Im Fall des jüdischen Münchner Sängers Gil Ofarim gibt es seit dem Wochenende eine neue Entwicklung. Die "Bild" berichtet, sie habe Videomaterial der Überwachungskameras vorliegen. Das soll belegen, dass Ofarim keine Kette mit einem Davidstern trug, als er in einem Leipziger Hotel laut eigenen Angaben antisemitisch beleidigt wurde.

Ofarim selbst soll bei der Polizei ausgesagt habe, er könne sich nicht mehr genau erinnern, ob er die besagte Kette in der Situation wirklich getragen habe. Es gehe aber nicht um die Kette, beteuert er gegenüber der Boulevardzeitung. Er betont weiter, er sei antisemitisch beleidigt worden.

Antisemitismus-Problem gelöst? Keineswegs

Doch die deutsche Öffentlichkeit atmet schon auf. Puh, also doch kein Antisemitismus-Problem in Deutschland. So lautet nur leicht zugespitzt der Tenor vieler Kommentare im Internet zu den neuen Entwicklungen. Wohlgemerkt, der Fall ist noch längst nicht geklärt. Nach wie vor stehen Aussage gegen Aussage, sowohl Gil Ofarim als auch der Hotel-Angestellte haben jeweils Strafanzeige gestellt.

Doch gerade diejenigen, die nach den Antisemitismus-Vorwürfen von Gil Ofarim noch die Unschuldsvermutung hervorgehoben und für ein Abwarten der Ermittlungsergebnisse plädiert hatten, haben nun schon ein Urteil parat. Der Jude hat gelogen, wollte nur Aufmerksamkeit, kommentieren viele gehässig - und man spürt förmlich die Erleichterung: Gottseidank müssen wir uns nicht mit Antisemitismus beschäftigen. 

Wir haben Antisemitismus nicht im Griff

Diese Reaktion weist auf ein tiefsitzendes Problem unserer Gesellschaft hin. Wir Deutschen glauben, wir hätten Antisemitismus besiegt oder zumindest im Griff. Wenn überhaupt, dann sei er hierzulande nur ein Phänomen der sogenannten Ränder, also Rechtsextreme, Linksradikale und - natürlich - Muslim*innen. Das glauben viele - und irren. Die Demonstrationen der Querdenker*innen in den vergangenen anderthalb Jahren liefern ein eindrucksvolles Zeugnis, wie tief im Herzen der Gesellschaft antisemitische Denkweisen und Schemata sitzen.

Auch die nun oft wiederholte Behauptung, der Fall zeige vor allem, dass wir zu schnell urteilten, führt in die Irre. Ironischerweise tun die Verfechter*innen dieser Meinung ja genau das. Sie tun so, als ob bewiesen wäre, dass der Vorfall nicht stattgefunden habe. 

Opfern immer Gehör und Glauben schenken

Auch wenn es Zweifel an der Darstellung von Gil Ofarim geben mag, ist es weiterhin sehr wahrscheinlich, dass es einen antisemitischen Vorfall gegeben hat. Nicht angebracht sind Unterstellungen gegen den Sänger, er habe sich das Ganze nur ausgedacht. Das Video, in dem er seine Vorwürfe über Instagram erhoben hatte, zeigt Ofarim sehr emotional und aufgewühlt. Gut möglich, dass er in der Aufregung Dinge nicht klar formuliert hat. Aber selbstverständlich gilt die Unschuldsvermutung nicht nur für mutmaßliche Täter*innen, sondern auch für mutmaßliche Opfer von Antisemitismus.

Wie der Fall Gil Ofarim sich letztlich darstellen wird, ist noch offen. Vielleicht wird er auch nie eindeutig aufgeklärt. Und natürlich besteht auch die theoretische Möglichkeit, dass Ofarim nicht die Wahrheit gesagt hat. Erwiesen ist dies jedoch noch lange nicht. Vor allem: Ungeachtet dessen müssen wir Opfern von Antisemitismus immer zuhören, sie ernst nehmen und (bis zum eindeutigen Beweis des Gegenteils) Glauben schenken. Das Misstrauen, das ihnen oft entgegengebracht wird, führt dazu, dass viele von ihnen lieber gleich schweigen. So kann Antisemitismus in Deutschland weiter blühen und nur in Ausnahmefällen (der*die Täter*in gehört nicht zur selbsternannten Mitte der Gesellschaft) Beachtung finden.