Zum Weihnachtstraum mit Gans und Baum gibt es den Familienkrach oft gratis dazu: Je höher die Erwartungen ans Familienfest, desto härter der Aufprall in der Wirklichkeit von alten Konflikten und unausgesprochenen Wünschen. Tilmann Haberer ist der evangelische Leiter der Beratungsstelle "Münchner Insel". Im Interview mit dem Sonntagsblatt warnt er vor der Erwartung nach einer "heilen Familie" an Weihnachten. Alle hofften, dass beim Weihnachtsfest, zu dem die Menschen quer durch Deutschland reisten, alles harmonisch ablaufe, sagt Haberer. "Leider klappt das nicht immer. Das merken wir dann in der Beratungsstelle." Zwischen den Feiertagen sei die Insel im Marienplatz-Untergeschoss daher voll besetzt.

Haberer rät, miteinander zu reden und die großen Erwartungen fallen zu lassen. "Man könnte vorab Absprachen treffen oder ganz bewusst mit Traditionen brechen." Meist werde Weihnachten so gefeiert, wie man es schon als Kind gewohnt war. "Wenn dann zwei Traditionen in einer Beziehung aufeinanderprallen, tun sich Konflikte auf: Hängt am Christbaum Lametta oder Kugeln? Gibt es die Gans an Heilig Abend oder am ersten Feiertag?" Solche Diskussionen sollte man aber am besten schon im Juli führen.

Warum feiern wir nochmal Weihnachten?

Außerdem fordert Haberer die Menschen zum Umdenken auf: "In der Logik von Weihnachten müssten wir uns am Heiligabend jemanden einladen, der einsam ist, den man sonst nicht einladen würde." Das könne der ungeliebte Verwandte sein oder eine alleinerziehende Mutter, die man aus dem Kindergarten kennt. "Tatsächlich wird Weihnachten oft genau andersherum gefeiert: Alles ist ausgeschlossen, was nicht zur engsten Familie gehört." Die Hirten und Könige an der Krippe seien ja auch keine Familienmitglieder gewesen, sondern ungebetene Gäste.

Ich glaube, vor Weihnachten sind alle noch so beschäftigt, dass sie sich kaum Zeit für sich nehmen. Viele Menschen kommen dann vor allem wegen persönlichen Krisen oder psychischen Problemen zu uns. Einige kommen auch, weil sie wissen, dass wir eine Liste mit Angeboten für Alleinstehende an den Feiertagen haben. Einsamkeit ist in einer Stadt wie München ein großes Thema.

Tilmann Haberer
Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler
Oberkirchenrätin Susanne Breit-Keßler ist Regionalbischöfin im Kirchenkreis München und Oberbayern und Ständige Vertreterin des bayerischen Landesbischofs.

Der trügerischen Weihnachts-Idylle mit Gelassenheit begegnen

In ihrem geistlichen Wort zum Feiertag schreibt die Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler Folgendes:

"Gesegnete, friedliche Weihnachten" - dieser fromme Wunsch steht auf vielen Weihnachtskarten. Zugleich weiß jeder, dass Weihnachten ideal ist, um aneinanderzugeraten. Bei manchen gibt es traditionell am Vormittag des Heiligen Abends Ärger. Einer besorgt den Christbaum, der preiswert ist, aber nicht schön. Die andere ist entrüstet, eine ungeratene Fichte schmücken zu müssen. Die Tochter möchte sowieso einen ganz anderen Baum.

An den Feiertagen, wenn alle bis zur Bewegungslosigkeit abgefüllt sind mit Ente, Gans, Punsch und dem Mehrteiler aus dem Fernsehen, wenn keiner mehr Stollen sehen kann, einem das anhaltende besinnliche Gedudel auf die Nerven geht, geht es los. Hochgespannte Erwartungen werden enttäuscht, eigene Sehnsucht trifft auf den Widerstand anderer. An Tagen, für die sogar in Kriegsgebieten Waffenstillstände vereinbart werden, knallt es.

An Weihnachten bricht so ziemlich alles auf, was bis dahin sorgsam unter der Decke gehalten wurde.

Ehekrisen, bislang nicht aufgearbeitete Streitigkeiten, sie drängen mit Gewalt an die Oberfläche. Schlimm, wenn unter Alkoholeinfluss oder weil die Nähe der anderen allmählich zu viel wird, den Anwesenden schlechte Eigenschaften und Versäumnisse aus Vergangenheit und Gegenwart um die Ohren gehauen werden.

Die vielen Krisen, die an Weihnachten Menschen erschüttern, Familien und Singles, rühren vom Zwang her. Vom Zwang, eng aufeinander gepackt, Stunden und Tage harmonisch miteinander zu verbringen. Vom Zwang, allen denkbaren Attacken auf die eigenen Gefühle ausgesetzt zu sein. Und vom Zwang, sich einem Heile-Familie-Idyll unterwerfen zu sollen oder wollen - einem Idyll, das es nie gegeben hat, schon gar nicht in der Bibel. Dort ist bei der Geburt Jesu von Notunterkunft die Rede, von armen Leuten, von einer Flucht ins Ausland, von Verfolgung und Asyl.

Die Botschaft des Weihnachtsfestes ist fleischgewordene Liebe, und Liebe verträgt ganz einfach keinen Druck, sie braucht Luft und Raum zur Entfaltung.

Aus Zwang erwächst Hass - Liebe dagegen ist das Kind der Freiheit. Gott ist aus freien Stücken Mensch geworden. Er ist Kleinen und Großen hautnah gekommen, damit sie im besten Sinne zwanglos leben und ihr Dasein frohgemut gestalten können.

Feiern und Zusammensein gehört genauso dazu wie Distanz zu halten und den zeitweisen Rückzug zu genießen. Weihnachten ist nur einmal im Jahr. Man kann sich vorher gemeinsam und in aller Ruhe überlegen, wann man beieinander sein möchte und wann jeder Zeit für sich braucht. Könnt' ja sein, dass nach einem solchen Gespräch - in dem jeder Lust und Last ausspricht - ein tiefes Aufatmen durch die Runde geht. Und wenn es doch einmal funkt, dann hilft Gelassenheit, Verständnis für sich selbst und für andere. Und die Gewissheit, dass Gott besonders dort ist, wo man ihn nötig braucht, wo es um Klarheit und Wahrheit, um Schuld und Vergebung geht.

Nun aber wirklich: Gesegnete, friedliche Weihnachten!

 

Seelsorge an Weihnachten

Gruseln Sie sich jetzt schon vor den emotional überladenen Weihnachtstagen?

Die ökumenische Beratungsstelle "Münchner Insel" im Untergeschoss des Marienplatzes hat an den Werktagen zwischen den Jahren folgende Öffnungszeiten: Montag-Freitag 9-18 Uhr, Donnerstag 11-18 Uhr.

Rund um die Uhr besetzt sind die evangelische und die katholische Telefonseelsorge unter den kostenlosen Nummern 0800/ 1110111 oder 0800/1110222.