Mehr als ein Dreivierteljahr war die junge Würzburger Kinderärztin Simone Kenntner für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in der Zentralafrikanischen Republik im Einsatz. Über das arme Land mit niedriger Lebenserwartung wusste die Medizinerin bis dahin nur wenig - erfahren hat sie dort, wie viel man als Arzt schon mit den eigenen Händen ohne viel Technik erreichen kann. Und sie hat hautnah erlebt, was es bedeutet, wenn von "vergessenen Konflikten" die Rede ist.

Frau Kenntner, Sie waren für Ärzte ohne Grenzen in der Zentralafrikanischen Republik - was genau haben Sie dort gemacht?

Simone Kenntner: Ich war von Oktober 2021 bis Mitte Juli dieses Jahres - also 290 Tage oder fast zehn Monate - in Bossangoa und habe das Projekt von Ärzte ohne Grenzen unterstützt. In der Stadt steht das drittgrößte Krankenhaus im ganzen Land, da habe ich als Kinderärztin gearbeitet. Dort gibt es unter anderem eine Notaufnahme, eine Kinderstation und auch eine kleine einfache Intensivstation für Kinder. Außerdem haben wir uns in der Klinik um mangelernährte Kinder gekümmert.

Wie muss man sich die medizinische Situation in der Zentralafrikanischen Republik insgesamt vorstellen?

Die Zentralafrikanische Republik ist seit ihrer Unabhängigkeit von Frankreich von einem Konflikt in den nächsten geschlittert. Die Lebenserwartung dort ist mit 53 Jahren eine der geringsten auf der Welt, das Land ist sehr arm. Die Kindersterblichkeit ist hoch, die Zahl mangelernährter Kinder ebenso. Das Gesundheitssystem dort hat weder die finanziellen noch die fachlichen Ressourcen, die benötigt werden. Seit Jahrzehnten werden beispielsweise nur sehr wenige Ärzte ausgebildet.

Das heißt, ohne Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen würde es noch weniger oder gar keine Gesundheitsversorgung mehr geben?

Spätestens seit dem Beginn des Bürgerkriegs 2013 ist das staatliche Gesundheitssystem faktisch zusammengebrochen. Man muss sich das so vorstellen: Das Land ist auf dem Reißbrett der Kolonialmächte entstanden, es ist ein Vielvölkerstaat - in manchen Regionen verstehen die Menschen die Sprache der Dorfbewohner fünf Kilometer nebenan schon nicht mehr.

Ohne die Nothilfe von Ärzte ohne Grenzen in Kliniken und Gesundheitsposten gäbe es für viele keine medizinische Versorgung.

Die Spendenbereitschaft in Deutschland ist nach wie vor hoch - aber die Geldflüsse haben sich verschoben, auch wegen des Krieges in der Ukraine...

Ärzte ohne Grenzen bittet schon seit 2005 darum, nicht zweckgebunden für bestimmte Situationen zu spenden, sondern zweckungebunden. Auslöser waren die großen Spendenaufkommen nach dem Tsunami 2004. So können die Mittel auch für Krisen in Regionen verwenden werden, die weniger Aufmerksamkeit in den Medien haben - wie zum Beispiel die Zentralafrikanische Republik. Die Haltung von Ärzte ohne Grenzen ist, dass sich der Umfang der Projekte nur nach dem Bedarf richten sollte, nicht nach der Höhe der eingegangenen Spenden. Ohne Zweckbindung können die Teams denjenigen schnell helfen, die die Nothilfe am dringendsten brauchen - auch in der Ukraine.

Welche Auswirkungen hat dann die aktuelle weltpolitische Lage auf die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen, etwa in der Zentralafrikanischen Republik?

Die weltweiten Lieferkettenprobleme, die wir seit der Pandemie kennen und die der Krieg in der Ukraine noch verstärkt hat, betreffen wirtschaftlich schwache Länder wie die Zentralafrikanische Republik natürlich noch einmal stärker als Industriestaaten. Kurz bevor ich wieder nach Deutschland gereist bin, war die Lage so, dass wir - und auch alle anderen Hilfsorganisationen - enorme Probleme hatten, die benötigten Medikamente oder auch die therapeutische Nahrung für mangelernährte Kinder zu bekommen.

Blick in einen Krankenhaussaal in Bossangoa
Blick in einen Krankenhaussaal in Bossangoa

Sie werden in Deutschland ja jetzt sicher auch wieder als Kinderärztin arbeiten. Was nehmen Sie aus ihrer Zeit in Zentralafrika mit?

Im Oktober fange ich wieder an der Uni-Kinderklinik in Würzburg an. Ich bin sehr gespannt, wie das wird, wenn ich wieder mit dem deutschen Gesundheitssystem konfrontiert sein werde. Man kann daran sicher vieles kritisieren - aus Sicht einer Ärztin, die in einem Entwicklungsland gearbeitet hat, bietet es vor allem eine "Flut an Ressourcen".

In Afrika habe ich erlebt, dass man mit den Händen, einem Stethoskop und einer guten Anamnese als Arzt aber auch schon viel erreichen kann.

Glauben Sie, dass Sie von so manchem "First-World-Problem", mit dem Sie eventuell in der Notaufnahme konfrontiert sind, genervt sein werden?

Ganz kurz kam mir dieser Gedanke auch mal - aber das Wichtigste für einen guten Arzt ist meiner Meinung nach, dass man alle Probleme aller Patienten ernst nimmt. Man darf jetzt Kinder und Eltern, die in einer deutschen Notaufnahme mit einem für zentralafrikanische Verhältnisse womöglich trivialen Problem aufschlagen, deshalb nicht weniger ernst nehmen. Es ist doch auch irgendwie schön, dass man nicht nur Kinder in der Notaufnahme hat, bei denen es immer um Leben und Tod geht.

Warum wollten Sie denn überhaupt ins Ausland gehen? Und weshalb dann ausgerechnet in die Zentralafrikanische Republik?

Letztlich war und ist es Idealismus. Schon im Studium habe ich mich bei verschiedenen Initiativen engagiert, das war mit einfach wichtig - ich habe das Gefühl, dass wir sehr privilegiert sind und Glück haben, dass wir hier in Deutschland leben dürfen. Und nachdem ich vergangenen Sommer die Klinikzeit meiner Ausbildung zum Facharzt für Kinderheilkunde abgeschlossen hatte, fand ich, dass eben der richtige Zeitpunkt war, etwas von diesem Privilegiert-Sein und Glück-Haben zurückzugeben.

Haben Sie - außer ihren Arbeitsorten in der Klinik und den medizinischen Versorgungsposten - denn auch noch irgendetwas vom Land gesehen?

Nein, nicht wirklich. Man ist ja dort, um zu arbeiten. Und man muss dafür vor Ort auf vieles verzichten. Ärzte ohne Grenzen legt großen Wert auf die Sicherheit seiner Mitarbeitenden - und es gab auch keinen Moment, in dem ich mich mal nicht sicher gefühlt hätte. Die Kehrseite war, dass wir uns eben nur sehr wenig frei bewegen konnten. In unserer Wohnanlage gab es immer dasselbe Essen, wir haben die immer gleichen Dinge gemacht hat und auch immer dieselben Menschen gesehen. Aber durch meine tägliche Arbeit hatte ich viel Kontakt zu den Menschen vor Ort, habe vieles über die Kultur und das Land erfahren und sogar ein wenig von der Landessprache gelernt.

Sie haben sich für eine weltweit anerkannte Hilfsorganisation engagiert - wäre es nicht viel besser, es müsste Ärzte ohne Grenzen gar nicht (mehr) geben?

Ärzte ohne Grenzen ist vergangenes Jahr 50 Jahre alt geworden. Einerseits ist solch ein Jubiläum natürlich schön - und andererseits aber auch furchtbar.

Denn das heißt ja auch, dass man Ärzte ohne Grenzen immer noch braucht, weil es Länder und Regionen auf unserer Erde gibt, in denen es keine ausreichende medizinische Versorgung gibt.

Und solange das so ist, braucht es auch Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, um dort zu helfen und darauf aufmerksam zu machen.

Was ist nach Ihren Erlebnissen und Erfahrungen in der Zentralafrikanischen Republik ihre Forderung an die Politik?

Die Zentralafrikanische Republik ist natürlich nur eine von sehr viele "Baustellen" weltweit, und ich verstehe, dass es eine sehr schwierige Aufgabe ist, die Hilfe für Länder des Globalen Südens gerecht zu verteilen - also im Grunde Hilfe zu priorisieren. Ehrlich gesagt, bin ich sehr froh, dass ich keine Politikerin bin, sondern einfach als Ärztin arbeiten kann. Die Beziehung Arzt-Patient funktioniert im Grunde überall gleich.