Es war ein Coup, den das politische Magazin "Politico" Anfang Mai publizierte: Der Entwurf eines erwarteten Urteils des Obersten Gerichts in den USA zum Abtreibungsrecht. Der Urteilsentwurf legte nahe, dass das historische Urteil des Obersten Gerichts von 1973 kippen könnte, das Abtreibungen legalisierte und in den USA als "Roe v. Wade"-Entscheidung bekannt ist.
Demokratische Politiker bis hin zu US-Präsident Joe Biden äußerten sich in der vergangenen Woche empört bis entsetzt. Vielerorts demonstrierten Frauen gegen vom Staat "erzwungene Geburten".
"Preiset Gott"
Seit Jahrzehnten gehen Abtreibungsgegner auf die Barrikaden gegen das Urteil von 1973 zum Schutz des Rechts auf Abtreibung bis zur unabhängigen Lebensfähigkeit des Fötus. Das neue, für Juni erwartete Urteil sieht nach einem Sieg für die Abtreibungsgegner aus. "Preiset Gott", twitterte Baptistenprediger Franklin Graham. Gläubige sollten beten und fasten, dass das Urteil in seiner Endfassung "Roe v. Wade" revidieren wird, erklärte der römisch-katholische Erzbischof William Lori.
Nun bereiten sich Gegner und Befürworter auf das Zurückdrehen der Uhren um ein halbes Jahrhundert vor. Abtreibungsgesetze lägen dann wieder in den Händen der 50 Bundesstaaten. Etwa die Hälfte von ihnen würde Abtreibung verbieten oder stark einschränken, erwartet das Guttmacher Institute, eine Organisation für Familienplanung. Demokratisch regierte Staaten wie Kalifornien und New York würden das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bewahren.
Auch andere Grundrechte in Gefahr
Der Entwurf stützt sich auf den Umstand, dass in der US-Verfassung aus dem Jahr 1787 nichts über Abtreibung steht. Daher könnten die Staaten selber entscheiden. Das Konzept vom "Recht der Staaten" gegen die Regierung in Washington ist nicht neu. Meist wird es von rechts vorgebracht. Die Südstaaten hatten sich beispielsweise mit Berufung auf das Konzept gegen Bürgerrechtsgesetze in den 60er Jahren gestemmt.
Kritiker befürchten nun, mit der Logik des Entwurfs würden republikanische Politiker auch andere Urteile des Obersten Gerichtes anfechten, wie das Urteil von 2015 zur Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Der republikanische Gouverneur von Texas, Greg Abbott, sagte in einer Talkshow, er werde möglicherweise gegen ein Urteil von 1982 vorgehen, demzufolge staatliche Schulen auch Kinder ohne Papiere unterrichten müssen.
Urteil war abzusehen
Man konnte so ein Urteil kommen sehen. Wie beim Salami-Schneiden setzen Abtreibungsgegner seit Jahren scheibchenweise nach und nach Abtreibungsrestriktionen mit Vorschriften wie einer erzwungenen Bedenkzeit durch. Sie sind durch ein Verfassungsurteil von 1992 gedeckt. Demnach müssen Staaten das Recht auf Abtreibung respektieren, dürfen jedoch Vorschriften erlassen, die keine "unzumutbare Belastung" für die Frau darstellen.
In Erwartung des Endes von "Roe v. Wade" haben republikanische Staaten in den vergangenen Monaten weitreichende Verbotsgesetze beschlossen. Sie haben gemeinsam, dass nicht die betroffenen Frauen bestraft werden sollen, sondern medizinisches Personal. In Oklahoma drohen zehn Jahre Haft, in Texas dürfen beispielsweise beliebige Personen Ärzte verklagen, in Idaho der biologische Vater und dessen Eltern.
60 Prozent sind für legale Schwangerschaftsabbrüche
Laut Umfragen des Pew Research Center haben sich die Ansichten zur Abtreibung seit den 90er Jahren kaum verändert. Rund 60 Prozent der US-Amerikaner befürworten die Legalität, knapp 40 Prozent wollen sie in allen oder den meisten Fällen verbieten. Weiße Evangelikale lehnen Schwangerschaftsabbrüche am häufigsten ab. 74 Prozent sprachen sich grundsätzlich oder in den meisten Fällen für Verbot aus. 42 Prozent der Katholiken vertraten diese Auffassung.
Für Evangelikale ist der Urteilsentwurf Resultat langjähriger politischer Arbeit. Mit überwältigender Mehrheit stimmten weiße Evangelikale für den Republikaner Donald Trump als US-Präsidenten. Dieser hat in seinen vier Jahren im Weißen Haus zwei konservative Richter und eine konservative Richterin zum Obersten Gericht ernannt. Laut "Politico" wollen fünf der neun Richterinnen und Richter für Aufheben des Urteils von 1973 stimmen.
Mexiko hat Verbote abgeschafft
Richter werden auf Lebenszeit ernannt. Demokratische Politiker befürworten das Recht auf Abtreibung, haben jedoch auch zu Zeiten der Mehrheit keine nationalen Gesetze beschlossen, um das Recht gesetzlich zu verankern. Frauengruppen arbeiten nun daran, um medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu erleichtern. Die Mittel werden per Post geschickt. Das Nachbarland Mexiko hat vergangenes Jahr Verbotsgesetze abgeschafft und erwartet nun, dass Frauen aus den USA zur Abtreibung anreisen werden.