Der Weg führt mit dem Bus von Spiegelau auf der Schwarzachstraße zum Wandereinstieg des Erlebniswegs Seelensteig. "Am besten wäre es, schon eine halbe Stunde früher da zu sein", erklärt Gabriela Neumann-Beiler. Die evangelische Diakonin sagt dies so beiläufig. Die Entschleunigung geht also schon vor dem Wandern los, mit dem Ankommen. Für gestresste Stadtmenschen – eine neue Erfahrung.
Neumann-Beiler begrüßt die 18 Mitwanderer. Ein paar nette Worte, freudiges Wiedersehen. Auch Ranger Günter Sellmayer ist eingetroffen – mit Zwirbel-Bart und in sich ruhender Statur.
Sechsmal im Jahr bieten er und die Diakonin meditative Wanderungen an. Meist finden sie abends statt. "Die Atmosphäre spricht die Leute sehr an", sagt er. Dabei geht es zum Sonnenuntergang auf den Lusen (1373 Meter), den sechsthöchsten Berg im Bayerischen Wald, und bei Mond und Sternen wieder runter. Beliebt sei auch die "Chaos- und Verhau-Wanderung", wie er sie nennt. Nur er finde aus dem Dickicht wieder raus. "Da kommt man der Schöpfung schon sehr nahe."
Alle Sorgen werden abgelegt
Gabriela Neumann-Beiler beginnt mit einem meditativen Einstieg: "Ich lege Briefe, Mails, SMS, Akten, Schlüssel, Handy und Uhr ab. Ich lege auf dich Ängste, Sorgen, Mühen, Lust, Trauer, Sehnsucht und meine Schuld." Geborgen von solchen Worten und in Gottes Hand marschiert die bunt gemischte Gruppe los. Es sind Großeltern und Enkel dabei, eine Unternehmerin, Jugendliche, Männer und Frauen, Besucher und Einheimische. "Es ist jedes Mal anders", erklärt Renate, die das Naturerlebnis schätzt und Impulse durch die Meditationen erhalte. Die Wegtafeln mit Aphorismen, lyrischen Verszeilen und Sprüchen von Schriftstellern gefallen ihr. "Ich gewinne Kraft, Energie und ein gutes Gefühl", sagt die 63-Jährige.
Der 1,3 Kilometer lange Rundweg führt durch ein Waldgebiet, das 1983 von einem Gewittersturm verwüstet wurde. Die zerstörten Bäume türmen sich zu einer undurchdringlichen Wildnis. Dass man sie betreten kann, liegt an einem Holzsteg, der 1995 erbaut wurde und über den man wandert. Alles blieb erhalten, wie es vor 50 Jahren war. Ein Bergmischwald im Lusen-Gebiet auf 20 000 Hektar, der sich selbst überlassen wurde. Keine Holznutzung, keine Aufforstung. Selbst der Borkenkäfer darf tun und lassen, was er will.
Immer mehr Menschen lassen sich Jahr für Jahr auf solche Wanderungen ein, um die Selbstheilungskräfte der Natur auf sich wirken zu lassen. Der Seelensteig ist einer der beliebtesten. Man kann ihn gehen, auch wenn man nicht mehr so gut zu Fuß ist. Es sind nur 60 Höhenmeter zu überwinden. Und man kann sich so viel Zeit lassen für die Strecke, wie man will. Einmal habe sie ein Ehepaar geführt, das am Münchner Flughafen Station gemacht hatte, um für zwei Stunden den Seelensteig zu laufen, erzählt Neumann-Beiler.
Selbst Kinder und Jugendliche gewinnen dem Weg etwas ab. "Er erzählt vom Werden und Vergehen, von Leben und Tod", sagt Pauline. Vier- oder fünfmal sei sie ihn schon gegangen, immer wenn sie bei den Großeltern zu Besuch sei.
Selbstheilungskräfte der Natur
Gabriela Neumann-Beiler bringt die Gruppe an einem Bach zum Stehen, Wasserrauschen als Begleitmusik für die Meditationen. Man solle sich Zeit lassen, die Natur erforschen, sie erspüren und erfühlen, fordert sie auf. Dann könne man die Stille hören und sehen, verspricht sie. "Bäume können uns zeigen, das verlorene Naturmaß wiederzuerlangen."
Am Umkehrpunkt wird eine Rast eingelegt. Die Diakonin reicht Brot, Saft und Wasser. Zum ersten Mal wird es in der Gruppe richtig still. Andächtig lauschen alle dem Rauschen des Waldes. "Manchmal gehe ich den Weg auch mit einzelnen Leuten", erzählt sie. Erst neulich sei sie drei Stunden mit jemandem unterwegs gewesen, ein seelsorgerlicher Notfall. "Wald und Bäume haben etwas Heilendes", sagt die Diakonin.
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