Was viele Expert*innen befürchtet und vorhergesagt hatten, ist tatsächlich vergangene Woche geschehen: Das Oberste Gericht der USA hat das Recht auf Abtreibung aufgehoben. In zahlreichen Bundesstaaten ist Schwangerschaftsabbruch umgehend strafbar geworden, etwa in Alabama, Arkansas, Kentucky, Louisiana, Missouri, Oklahoma und South Dakota. Weitere werden folgen.
Ich will an dieser Stelle nicht groß auf moralische oder theologische Aspekte von Schwangerschaftsabbrüchen eingehen. Mir geht es um etwas anderes: Nur ein Drittel der US-Amerikaner findet die Entscheidung des Supreme Courts richtig. Fast zwei Drittel sind dafür, dass betroffene Frauen selbst über ihren Körper entscheiden. Auch unter Christ*innen überwiegt in fast allen Konfessionen die Zustimmung zu legalen Abtreibungen – einzige Ausnahme sind weiße Evangelikale.
Entscheidung gegen den Willen der Mehrheit
Es ist also eine Entscheidung gegen den demokratischen Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Man muss es ganz klar sagen: Eine Minderheit von religiösen Fundamentalisten, die sich bei ihrer ablehnenden Haltung zu Abtreibungen auf die Bibel berufen, zwingt der Mehrheit ihre Ideologie, ihren politischen Willen auf. Ein ungeheurer Vorgang und eine Schande für die selbsternannte älteste Demokratie der Welt.
Um "Lebensschutz", wie sie behaupten, geht es den religiösen Fundamentalisten dabei nicht. Sie wollen Kontrolle, wollen Frauen wieder in Unsicherheit und Abhängigkeit drängen, wollen mühsam erkämpfte Freiheitsrechte und Selbstbestimmung wieder rückgängig machen. Denn verhindert wird durch die Abschaffung des Rechts auf Abtreibungen kein einziger Schwangerschaftsabbruch. Verhindert wird nur, dass diese sicher und unter ärztlicher Aufsicht durchgeführt werden.
Was Abtreibungen wirklich reduzieren würde
Wer wirklich weniger Abtreibungen will, muss für eine Gesellschaft kämpfen, in der Frauen nicht vergewaltigt oder von Männern sexuell unter Druck gesetzt werden, für eine Arbeitswelt, in der Schwangerschaft nicht hauptsächlich als Mangel und Leistungsausfall wahrgenommen wird, für eine kinderfreundliche Welt, in der Care-Arbeit auf viele Schultern verteilt und nicht fast ausschließlich von Müttern erwartet wird.
Doch darum geht es den religiösen Fundamentalisten nicht. Ihr Ziel ist es, die Gesellschaft zurück in die 50er Jahre zu führen – und sie nach ihrer Ideologie zu gestalten, die eine Mehrheit der Bevölkerung klar ablehnt.
Auch in Deutschland droht Gefahr
Nun könnte man sagen: Naja, sind halt die USA, Land der unbegrenzten Dämlichkeiten und so weiter. Doch solche antiamerikanischen Klischees helfen leider nicht weiter: Auch in Deutschland greifen religiöse Eiferer nach der Macht, auch hier gegen den erklärten Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. In Nordrhein-Westfalen etwa war Nathaniel Liminski als Bildungsminister der neuen schwarz-grünen Landesregierung im Gespräch.
Ein Mann, der lange Zeit als rechte Hand von Ex-Ministerpräsident Armin Laschet galt und durch vorsichtig gesagt sehr konservative Ansichten über Homosexualität, Abtreibungen und andere Themen aufgefallen ist. Zur Veranschaulichung lassen wir ihn doch am besten selbst zu Wort kommen (Tweet ist vom 26. Juni, als noch nicht klar war, dass Liminski nicht Bildungsminister wird):
NRW‘s zukünftiger Bildungsminister.pic.twitter.com/WJktKccsfn
— Nabard Faiz (@nbardEff) June 26, 2022
Der Fairness halber sei erwähnt, dass sich Liminski mittlerweile zum Teil von solchen Aussagen distanziert. Auch eine ihm immer wieder attestierte Nähe zum katholisch-konservativen Opus Dei bestreitet er. Es sei aber auch daran erinnert, dass die konservativen Supreme-Court-Richter in den USA noch vor kurzem betont hatten, sie würden das Abtreibungsrecht nicht ändern.
Letzten Endes wurde Liminski dann doch nicht Bildungsminister. Er bleibt aber Staatskanzleichef und übernimmt das Ministerium für Europa und Bundesfragen sowie Medien. Sein Einfluss in der Regierung wird also nicht kleiner.
Entwicklung in USA ist Warnung
Klar ist jedenfalls: Die Freiheits- und Menschenrechte sind bedroht. Die Vorgänge in den USA sollten allen, die nicht wollen, dass eine Minderheit ihre Vorstellungen der gesamten Bevölkerung aufzwingen kann, eine Warnung sein. Wenn es dort passieren kann, kann es auch hier passieren. Wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern.