Das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg hat Krankenmorde der Nationalsozialisten in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Erlangen (HuPflA) aufgearbeitet. Herausgeber Karl-Heinz Leven, Direktor des Instituts, und Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sabrina Freund sprechen auch über die Rolle der Kirchen.

Welchen Stellenwert hat bzw. welche Rolle spielt die HuPflA im Gefüge der T4-Aktionen? Oder war sie eher eine "Zwischenanstalt" untergeordneter Rolle?

Karl-Heinz Leven: Erlangen war kein "herausragender" Standort, aber ein sehr relevanter in diesem Handlungsfeld. Viele Menschen sind hier Opfer geworden, weil Erlangen eine zentrale Funktion für das Umland und die weitere Region als Sammelstation für die entsprechenden Tötungsanstalten hatte, in die man die Patienten dann transportierte. Eine Besonderheit Erlangens in der NS-"Euthanasie"-Aktion war auch, dass sich die Gebäude der Heil- und Pflegeanstalt so nah an der Stadt befanden. Üblicherweise waren diese eher im Umland der Städte lokalisiert, hier hatte man jedoch eine, die praktisch in der Innenstadt lag, an der man immer wieder vorbeilief.

Läuft man heute am Maximiliansplatz vorbei, fällt einem das Mahnmal für die im Nationalsozialismus Ermordeten auf vor dem Gebäude, in dem die kaufmännische Direktion der Universität untergebracht ist. Quasi das letzte, was von der ehemaligen HuPfla übriggeblieben ist?

Sabrina Freund: Das war das ehemalige Direktionsgebäude. Wenn man daran vorbei und bis ganz hinten durch das Gelände geht, steht dort noch der Rest des Nordflügels, in dem größtenteils die psychiatrische Klinik der Universität untergebracht war, später jedoch im Souterrain auch zwei der Hungerstationen, in denen die sogenannte "B-Kost" ausgegeben wurde. Das Gelände davor war mit einem kammartigen Gebäudekomplex bebaut - ein Riesengelände. Man hört sogar öfter in Zeitzeugenberichten, dass sich die Besucher dort verlaufen konnten. Das Areal war außerdem umschlossen von einer Mauer, zur Stadt hin abgeschirmt.

Wussten die Erlanger, was hinter diesen Mauern passiert?

Karl-Heinz Leven: Natürlich muss man davon ausgehen, dass einige Leute etwas wussten. Es gibt aber keine direkten Zeitzeugenberichte. Eine weitere Besonderheit Erlangens ist, dass es die oft so genannten "grauen Busse" der GeKrat, einer Tarnfirma der Nationalsozialisten für Krankentransporte, nicht gab. Die Patienten wurden mit Sonderzügen in die Tötungsanstalten transportiert. Dazu ist ein Briefwechsel zwischen Direktor Wilhelm Einsle und der GeKrat überliefert, in dem er erfuhr, dass die Patienten für den T4-Transport von der Anstalt zum Bahnhof gebracht werden mussten. Das ist ungefähr eine halbe Stunde Fußweg, und der führt mitten durch die Stadt.

Sabrina Freund: Der Transport fand laut diesem Briefwechsel außerdem zwischen 7:00 und 8:00 Uhr morgens statt. Das heißt, einige Menschen müssten z.B. auf ihrem Weg zur Arbeit etwas mitbekommen haben. Unsere Kollegin Katrin Kasparek, die beim Bezirk Mittelfranken zur Anstalt in Ansbach forscht, hat ganz zufällig in Verwaltungsakten eine Rechnung für ein lokales Busunternehmen gefunden. Für Erlangen liegt uns bisher kein solches Dokument vor, man kann jedoch davon ausgehen, dass es hier so ähnlich organisiert wurde. Denn viele Patienten waren wahrscheinlich sediert oder auch körperlich nicht in der Lage, eine halbe Stunde zu laufen.

Ist es nicht ungewöhnlich, dass diese Transporte nicht die Runde machten?

Karl-Heinz Leven: Dass sich darüber niemand direkt äußerte, darf einen nicht überraschen, denn es handelte sich um ein totalitäres Regime, in dem Vorstellungen wie Meinungs- oder Pressefreiheit Fremdwörter waren. Auch Journalisten, klinisch tätige Ärzte oder Mitwisser haben nichts gesagt, weil man um seine Stellung, vielleicht sogar um seine Gesundheit oder das Leben fürchtete. Es herrschte ein Klima, in dem man sich höchstens mündlich gelegentlich ausgetauscht hat. Stimmen gegen die NS-"Euthanasie" waren aber sehr selten und in der Öffentlichkeit fast nicht zu hören. Der Freiburger Pathologe Franz Büchner war der einzige deutsche Arzt, der sich öffentlich vor Tausend Zuhörern gegen die Krankenmorde ausgesprochen hat, aber auf eine Weise, die so verklausuliert war, dass man genau hinhören musste.

Sabrina Freund: Für die Gefahr, die sich aus einem Protest ergeben konnte, gibt es ein Beispiel aus Absberg bei Gunzenhausen. Dort wurde eine karitative Anstalt aufgelöst, weil nicht der Bezirk Träger war und der Staat somit keinen Zugriff auf die Patienten hatte. Dort hat sich die Bevölkerung beim Abtransport der Patienten nach Erlangen versammelt und sich negativ geäußert. Dazu gab es in der Folge NSDAP-Berichte, die Versuche schildern, die Namen der Personen, die sich beschwerten, zu ermitteln. Es war also durchaus gefährlich.

Waren die Transporte und Einlieferungen ein stetiges Geschehen, oder ging es da mal auf, mal ab?

Karl-Heinz Leven: Die Radikalisierung der Maßnahmen fällt mit dem Kriegsbeginn zusammen. Die Gesellschaft wurde fortschreitend militarisiert und auf den Krieg ausgerichtet, und viele Aspekte wie die Versorgung von psychisch Kranken rückten dadurch in den Hintergrund. Die sog. "T4-Aktion", die zentral gesteuerte Ermordung der Anstaltsinsassen wurde von Herbst 1939 bis Sommer 1941 durchgeführt.

Wie sind die Kirchen mit diesem Wissen umgegangen?

Karl-Heinz Leven: Der preußische Protestantismus hatte eine Neigung zum NS-Staat. Der Katholizismus hatte durch seine Anbindung an Rom neben dem Führer noch eine Autorität, die diesem weit überlegen war, die Rede ist von Papst Pius XII. Dieser war in früheren Jahren Botschafter in Berlin gewesen, und verhielt sich gegenüber dem Deutschen Reich diplomatisch. Es gab ein Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem NS-Regime, das die Wirkungsmöglichkeiten der Katholischen Kirche in Deutschland regelte. Hier ging es auch um den katholischen Religionsunterricht in den Schulen. Das heißt, der Vatikan hatte ein sehr hohes Interesse daran, sich mit dem Deutschen Reich zu einigen bzw. friedliche Beziehungen zu unterhalten.

Im Buch ist auch von Anstaltsgeistlichen die Rede. Was waren das für Leute?

Sabrina Freund: Das waren keine Geistlichen, die bei der Anstalt angestellt waren, sondern die Pfarrer der jeweiligen Gemeinden. Neben dem Direktionsgebäude befindet sich die katholische Herz-Jesu-Kirche. Deren Pfarrer war dann jeweils der katholische Anstaltsgeistliche, weil er auch die direkte Nähe hatte. Eugen Buck oder Wilhelm Berger waren beispielsweise ganz gewöhnliche Pfarrer ihrer Gemeinden und hatten in der Anstalt in erster Linie Gottesdienste gehalten. Ein Pfarrer war praktisch auch eine Amtsperson in dieser Zeit. Die Geistlichen wussten natürlich dann auch, was in der Anstalt geschieht, sie haben die Menschen gesehen, die verhungerten.

Karl-Heinz Leven: Aber noch einmal: tatsächlicher Widerstand war im Nationalsozialismus sehr gefährlich. Und die Beispiele, die wir kennen, endeten meistens unter dem Fallbeil. Es sind auch Pfarrer ins KZ gekommen, wenngleich kein Bischof dort umkam.

Gab es wenigstens Stimmen einzelner Geistlicher, die sich gegen dieses Unrecht erhoben?

Karl-Heinz Leven: Ein Beispiel ist Clemens August Graf von Galen, damals Bischof von Münster, einer Hochburg des Katholizismus. Er hat im August 1941 öffentlich in der Lambertikirche von der Kanzel gegen die NS-"Euthanasie" gepredigt und sie "Mordaktion" genannt. Das war singulär, denn er bezeichnete die Aktion damit als das, was sie wirklich war, womit er das Regime gegen sich aufbrachte. Man hat dennoch vorerst nicht gewagt, ihn anzugreifen, das hatten sich die Obrigkeiten für die Zeit "nach dem Endsieg" aufgespart. Ihnen war klar, wenn sie von Galen aus Münster abführen würden, riskierten sie tatsächlich ausnahmsweise eine öffentliche Reaktion, die das Regime nicht wollte, weil man die Krankentötungen als Geheimaktion durchführen wollte.

Eine geheime Aktion, allerdings mit vielen tausenden Mitwissern?

Karl-Heinz Leven: Auch das ist eine merkwürdige Gegebenheit, da alleine der Stab der verschiedenen beteiligten Organisationen schon viele hundert Leute umfasste und die Aktion somit gar nicht geheim bleiben konnte. Sie wurde trotzdem inoffiziell durchgeführt, da die Tötungen eigentlich gegen das geltende Recht des NS-Staates verstießen.

Wie meinen Sie das?

Karl-Heinz Leven: Die Krankenmorde beruhten nicht auf einem Gesetz, sondern auf einem Führerbefehl, eigentlich einem Ermächtigungsschreiben. Den Beteiligten wurde suggeriert, dass die Maßnahmen rechtlich abgesichert seien, der Wille des Führers stand sozusagen über dem Gesetz. Aber es gab kein Gesetz, und deshalb konnte man auch nicht offen darüber sprechen, auch nicht vor denen, die derartige Krankentötungen befürworteten. Nur selten hat man im internen Schriftverkehr von "Euthanasie" gesprochen, es wurden vielmehr Tarnbegriffe verwendet, wie "Sonderbehandlung" oder "Kinderfachabteilung", da auch im Nationalsozialismus die Tötung - selbst auf Verlangen - ein strafrechtliches Delikt war. Das Ermächtigungsschreiben des Führers wurde nicht verbreitet, es gab lediglich drei Exemplare, davon ist ein Exemplar erhalten. Der Justizminister Franz Gürtner hatte aufgrund einer Beschwerde ein Exemplar ausgehändigt erhalten. Gürtner war zwar ein NS-treuer Jurist, hatte aber dennoch einen Berufskodex: Wird ein Todesurteil gefällt, müsse dieses auf gesetzlicher Grundlage erfolgen. Dass Menschen ohne Gesetzesgrundlage umgebracht werden, war nicht in seinem Sinne.

Und mit diesem Ermächtigungsschreiben des Führers gaben sich die Richter dann zufrieden?

Karl-Heinz Leven: Vordergründig schon. Bis auf den Richter Lothar Kreyssig. Er fragte 1941 am Justizministerium in Berlin an, da er wegen häufiger Todesfälle unter seinen gesetzlichen Mündeln skeptisch wurde. Vom berüchtigten Roland Freisler, seinerzeit Staatssekretär im Justizministerium, bekam er als Antwort, verantwortlich sei Philipp Bouhler, damals die rechte Hand Hitlers und Leiter der Kanzlei des Führers. Freisler empfahl Kreyssig sogar, Bouhler wegen Mordes anzuzeigen. Kreyssig hakte dann bei Justizminister Gürtner nach, der auf dem Ermächtigungsschreiben vermerkte: "von Bouhler mir übergeben am 27. August 1941". Zu diesem Zeitpunkt lief die "Aktion T4" schon zwei Jahre. Kreyssig entgegnete, diese Grundlage und Maßnahmen seien für ihn als Juristen nicht akzeptabel. Gürtner war jedoch der Meinung, der Führer stehe über dem Gesetz und ihm als Justizminister reiche das Schreiben aus. Dieses Dokument zeigt ebenfalls, wie das Regime arbeitete und dass es "konkurrierende Hierarchien", untereinander rivalisierende Bestrebungen gab. Es ist letztlich nie zu einem "Euthanasie"-Gesetz gekommen, das man hätte veröffentlichen müssen. Hiervor scheute Hitler zurück.

Hungerkost, Malariakur oder Dauerbäder sind im Buch erklärte Maßnahmen oder Anwendungen, die regelmäßig stattfanden. Das klingt heutzutage alles unmenschlich. War die Ärzteschaft bis zum Pflegepersonal eigentlich davon überzeugt, dass diese Dinge zu irgendeinem therapeutischen Zweck dienen oder war jedem bewusst, hier hat man es mit reiner Schikane zu tun?

Karl-Heinz Leven: Da muss man differenzieren. "Hungerkost" ist in der Tat keine medizinische Maßnahme, sondern ist ein Tarnbegriff für eine Methode, Patienten umzubringen, und zwar auf eine langsame und quälende Art. Diese Vorgehensweise während der sogenannten "dezentralen Euthanasie" war nach der Einstellung der "Aktion T4" durch einen staatlichen Erlass im bayerischen Innenministerium entsprechend geregelt. Einige der erwähnten Therapieverfahren hören sich vielleicht aus heutiger Sicht grausam an, doch das waren innovative Verfahren der Psychiatrie. Für die Malaria-Therapie der "progressiven Paralyse", einer Folgeerkrankung der Syphilis, erhielt Julius Wagner-Jauregg 1927 den Medizin-Nobelpreis. Dieser österreichische Arzt hat das Verfahren entwickelt, in dem man durch die Injektion von Malariaerregern ein künstliches Fieber erzeugt. Diese "Kur" machte plötzlich die Spätformen der Syphilis behandelbar. Bei den Therapieformen muss man noch die Elektrokrampftherapie erwähnen, die erst in den 1930er-Jahren erfunden wurde. Dabei wurde der Kopf einer starken Stromspannung ausgesetzt. Dass man damals bei der Anwendung dieser Verfahren auch rücksichtslos war, dass man die Therapie etwa nicht dreimal, sondern 20 mal angewandt hat und auch Menschen dabei gestorben sind, ist eine andere Frage. Aber die Therapieformen waren nicht paramedizinisch, das war "state of the art".

Sabrina Freund: Ich glaube, dass manche wirklich das Gefühl hatten, etwas Sinnvolles zu tun, weil sich die Medizin damals anders verstanden hat, da der "Volkskörper" im Mittelpunkt stand und es galt, den "Volkskörper" zu heilen. Dies ist auch der Hintergrund der Eugenik oder "Rassenhygiene", wie sie in Deutschland genannt wurde. Es gab jedoch natürlich in den Prozessen dann einige Zeugen, die aussagten, sie wären nur beteiligt gewesen, um Schlimmeres zu verhindern oder die Maßnahmen zu sabotieren. Aber dafür muss man natürlich von der Durchführung der Maßnahmen auf jeden Fall Kenntnis gehabt haben. Dass man als Mitarbeiter der Anstalt nichts davon wusste, ist somit nur schwer vorstellbar. Doch viele Beteiligte und Mittäter waren keine außergewöhnlichen Sadisten, die gerne Menschen quälten. Das macht die Sache selbstverständlich nicht besser, es waren oftmals kühle, rationale Menschen, gerade in den leitenden Funktionen.

Was vielleicht auch erklärt, dass die Patientenakten sehr gut dokumentiert und aufgehoben wurden, statt die Geschehnisse verschleiert?

Sabrina Freund: Genau. Aus allen Anstalten wurden Meldebögen an die T4-Zentrale in Berlin geschickt, Tiergartenstraße 4. Für jeden Patienten in einer Heil- und Pflegeanstalt wurde ein Bogen ausgefüllt, u.a. mit Religion, Arbeitsfähigkeit, Diagnose und weiteren Kriterien. Am unteren Ende des Bogens befand sich ein eingerahmtes Feld. Dort haben die Gutachter, also Universitätspsychiater beispielsweise, ein Plus oder ein Minus vermerkt. Das Pluszeichen stand dabei für die Tötung. Dahinter steckt eine Ideologie, die schon in den 1920er-Jahren Fuß fasste und sich mit der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" auseinandersetzte. Das ist der Titel einer Broschüre, die –unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs – in die ärztliche und weitere Öffentlichkeit gegeben wurde. Der Krieg stellte einen Umschlagpunkt zur Radikalisierung dieser Gedanken dar. Angesichts der Wirtschaftskrise, der vielen jungen Kriegsgefallenen und der Inflation wollte man es sich nicht mehr leisten, die Erkrankten in den Anstalten zu ernähren. Im Nationalsozialismus wurde dieses Gedankengut in die Staatsideologie integriert und fand in der Medizin willfährige Geister zur praktischen Umsetzung.

Warum wurde die "Aktion T4" dann 1941 gestoppt?

Sabrina Freund: Im Sommer 1941 hatte man eine gewisse Sollzahl erreicht, zirka 70.000 Tötungen. Man ist dann zur sogenannten "dezentralen Euthanasie" übergegangen. In dieser regional organisierten Phase wurden die Patienten in den Anstalten selbst mit Hungerkost, systematischer Vernachlässigung oder Überdosierung von Medikamenten getötet, sie wurden nicht mehr in die Tötungsanstalten verschickt. Im Sommer 1941 begann auch der Krieg gegen die Sowjetunion. Das Personal und das Wissen für die Umsetzung von Massenmorden, um das mal etwas makaber so zu nennen, wurde nach Osten verlagert für den Holocaust. Da gibt es eine personelle, strukturelle und auch materielle Kontinuität von der Krankenvernichtung zur Judenvernichtung.

Karl-Heinz Leven: Außerdem war es mittlerweile durchgesickert, auch zu Angehörigen, dass in den Anstalten ungeheure Dinge geschahen. Es wurden falsche Totenscheine ausgestellt und Sterbeurkunden ausgetauscht mit anderen Tötungsanstalten. Manchmal haben in sehr kleinen Dörfern mehrere Familien am gleichen Tag eine Todesmitteilung bekommen. Oder bei Kindern stand dann darauf, dass sie an Altersschwäche gestorben seien, weil man sich Todesursachen ausgedacht hatte. Es war irgendwann durchgedrungen und keine Geheimaktion mehr. Dadurch kam es zu Unmut. Im direkten Umfeld der Tötungsanstalten konnten die Menschen den Rauch aus den Verbrennungsöfen wahrnehmen.

Außerdem rebellierten immer mehr Angehörige. Der Unmut war im Gegensatz zum Holocaust auch deswegen größer, weil diese Tötungen im Prinzip jeden – auch "Arier" – treffen konnten: die demente Großmutter, das taube Kind oder einen Kriegsversehrten aus dem Ersten Weltkrieg.

Sie haben jetzt den ersten von zwei Bänden vorgelegt, in denen die Erlanger Euthanasie-Geschichte aufgearbeitet wird. Sind Sie Pioniere?

Sabrina Freund: Nein. Die früheste Beschäftigung mit dem Thema gab es schon unmittelbar nach dem Krieg. Erste Versuche der Aufarbeitung sind dann aber recht bald versandet. Erst in den 1980er-Jahren beginnt die kritische Auseinandersetzung mit der "Euthanasie". Das hat also eine ganze Generation gedauert. Wir haben den ersten Band "Ereignis und Geschichte" genannt, der zweite beschäftigt sich dann mit der Rezeption.

Warum sollte man sich auch heute noch mit diesem Thema beschäftigen?

Sabrina Freund: Unsere Arbeit soll zum Nachdenken anregen, welche Rolle die Wissenschaften in der Gesellschaft spielen, auch in der Gegenwart. Es gilt, darüber nachzudenken, wie man in seiner eigenen Zeit mit der Wissenschaft umgeht. Gibt es heute politische Einflussnahme auf die Medizin? Gesundheitspolitik einer Extremvariante gab es im Dritten Reich, aber wie sieht es in der Gegenwart mit dem Bündnis von Staat und Medizin aus?

Karl-Heinz Leven: Wir sind heute, Gott sei Dank, sehr weit entfernt vom Totalitarismus der NS-Zeit; gleichwohl muss man immer wachsam sein hinsichtlich der Entwicklungen von Gesellschaft, Politik und Wissenschaften. Die Medizin mit ihrer überragenden Bedeutung in der Moderne hat sich als anfällig für Ideologien erwiesen. 

Vor dem Verwaltungsgebäude der ehemaligen »Kreisirrenanstalt«, heute Kaufmännische Direktion des Uni-Klinikums Erlangen, steht ein Gedenkstein für die von den Nazis Ermordeten der »Hupfla«.
Vor dem Verwaltungsgebäude der ehemaligen »Kreisirrenanstalt«, heute Kaufmännische Direktion des Uni-Klinikums Erlangen, steht ein Gedenkstein für die von den Nazis Ermordeten der »Hupfla«.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden