Herr Professor Benz, in Deutschland wird wieder der Judenhass öffentlich auf die Straßen getragen - wer ist dafür verantwortlich und wie muss man darauf reagieren?

Wolfgang Benz: Gegen Judenhass muss man natürlich reagieren. Antisemitismus als Judenfeindschaft im weitesten Sinne ist nirgendwo so kriminalisiert und verpönt wie in Deutschland. Es ist vollkommen falsch, anzunehmen, Deutschland sei der Hort einer neuen Judenfeindschaft.

Halten Sie Gewalttaten gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger hierzulande wieder für möglich - wie vor 85 Jahren in der Reichspogromnacht der Nationalsozialisten von 1938?

Benz: Ich halte grundsätzlich alles, was geschehen ist, für wiederholbar. Aber es ist denkbar unwahrscheinlich, dass ein zweiter Holocaust von deutschem Boden ausgeht. Gewalttaten gegen Juden in Deutschland sind derzeit überwiegend hasserfüllte Übergriffe von jungen arabischen Muslimen - Palästinensern oder deren Sympathisanten. Diese richten sich gegen den Staat Israel. Die Novemberpogrome im November 1938 waren hingegen eine staatlich inszenierte Veranstaltung. Einen spontanen Volkszorn hat es damals nicht gegeben.

Sie haben den Judenhass als das älteste Ressentiment bezeichnet, das die Menschheit kennt. Warum scheint Antisemitismus ein unbesiegbares Phänomen zu sein?

Benz: Weil er das älteste ist. Er ist mit verschiedenen Wurzeln tief in das öffentliche Bewusstsein eingelassen. Religiöse Ressentiments wirken fort und erst recht die von den Nazis verbreiteten rassistischen. Der Holocaust hat keineswegs den Menschen die Augen geöffnet. Im Gegenteil wurden Schuldgefühle sublimiert. Man beschuldigt lieber die Opfer, als dass man das Wesen des Vorurteils hinterfragt.

Juden fühlen sich nicht mehr sicher in Deutschland, beklagt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden. Politiker wie Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sprechen von der Angst, die wieder umgehe. Ist die derzeitige Antisemitismus-Diskussion zu aufgeregt?

Benz: Ja natürlich! Das ist deren Pflicht, so zu sprechen. Die Formel von den gepackten Koffern, auf denen die jüdische Gemeinde in Deutschland sitzt, ist griffig, wird gerne geglaubt - stimmt aber nicht. Ich kann sehr gut verstehen, dass Juden, die in Deutschland leben, dieses Holocaust-Trauma verinnerlicht haben. Genauso, wie die Mehrheit der Deutschen das Bewusstsein von Schuld und Scham über dieses Ereignis verinnerlicht hat. Das entspricht aber nicht einer wirklichen Bedrohung.

Ist Kritik an der Politik Israels und seiner Offensive im Gaza-Streifen gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas legitim - trotz der vielen zivilen Opfer?

Benz: Da zitiere ich gerne den früheren Bundespräsidenten Johannes Rau, ein evangelischer Christ, der sagte, es sei eine 'Freundespflicht', zu kritisieren. Es ist kein Antisemitismus, wenn ich sage, dass die Politik der Regierung Netanjahu nicht zu einer von der ganzen Welt gewünschten Zwei-Staaten-Lösung und bestimmt nicht zu einem Frieden in Nahost führen wird.

Wäre die Zwei-Staaten-Lösung also die Lösung für diesen Konflikt?

Benz: Wenn nicht alle Chancen inzwischen vertan sind, der Hass so stark ist, dass da nichts mehr geht. Es müsste auch jetzt noch energische Diplomatie möglich sein. Die Israelis könnten die Klügeren sein und Geld in die Hand nehmen und den Palästinensern zu einer friedlichen Koexistenz helfen und sagen: „Wir stehen Euch partnerschaftlich bei, bis ihr auf eigenen Füßen steht - aber um den Preis, dass ihr Frieden gebt.“ Durch den feigen Überfall der Hamas ist das auf längere Zeit unmöglich.

 Was wäre die Rolle der Kirchen in diesem Versöhnungsprozess?

Benz: Aus dem viel beschworenen christlich-jüdischen Dialog heraus, der die Muslime überwiegend ausgrenzt, muss der christlich-jüdisch-muslimische Trialog gesucht werden. Die Kirche muss sich mit den friedlichen Muslimen solidarisch zeigen, dann kommen die vernünftigen jüdischen Partner schnell dazu.

Wie werten Sie es, dass manche junge Klimaaktivisten und Linke die Gewaltexzesse gegen Israel nicht offen verurteilt haben?

Benz: Sie verurteilen überwiegend die Gewalt, das hoffe ich doch auch. Der Terrorismus ist durch nichts zu entschuldigen. Trotzdem muss ich Empathie empfinden dürfen für die palästinensische Zivilbevölkerung, die schlicht ums Überleben kämpft.

Was kann man tun, um besonders junge Menschen davon abzuhalten, antisemitischen Scharfmachern hinterherzulaufen?

Benz: Man muss jungen Menschen sagen: Das geht euch sehr wohl etwas an. Eine rationale Wissensvermittlung durch Historiker, Politiker und Lehrer greift nachhaltiger als die emotionale durch Zeitzeugen. Man muss auch fragen, warum man andere Minderheiten wie die Muslime ausgrenzt. Und man soll Sprüche wie ein „Nie wieder“ lassen. Die hohen Worte bringen gar nichts, sie machen nur Langeweile oder verstärken das Ressentiment. Man muss alltäglich gegen Vorurteile einstehen.

In Bruchsal gibt es eine bundesweit wohl einmalige Situation: Auf dem Platz der 1938 abgebrannten Synagoge wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ein Feuerwehrhaus errichtet. Nun gibt es Pläne der Stadtverwaltung, dort einen Gedenkort für Versöhnung und Demokratiebildung zu schaffen. Was halten Sie davon?

Benz: Wenn man einen Ort der Erinnerung errichtet wie in Berlin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, braucht man dafür genug Personal - Historiker, eine Aufsicht. Es muss ein Programm mit spannenden Veranstaltungen geben, vom Konzert bis zur Ausstellung. Es darf aber keine leer stehende Kulisse für das eigene Wohlbefinden aufgestellt werden.

 

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