"Was wäre, wenn es die Werkstätten für behinderte Menschen nicht mehr gibt?", fragt sich die auf den Rollstuhl angewiesene Romanheldin. Dann macht sie sich mit zwei Mitstreitern daran, es auszutesten. Gemeinsam stecken die drei ihre Werkstatt in Brand.

Der Behindertenrechtsaktivist Ottmar Miles-Paul kämpft seit Jahrzehnten dafür, Menschen aus den Parallelwelten der Wohnheime und Werkstätten herauszuholen. Nun hat er ein Buch darüber geschrieben, was passiert, wenn Frust über Bevormundung und das nur symbolische Entgelt in Militanz umschlagen.

Brandstiftung ist aus der Luft gegriffen

"Die Brandstiftung ist aus der Luft gegriffen", sagt der selbst stark sehbehinderte Sozialarbeiter und Publizist über seinen "Reportage-Roman" mit dem Titel "Zündeln an den Strukturen". Doch der Ärger, der die Protagonisten, Mitglieder einer örtlichen "Enthinderungsgruppe", zu Straftätern werden lässt, ist ganz real.

Und teilweise spürt Miles-Paul ihn auch selbst. Fortschritte kämen allenfalls im Schneckentempo. Bei seinen vielen Besuchen in Einrichtungen höre er immer wieder Geschichten aus dem Alltag behinderter Menschen, die er am liebsten sofort öffentlich machen würde. Doch die Reaktion der Betroffenen sei meist die gleiche: "Sag bloß nichts", werde er dann gebeten. Irgendwann sei daher die Idee zu dem Buch gekommen, das Miles-Paul mit Katrin Grund geschrieben hat.

Betreuer sorgen sich um Fortbestand ihrer Einrichtung

Dass sich manche real existierenden Personen in den Figuren der erfundenen Geschichte wiedererkennen könnten, sei jedenfalls kein Zufall, sagt der Autor. Da wären beispielsweise Betreuer, die sich um den Fortbestand ihrer Einrichtung sorgen, falls zu viele "ihrer" Behinderten aus der Werkstatt fortgehen sollten.

"Das sind alles Träumereien", warnt einer im Roman. "Die Welt da draußen ist knallhart. Bleibt lieber hier, da habt ihr es doch gut."

Die Idee, dass behinderte Menschen ein selbstbestimmtes, möglichst normales Leben führen sollten - mit Aussicht auf eine reguläre Arbeit und eine eigene Wohnung - ist in Deutschland vergleichsweise jung. Als Ottmar Miles-Paul Ende 2007 dem Ruf der Mainzer Landesregierung folgte und für die Dauer von fünf Jahren das Amt des Landesbehindertenbeauftragten übernahm, hatte Rheinland-Pfalz kurz zuvor als erstes Bundesland einen Modellversuch zum "Budget für Arbeit" gestartet.

Arbeitgeber sollten dabei ermutigt werden, behinderte Menschen mit einem regulären Arbeitsvertrag anzustellen. Einen Großteil des Gehalts konnten sie sich vom Staat als Lohnkostenzuschuss erstatten lassen. Die Idee aus Mainz machte Schule und wurde 2018 mit dem Bundesteilhabegesetz in ganz Deutschland eingeführt.

Niemand hilft behinderten Menschen, Job zu finden

Doch mit der Umsetzung hapere es weiterhin gewaltig, ärgert sich der Behindertenrechtsaktivist - aufgrund der Strukturen. Noch immer erfolge der Übergang von der Förderschule direkt zur Werkstatt fast automatisch. Es gebe niemanden, der behinderten Menschen wirklich dabei helfe, einen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden. Es werde noch nicht einmal ernsthaft nachgefragt, wie viele Menschen das System der Behindertenwerkstätten verlassen wollten.

Und dann gebe es da die bundesweit 25.000 bis 30.000 Menschen mit sogenannten "ausgelagerten Arbeitsplätzen", die zwar faktisch schon in Unternehmen oder Organisationen arbeiteten, für die aber weiter die Werkstätten zuständig blieben. Damit erhalten sie weiterhin lediglich ein Werkstattentgelt, das deutlich unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt. "Die könnten alle richtigen Lohn bekommen, aber es hat niemand ein Interesse daran", sagt Miles-Paul.

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