Vor einer Woche ist die ForuM-Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche vorgestellt worden. Ein Befund der Forscher lautet: Die mangelnde Fehlerkultur der evangelischen Kirche und die "Annahme eines scheinbaren Automatismus von Schuld und Vergebung" nach Fehlverhalten begünstigen Missbrauch. Ein Gespräch des Sonntagsblatts mit Friederike Funk, Professorin für Sozialpsychologie mit Schwerpunkt Rechtspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, über persönliche und kollektive Schuld, die Bedingung fürs Vergeben und ritualisierte Formen der Abbitte.

"Bei Entschuldigungen ist es wichtig, dass sie als authentisch und als ehrlich wahrgenommen werden."

Frau Funk, wie funktioniert das mit der Schuld und dem Entschuldigen?

Friederike Funk: Die sozialpsychologische Forschung zur Entschuldigung zeigt insgesamt deutlich, dass es nicht nur um die Äußerung "Es tut mir leid" geht, sondern darum, was der Empfänger oder die Empfängerin dabei hört und empfindet. Bei Entschuldigungen ist es wichtig, dass sie als authentisch und als ehrlich wahrgenommen werden, damit sie positiv und nicht negativ wirken.

Gibt es einen Mechanismus vom "schuldig werden" und "entschuldigen"?

Wir haben alle ein Muster im Kopf, wie das zwischenmenschlich normalerweise abzulaufen hat. Wenn jemand etwas falsch gemacht hat, wollen wir, dass er sich entschuldigt. Und dann rechnen wir damit, dass der Geschädigte damit zufrieden ist und vergibt. Der Täter sagt, dass es ihm leidtut, das Opfer nimmt die Entschuldigung an, so ist die Erwartung. Aber diese Entscheidung liegt absolut bei den Betroffenen.

Den Mechanismus von Entschuldigen und Vergeben bringt man schon Kindern beim Sandkastenstreit bei. Kann einen das als Erwachsenen bei der Bewältigung von erfahrenem Unrecht behindern?

Es gibt in der Sozialpsychologie tatsächlich Befunde, die zeigen, dass sich Täter wie Opfer fühlen, wenn ihnen nach einer Entschuldigung nicht vergeben wird. Diese Erwartungshaltung setzt Opfer zusätzlich unter Druck. Zu erwarten, dass das Unrecht nach einer Entschuldigung erledigt sein muss, ist aber eine furchtbare Botschaft. Die Tat hat ja stattgefunden, die Welt hat sich für das Opfer verändert, es ist nicht plötzlich wieder alles gut. Mit Glück hat sich vielleicht die Gesinnung des Täters geändert. Die Wahrnehmung von echter Reue tut Opfern gut. Dennoch entscheidet das Opfer, wann und ob es vergibt. Dies kann rational eine bewusste Entscheidung sein oder ein emotionaler, sich entwickelnder Prozess. So oder so ist Vergebung immer ein Geschenk. Geschenke kann man dankend annehmen, aber man kann sie nicht einfordern.

"Ist die Reue wirklich echt?"

Gibt es so etwas wie institutionelle oder kollektive Schuld?

Auf jeden Fall. Auch kollektive Entschuldigungen kennen wir, zum Beispiel in der Politik, wenn zwischen Ländern Konflikte herrschen und sich Politiker für ihr Land oder ihre Gruppe entschuldigen. Auf Seiten der Betroffenen gibt es dabei mindestens zwei Fragen: Ist die Reue wirklich echt? Und kann die Person, die sich entschuldigt, wirklich für ihre ganze Gruppe sprechen? Auch hier gilt, dass diejenigen, die sich entschuldigen, nicht erwarten können, dass ihre Entschuldigung direkt angenommen wird.

Wie kann eine Organisation mit einer kollektiven Schuld konstruktiv umgehen?

In so einem Fall fühlt sich das Opfer nicht nur vom Täter, sondern auch von der Organisation betrogen oder ungerecht behandelt. Aus sozialpsychologischer Sicht ist es wichtig, dass die Opfer den Kulturwandel merken: Die ganze Organisation hat wirklich verstanden, was falsch gelaufen ist, sie möchte nicht nur das unschöne Thema schnell wieder loswerden. Idealerweise erfährt ein Opfer Wertschätzung seitens anderer Organisationsmitglieder. Das Opfer muss sich in seinen Bedürfnissen gesehen fühlen und darin bestätigt, wie es die Situation wahrgenommen hat.

Sie haben das Stichwort Reue genannt. Wie kann eine Organisation glaubhaft Reue zeigen?

Die Verantwortlichen, die Reue zeigen sollen, sind zugleich Teil der Organisation, die sie selbst gerne im guten Licht sehen möchten. Es reicht dennoch nicht, zu sagen: Das hätte nicht passieren dürfen. Sondern es braucht die klare Ansage, was genau künftig anders läuft. Eine aufrichtige Entschuldigung muss mit einer Verhaltensänderung einhergehen. Im Fall einer Organisation müssen sich Strukturen ändern, damit idealerweise niemand zum Opfer werden kann. Die Opfer müssen in den Wiedergutmachungsprozess absolut und auf Augenhöhe mit einbezogen werden, wenn sie es möchten. Die Organisation verhandelt in einem solchen Prozess ihr neues Selbstbild und ihre angestrebten Gruppenwerte.

"Aus der Opferperspektive sind das keine Entschuldigungen."

Wenn man bei Verabschiedungen von Funktionsträgern der evangelischen Kirche oder der Diakonie ist, hört man oft eine Art ritualisierte Entschuldigungsformel: Man bitte alle Menschen, denen man während seiner Amtszeit nicht gerecht oder an denen man schuldig geworden sei, um Vergebung. Was bringt so eine öffentliche Abbitte?

Aus der Opferperspektive sind das keine Entschuldigungen. Eine Entschuldigung lautet nicht: "Es tut mir leid, falls dich etwas verletzt hat." Inhaltlich muss klar sein, dass ein Täter anerkennt und weiß, womit er wen verletzt hat - das wäre bei so einer Abschiedsformel schon mal nicht möglich. Bei einer Entschuldigung ist es für ein Opfer wichtig, dass Täter und Opfer eine gemeinsame Realität teilen. Die Wahrnehmung des Opfers wird vom Täter bestätigt: "Du hast recht, wie du die Sache siehst. Das war falsch von mir." Damit bekräftigt der Täter die Handlungskontrolle des Opfers. Bei einer Entschuldigungsfloskel fehlt die zentrale Komponente von Entschuldigung: die authentische Reue.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden