Videokonferenzen statt leibhaftiger Treffen, kaum Gespräche von Angesicht zu Angesicht: Die Corona-Pandemie macht etwas mit unserem Gefühl für den eigenen Körper.
Digital und geistig sind die Menschen mit der Welt verbunden, während sie körperlich in der Stube hocken. Was bedeutet das für uns? Darüber sprach das Sonntagsblatt mit der evangelischen Theologin Claudia Jahnel, die an der Ruhr-Universität Bochum den bundesweit einzigen Lehrstuhl für "Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit" innehat und in Erlangen lebt.
Frau Jahnel, die Corona-Pandemie hat uns dazu gebracht, uns wieder mehr mit unserem Körper zu beschäftigen. Was bedeutet für uns die Einschränkung physischer Kontakte?
Claudia Jahnel: Wenn im Lockdown etwas öffnet, haben die Menschen sofort das Bedürfnis, rauszugehen und physisch zu kommunizieren. Es ist ein Bedürfnis nach leiblicher Resonanz. Mein Bruder ist Dekan und Pfarrer in der Münchner Christuskirche und berichtet, dass die Gottesdienste auch deswegen voll sind, weil die Kirchen einen sozialen Raum bieten, wo man sich trifft. Auch Kinder, die ihre Freunde wiedertreffen, merken: Es gibt etwas, das man digital nicht hat. Das hat mit unseren sinnlichen Wahrnehmungen zu tun.
Digital kann ich den anderen hören, aber nicht anfassen ...
Jahnel: Genau, erstmal geht es um die Haptik, das Berühren. Das Besondere am Tastsinn ist ja, dass er doppelt ist: Man berührt und wird zugleich berührt. Studien zeigen, dass ein Baby wohl sterben würde, wenn es nicht berührt würde. Durch Berührung werden Hormone ausgeschüttet - jedes Streicheln setzt eine ganze Apotheke frei. Auch der zunehmende Kauf von Haustieren, gerade während Corona, zeigt dieses haptische Bedürfnis.
Ist das Sehen analog und digital ähnlich?
Jahnel: Unsere hochmedialisierte Welt ist natürlich eine Welt des Sehens. Aber was etwa bei Videocalls nicht möglich ist, sind die Blicke zwischen uns. Bei Videokonferenzen können sich technisch nicht die Blicke kreuzen. Dabei ist der Blickkontakt so wichtig! Über ihn gewinnen wir Anerkennung und Bestätigung. Wenn man sich dagegen zunehmend selbst betrachtet, kann das für Entfremdung sorgen.
Inwiefern fehlt das Riechen?
Jahnel: Der Geruchssinn hat viel mit Gedächtnis und Weltwahrnehmung zu tun. Digital können die Lehrer die feuchten Hände der Kinder nicht riechen. In früher Kindheit ist der Geruchssinn am wichtigsten. Ich bin in Daressalam in Tansania aufgewachsen, bis ich acht war. Als ich mit 30 dorthin zurückkehrte, stieg ich aus dem Flugzeug und roch sofort: Vertrautes. Der Körper besteht nicht nur aus Daten, er braucht Resonanz. Sinnliche Erfahrungen schaffen Bewusstsein und Subjektivität, sie machen Gefühle abrufbar.
Resonanz, eine schwingende Beziehung zur Welt, ist das Hauptthema des Soziologen Hartmut Rosa ...
Jahnel: Rosa beschreibt diese Verflochtenheit des Menschen mit der Welt von Mutterleib an, die zu Resonanz führt. Die Sinnlichkeit zeigt sich auch in der Sprache: Wenn wir "den Kopf einziehen" oder "Bauchschmerzen bekommen", wenn uns etwas "unter die Haut geht" oder wir "rot werden". Der ganze Körper ist in Wissensprozesse eingeschlossen, und das kann das Digitale nicht in dieser Fülle abbilden.
Kann zu langes Social Distancing etwas kaputtmachen?
Jahnel: Etwa Blicke lesen zu können. Mein Bruder meint, es sei so komisch, im Gottesdienst zu maskierten Gesichtern zu sprechen. Zwar funktioniert Kontakt auch über Blicke, das habe ich etwa bei Gesprächen mit verschleierten Muslimas gelernt, aber Gesichter erzählen Geschichten. Dieses Wechselspiel aus Nähe und Distanz müssen wir nach der Pandemie neu lernen - aber das geht schnell.
Wo liegen die Grenzen von digitalem Unterricht?
Jahnel: Bildung braucht Beziehung. Das ist auch im Fernunterricht möglich, da geben sich die Lehrer viel Mühe. Aber was fehlt, ist Beziehung in Bewegung. Ein Kind spricht in der Pause anders mit der Lehrerin, außerdem fehlt das Tuscheln mit der Nachbarin. Bei Videocalls winken viele Leute zum Abschied. Offenbar gibt es das Bedürfnis, physisch ein Zeichen zu geben - auch wegen der Resonanz. Diese ganze Bewegung muss beim Videocall allein der Kopf kompensieren.
Gibt es schon durch digitales Arbeiten bedingte Krankheitsbilder?
Jahnel: Es gibt Videocall-Depressionen, etwa weil jemand ständig auf sein Spiegelbild starrt. Außerdem stresst die Geschwindigkeit. Es gibt eine "time-space compression", eine Verdichtung von Zeit und Raum: Man sitzt immer im gleichen Zimmer, hat räumlichen Stillstand, und ist gleichzeitig mit der ganzen Welt verbunden. Kollegen berichten mir, dass sie abends oft physisch erschöpft sind, obwohl sie sich kaum bewegen. Ein Raumwechsel, Flanieren zwischendrin ist wichtig. So ist es eine Körper-Geist-Trennung, als wären das separate Einheiten.
Viele Menschen sind viel mit ihrem Gewicht beschäftigt.
Jahnel: Es gibt ganze Internetforen dazu, wie sich der Körper in der Corona-Zeit verändert. Ich wollte ein Trampolin kaufen - sie waren ausverkauft! Wegen der Konzentration auf den Geist suchen viele körperlichen Ausgleich. Den braucht es auch, denn kreativ denken kann man nur mit seinem Körper. Wenn wir einen Gedanken fassen wollen, hilft es oft, Raum zu schaffen - zu staubsaugen, in der Kaffeepause über anderes zu reden. Pausen sind wichtig, damit sich das Denken setzen kann.
Unsere Lebenswelt ist stark medial vermittelt. Wie wichtig ist es, Dinge unmittelbar, in ihrer Aura zu erleben?
Jahnel: Diese Sehnsucht nach unvermittelter Erfahrung entspringt einer Angst vor Fake, also etwas Unwahrem aufzusitzen, und davor, nicht selbstbestimmt zu sein. Kolonialberichte schwärmen vom "ursprünglichen, authentischen Afrika". Dabei sind auch mediale Kopien wahr. Auch ein Film lässt mich echte Gefühle erleben. Menschen produzieren ständig Als-ob-Simulationen der Wirklichkeit, so wie Kinder im Rollenspiel. Diese schaffen Freiheit. Problematisch wird es, wenn mediale und wirkliche Welt verwechselt werden.
Das Digitale bügelt Aura-Momente glatt, indem so viel gleichzeitig geschieht. Streben wir deswegen nach mehr Natur, nach Brotbacken, Gemüsepflanzen?
Jahnel: Natürlich - das Bedürfnis nach Ursprünglichkeit ist auch der Grund für unsere ausgeprägte Gartenkultur und die Öffnung der Gartencenter: Die Menschen wollen in der Erde wühlen, das Leben und die Lebendigkeit spüren. Zugleich ist Körperlichkeit immer auch etwas Soziales, der Körper ist auf Zwischenleiblichkeit ausgerichtet, er lebt nicht abgeschlossen. Das berührt auch die Frage der gemeinsamen Vulnerabilität, der Solidarität und Fürsorge in der Corona-Krise. Erst müssen wir unsere eigene Verletzlichkeit annehmen, um dann solidarisch zu werden.