der da vor einem steht.