"Sie weiß von nichts, wir wollen sie nicht belasten," ist einer der wenigen Sätze, die zwischen einer jungen Besucherin aus Le Havre und ihrer Mutter fallen. Und die die 12-Jährige Annie Ernaux natürlich aufschnappt, an einem Sonntagnachmittag beim Spielen im Juni 1952, an der Rückseite des Geschäfts ihrer Eltern in der Rue de L’École, irgendwo in einem Dorf in der Normandie. So wie Kinder meistens aufschnappen, was "nicht für ihre Ohren gedacht ist."

Annie Ernaux Mutter erzählt einer fast Fremden zum ersten und einzigen Mal von ihrer verstorbenen Schwester. Sie sei vor dem Krieg in Lillebonne im Alter von nur sechs Jahren an Diphterie gestorben, hätte Belege an Hals und Rachen gehabt, Atemnot. "Bei ihrem Tod sah sie aus wie eine kleine Heilige," sagt die Mutter, und fügt noch hinzu: "Sie war viel lieber als die da." Gemeint ist Annie Ernaux, das andere Mädchen.

Worte treffen wie spitze Pfeile

Wörter, die die Zweitgeborene treffen wie spitze Pfeile und um die sich dann wieder ein lautes Schweigen ausbreitet. Niemals wieder wird Ernaux über ihre Schwester sprechen, niemals nach ihr fragen – aber über sie schreiben, sie und sich.

In ihrem Brief an die Schwester, die sie nie persönlich kennenlernte, stellt Ernaux Fragen, fühlt sich schuldig, vergleicht sich, fragt nach den Gründen für den Tod der Schwester und ihr eigenes Überleben. Sie berichtet von der großen Angst ihrer Eltern, auch die zweite Tochter könnte frühzeitig sterben, ebenso wie von den impliziten Vorwürfen "nicht so lieb wie die andere zu sein."

Die Erzählerin fragt sich, ob die kleine Schwester glücklich war, worin sie sich heute unterscheiden würden, wie sie ihr Leben weitergelebt hätte, wie es gewesen wäre, gemeinsam aufzuwachsen. Sie berichtet davon, wie sie ihre Schultasche verwendete und bis zum Alter von sieben Jahren in ihrem Rosenbett schlief. Erst schämt sie sich, weil sie lebt und überlebt, und dann dass sie jemals glaubte, ihre Schwester hätte sterben müssen, damit sie leben kann.

Die große Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux berichtet von einer weiteren Facette ihrer eigenen Familiengeschichte, hervorgerufen durch sechs Fotos ihrer verstorbenen Schwester. Am Ende wird der Brief über siebzig Seiten lang und endet mit der Frage,

"ob ich mich für diesen Brief schämen werde oder stolz darauf sein werde, wobei mir nach wie vor unklar ist, warum ich ihn überhaupt geschrieben habe. Vielleicht wollte ich, indem ich dir eine Existenz gebe, nachdem dein Tod mir eine Existenz gegeben hat, eine imaginäre Schuld begleichen. Oder dich zum Leben erwecken und noch einmal in den Tod schicken, um dich und deinen Schatten loszuwerden."

Kurz taucht in diesem Brief auch eine Szene auf, die im Mittelpunkt der Erzählung "Die Scham" steht, einer ebenso auf wahren Ereignissen basierenden Geschichte, nur ein paar Dutzend Seiten länger.

"Im Juni 1952 zerrte er sie in den Keller und wollte sie umbringen. Ich ging dazwischen." Ohnmächtig muss Annie Ernaux miterleben, wie der Vater die Mutter mit einer Axt umzubringen droht.

"In der schlecht beleuchteten Vorratskammer hatte mein Vater meine Mutter mit der einen Hand an der Schulter oder am Hals gepackt. In der anderen hielt er das Beil, das er aus dem Klotz gerissen hatte. Ab hier erinnere ich mich nur noch an Tränen und Geschrei."

Der Vater tötet die Mutter nicht. Nach kurzer Zeit beruhigt er sich wieder, alle gehen auf eine Fahrradtour, als sei nichts gewesen. Der Rest wird ihr Leben lang verschwiegen. Und Annie versucht, den Eklat zu vergessen. Bis sie, nahezu ein halbes Jahrhundert später, wieder auf ein altes Foto stößt, das eine Flut von Erinnerungen auslöst.

Im Vordergrund steht die "Scham", Scham für die zahlreichen sozialen, religiösen und sprachlichen Codes und Regeln, für die Unmöglichkeit in ihrem starren Korsett zu leben – und die Unvereinbarkeit der strengen Religion und der Dorfregeln mit dem Vorfall im Keller.

"Wir gehörten nicht länger zu den anständigen Leuten, die nicht trinken, sich nicht prügeln, sich ordentlich kleiden, wenn sie in die Stadt gehen (…) Ich hatte gesehen, was ich nicht hätte sehen sollen."

Dabei berichtet Ernaux ausführlich über ihre Prägungen als Kind, in der Schule und schließlich auf einer Privatschule, über die Blicke der Anderen, der Lehrer und Nachbarn. Wie sie sich aus den Widersprüchen heraus träumt, wie sie mit dem Dorf und ihren Eltern bricht, sich von der Tochter zur eigenständigen Frau entwickelt.   

Ethnologin ihrer selbst

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich in "Die Scham" als Ethnologin ihrer selbst. Dafür, die eigene Biografie als soziologische Fallstudie zu untersuchen, wurde sie schließlich mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit und hat etwa zwanzig Romane geschrieben, von denen die Geschichte ihres Vaters "Der Platz" und "Das andere Mädchen" den besten Einstieg bieten.

Annie Ernaux stellt unangenehme Fragen, berichtet über den Kampf mit sich selbst und den Kampf mit den eigenen Worten, sie bohrt nach, sie versucht Erklärungen zu finden und dies alles in Worte zu gießen, die ihr und vielen anderen so schwerfallen.

 

Annie Ernaux: Das andere Mädchen, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 74 Seiten, 11 Euro.

Hier im sozialen Buchhandel Buch7 bestellen

Annie Ernaux: Die Scham, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 110 Seiten, 11 Euro.

Hier im sozialen Buchhandel Buch7 bestellen

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden