Um die zwanzig Menschen drängen sich in einer Wohngegend vor einem hellblau angestrichenen Gebäude mit Flachdach bis auf die Straße, angespanntes Stimmengemurmel und wiederholte schnelle Blicke auf eine Eingangstüre suggerieren, dass sie darauf warten, endlich eingelassen zu werden. In München kann dieses Szenario auf zwei Problemfelder hindeuten: der Suche nach einer Wohnung oder einem Kita-Platz.

Die verzweifelte Suche nach einem Kita-Platz in München

In diesem speziellen Fall handelte es sich um den Tag der offenen Tür einer Kindertagesstätte, die ich mir gerne persönlich anschauen wollte, um besser beurteilen zu wollen, ob sich mein Sohn dort wohlfühlen könnte. Und natürlich hatte ich die Hoffnung, über den persönlichen Kontakt die Chancen auf einen Platz für meinen Sohn zu erhöhen.

Oh, wie naiv ich war.

Bereits zuvor war mir per E-Mail mitgeteilt worden, dass es an diesem Tag vier Schichten geben würde, in denen Besuchergruppen nacheinander im Halbe-Stunden-Takt durch die Einrichtung geführt würden.

Vor Ort überschlug ich kurz: 20 Personen pro Schicht, das macht insgesamt 80, also konkurrierten wir mit 79 anderen Familien. Puh.

Die harte Realität

Schließlich schleuste uns eine Erzieherin in einen bunt dekorierten Gruppenraum. Während mein Sohn direkt lautstark loszog, um sich einen Ball aus der Spielecke zu schnappen, signalisierte mir das Verhalten der anderen Eltern, dass diese offensichtlich keine Besichtigungs-Anfänger*innen waren wie ich. Sie hielten der bereits sichtlich erschöpften Erzieherin die süßen Gesichter ihrer Kinder unter die Nase, ließen dabei wiederholt ihren Nachnamen fallen und betonten, wie pflegeleicht ihre kleine Emma doch sei.

Mit dem ersten Satz der Erzieherin wurde mir dann auch klar, warum: "Ich will Ihnen gleich zu Beginn sagen, dass wir ab Herbst nur zwei Plätze freihaben – falls Sie sich die Besichtigung dann doch sparen wollen."

Oh, wie naiv ich war.

Seit 2013 gibt es in Deutschland zwar offiziell einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder nach dem ersten Geburtstag, in der Realität fehlen gemessen an der Nachfrage in diesem Jahr laut Prognose der Bertelsmann Stiftung jedoch 384.000 Plätze. "Ein absolutes Versagen der Politik", fasste eine Expertin für frühkindliche Bildung die Gesamtsituation vor einigen Monaten zusammen.

384.000 fehlende Plätze – hier geht es nicht um eine abstrakte Zahl, sondern um 384.000 Familien in Deutschland, die potenziell überlastet sind, weil sie keine Unterstützung bei der Versorgung ihres Kindes bekommen.

384.000 (überwiegend) Mütter, die nicht planen können, ob, wann und wie viel sie zukünftig wieder arbeiten werden können und auf die Unternehmen als Arbeitskräfte länger verzichten müssen, als es sonst vielleicht nötig gewesen wäre.

384.000 Familien, die nicht die Freiheit haben, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es sich wünschen. Das ist nicht nur organisatorisch eine Katastrophe, sondern kann auch emotional zu einer großen Belastung werden.

Musste ich über die Absurdität der "Massen-Kitabewerbung" zuerst noch schmunzeln, wird mir inzwischen immer mehr die gravierende Dramatik dahinter bewusst. Wie in Deutschland mit Kita-Plätzen jongliert und den Bedürfnissen von Familien umgegangen wird, ist ein Armutszeugnis für unser reiches Land.  

Nun können mein Mann und ich uns den „Luxus“ leisten, unser Kind auch nach seinem ersten Geburtstag noch abwechselnd zu Hause zu betreuen, indem wir beide Teilzeit arbeiten und sehen darin auch durchaus Vorteile. Für viele Familien ist dies jedoch allein schon finanziell keine Option.

Quantität statt Qualität?

Nach der Eröffnung, dass es in der besichtigten Kita nur zwei freie Plätze geben werde, ist natürlich niemand gegangen. Alle Eltern haben die 30 Minuten ausgereizt und ihr Bestes gegeben, um Eindruck zu schinden. Am Ende wurde uns geraten, Bewerbungen an mindestens sieben bis zehn Einrichtungen zu verschicken, denn im Grunde sei die Situation überall ähnlich verschärft.

Was mich zu einem weiteren Punkt bringt, der seitdem an mir nagt: Ich will mein Kleinkind nicht irgendwo hinstecken. Ich will ihn an einem Ort wissen, an dem er sich wohlfühlt, mit Erzieher*innen, die liebevoll und empathisch mit ihm umgehen. Ich will mir diesen Ort selbst aussuchen können.

Ja, auch das würden manche als naiv bezeichnen, aber hier ziehe ich eine Grenze.

Es kann doch nicht sein, dass es keine Lösung gibt, die genau dies ermöglicht. Es kann doch nicht sein, dass wir uns bei unseren Kindern mit den Mindestanforderungen begnügen. Es kann doch nicht sein, dass dagegen nicht längst etwas unternommen wird.

Leider scheint es jedoch genau so zu sein. Zusätzlich dazu, dass es in Deutschland ein massives Platzproblem in Kitas gibt, lässt auch die Qualität zu wünschen übrig.

"Noch immer werden bundesweit 68 Prozent aller Kita-Kinder in Gruppen betreut, deren Personalschlüssel nicht den wissenschaftlichen Empfehlungen entsprechen", heißt es in der bereits erwähnten Bertelsmann-Analyse. Achtundsechzig Prozent!

Ein Grund für die Krise ist wohl, dass es in Deutschland keine klare Zuständigkeit für Kindertagesstätten gibt. Während die Kommunen häufig die Einrichtungen leiten, Personal einstellen sowie Plätze vergeben, verwalten die Länder unter anderem die Finanzierung, darunter auch Gelder, die der Bund immer wieder für frühkindliche Betreuung bereitstellt.

Ist keiner schuld – oder vielleicht doch alle?

"Oft haben die verschiedenen Zuständigkeiten zur Folge, dass sich niemand für die Probleme verantwortlich fühlt und sich Kommunen, Länder und Bund gegenseitig die Schuld zuschieben", sagte Irina Prüm, Vorständin der Bundeselternvertretung der Kinder in Kindertageseinrichtungen und Kindertagespflege (BEVKi) erst kürzlich der "Süddeutschen Zeitung".

Und selbst wenn Verantwortlichkeit und Finanzierung geklärt wären, bliebe immer noch das Kernproblem: Wo Erzieher*innen herkriegen?

Annette Stein, Expertin für frühkindliche Bildung bei Bertelsmann, sagte in Bezug auf die aktuellen Zahlen: "Die größte Hürde auf dem Weg zu genügend Plätzen und mehr Qualität ist und bleibt der enorme Fachkräftemangel. Es muss jetzt sehr schnell gelingen, viel mehr Personen für das Berufsfeld zu gewinnen." Stein fordert von der Politik unter anderem eine verbindliche Strategie, wie dies künftig gelingen kann.

In meiner (naiven?) Traumwelt sollten Familien individuell, planbar und unabhängig von ihrer finanziellen Ausgangslage entscheiden können, wann sie ihre Kinder in eine Betreuungseinrichtung geben. Dabei müssen sie sich sicher sein können, dass diese kindgerecht gestaltet sind und die Erzieher*innen unter Umständen arbeiten, die ein liebevolles und individuelles Eingehen auf Babys und Kleinkinder ermöglichen.

Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt, mit nicht weniger aber sollten wir uns als Eltern, Politik und Gesellschaft zufriedengeben. Es heißt nicht umsonst: Kinder sind unsere Zukunft. Worin investieren, wenn nicht in unsere Zukunft?  

Übrigens haben wir natürlich keinen der beiden freien Kita-Plätze bekommen. Wir suchen weiter - inzwischen zumindest etwas weniger naiv.

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