Der Brief ist bis heute verschlossen. Sechs Siegel sorgen dafür, dass niemand das Kuvert unerlaubt öffnet. Das Schreiben sollte nach Nürnberg gehen. Verfasst wurde es um das Jahr 1650. Abgeschickt jedoch wurde der Brief nie – und bis heute weiß niemand, was darin steht, und an wen genau er sich wendet.
»Ein Liebesbrief wird es wohl nicht sein«, sagt Helga Ilgenfritz schmunzelnd. Die sechs Siegel deuteten eher auf ein offizielles Schreiben hin, meint die Sprecherin des evangelischen Kirchenarchivs in Kaufbeuren. Der Brief ist einer der Schätze des Archivs, das sich im Keller des Matthias-Lauber-Hauses befindet, dem Gemeindehaus der Kaufbeurer Dreifaltigkeitskirche.
Das Kaufbeurer Kirchenarchiv ist eines der wenigen in Bayern, dass noch in der Hand einer evangelischen Kirchengemeinde ist. Gegründet wurde es während der Reformationszeit. Entsprechend alt sind die Bücher, Dokumente und musikalischen Notenblätter, die hinter zwei fest verschlossenen Türen lagern.
Bibeln aus vielen Jahrhunderten
»Unsere ältesten Stücke stammen aus dem 15. Jahrhundert«, sagt Helga Ilgenfritz. Dass die Dokumente sorgsam geordnet bis heute bewahrt wurden, haben sie unter anderem Wolfgang Ludwig Hörmann von und zu Gutenberg zu verdanken. Der damalige Kanzleidirektor der freien Reichsstadt Kaufbeuren sichtete im 18. Jahrhundert die Bestände des Archivs und ergänzte sie durch weitere Dokumente. Unter anderem sammelte er viele städtische Unterlagen und archivierte sie, weil sie protestantische Bezüge hatten. Als das Stadtarchiv Ende des 19. Jahrhunderts größtenteils aufgelöst wurde, übernahm daher das evangelische Kirchenarchiv die Rolle als Gedächtnis der Stadt. »Viele historische Dokumente aus der Stadtgeschichte finden sich nur hier bei uns«, erläutert Helga Ilgenfritz. So besitzt das Archiv etwa die älteste Stadtansicht Kaufbeurens aus dem Jahr 1580.
Wegen dieser Bedeutung des Archivs für die Geschichte Kaufbeurens war das Kirchenarchiv eines der wenigen Gemeindearchive in Bayern, das Ende der 1950er- Jahre bestehen blieb. Damals sammelte die evangelische Landeskirche die Bestände der Archive der Kirchengemeinden ein und brachte sie im Landeskirchenarchiv unter. Das sollte die historischen Schätze davor bewahren, verloren zu gehen oder zerstört zur werden. »Nicht immer wurden die Gemeindearchive gut gepflegt«, erläutert Helga Ilgenfritz.
Die Kaufbeurer jedoch durften ihr Archiv behalten. Und so kommt es, dass man in den 1983 eigens dafür geschaffenen Räumen zahlreiche faszinierende Zeugnisse der Kaufbeurer Geschichte seit der Reformation finden kann. Die meisten davon haben mit der Kirchenhistorie zu tun. So reihen sich in einem Regal zeitgenössische Ausgaben von Reformatoren wie Luther, Melanchthon oder Truber aneinander. In einem anderen stehen evangelische Gesangbücher aus verschiedenen Jahrhunderten. Es gibt zahlreiche sogenannte Matrikelbücher, in denen die Kirchengemeinden über die Jahrhunderte hinweg die Geburten, Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen der Kaufbeurer Familien aufgelistet haben.
Und natürlich finden sich in dem Archiv die unterschiedlichsten Bibeln. Viele davon wurden über die Jahrhunderte hinweg in den Gottesdiensten verwendet, manche dem Archiv von Stiftern vermacht. Oft sind es große, schwere Bücher, die man nur mit Mühe aus dem Regal bekommt.
Die älteste von ihnen lagert in einem Tresor: Die Bibel wurde 1581 gedruckt und stammt von dem in Nördlingen geborenen Pfarrer David Schramm. »Das ist mein Lieblingsstück«, sagt Helga Ilgenfritz. »Man kann richtig sehen, wie intensiv damit gearbeitet wurde.« Nahezu jede Seite des Buchs ist übersäht mit Anmerkungen und Gedanken Schramms.
Aber auch weltliche Schätze finden sich in dem Archiv: etwa das Original eines der ersten Bücher von Johannes Kepler. Der Physiker beschreibt darin seine Theorie der Planetenbahnen. Und es gibt auch Skurriles wie eine Schreibmaschine mit kyrillischen Schriftzeichen. Sie stammt vom Russisch-Übersetzer des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt. Er hatte die Maschine unter anderem benutzt, um Brandts Korrespondenz mit Russland zu tippen. Seinen Lebensabend verbrachte der Übersetzer in Kaufbeuren und vermachte die Schreibmaschine dem örtlichen Pfarrer. Der brachte sie ins Kirchenarchiv.
Mit Schreibmaschinen freilich arbeitet heute dort niemand mehr. Die fünf ehrenamtlichen Mitarbeiter verbringen viel Zeit am Computer, um die Bestände zu ordnen und zu katalogisieren. Längst noch nicht alles, was sich im Archiv befindet, sei gesichtet und erfasst worden, meint Helga Ilgenfritz. Und manche Dokumente geben den Archivmitarbeitern eben auch Rätsel auf.
So wie jener Brief mit den sechs Siegeln. »Wir würden ihn gerne von einem Restaurator öffnen lassen, ihn dokumentieren und wieder verschließen«, sagt Ilgenfritz. Das jedoch sei nicht billig: »Es wäre daher schön, wenn sich ein Spender findet, der uns hilft, dieses jahrhundertealte Rätsel zu lösen.«