Mal schauen, wer heute zu Besuch gekommen ist, um in Hohenroth einen Café latte oder einen Bio-Apfelsaft zu trinken. Mal schauen, wer heute arbeitet. Dort, wo man selbst mal tätig war. Wie schön, dass es möglich ist, zu bleiben! 24 Männer und Frauen aus der SOS-Dorfgemeinschaft Hohenroth (Kreis Main Spessart) mit einer geistigen Behinderung haben dieses Glück: Sind sie alt, müssen sie nicht ins Pflegeheim. Dank einer 2021 eröffneten WG dürfen sie dort bleiben, wo seit 1978 gemeinsam gelebt und gearbeitet wird.

Barrierefreies Wohnprojekt mit Tagesstruktur

In der eigenen Molkerei zum Beispiel entstehen Joghurt und Frischkäse. In der Holzwerkstatt wird Spielzeug gefertigt. Aus der Bäckerei duftet es nach Brot und Kuchen. Ein Großteil der mehr als 160 Bewohnerinnen und Bewohner arbeitet in einem dieser Bereiche. Inzwischen gibt es aber immer mehr Ältere, die kaum noch oder nicht mehr arbeiten können. Für sie wurde ein barrierefreies Wohnprojekt mit Tagesstruktur geschaffen:

"Und zwar deshalb, weil sich die Bewohner das wünschten", sagt Mario Kölbl, Leiter der SOS-Dorfgemeinschaft.

Da ist zum Beispiel Arthur, 61 Jahre alt, der wegen einer Eisenspeicherstörung, Bluthochdruck und Diabetes inzwischen nicht mehr so fit ist wie noch vor zehn Jahren. Liebend gern streift der Bewohner des "Zentrums" über das Areal der Dorfgemeinschaft. Manchmal schaut er in den Werkstätten vorbei, um sich mit einstigen Arbeitskollegen auszutauschen. Auch dem Kuhstall, wo er früher tätig war, stattet er gerne Besuche ab. "Ich lebe hier seit 42 Jahren", sagt er. "Schrecklich" wäre es gewesen, hätte er nun im Alter weggehen müssen.

Menschen mit Behinderung wollen oft vertraute Umgebung

Arthur braucht mehr Unterstützung als früher. Früher lebte er in einer Hausgemeinschaft, wie man es aus den SOS-Kinderdörfern kennt. Doch irgendwann wurde sein Unterstützungsbedarf für die Hauseltern zu groß. So zog er ins "Zentrum", wie die neue Einrichtung schlicht genannt wird. Bei einer Bewohnerversammlung 2016 wurde der Wunsch geäußert, in Hohenroth eine Einrichtung für Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf zu schaffen. Nur wenig später war dann Baubeginn für das "Zentrum", das 7,2 Millionen Euro gekostet hat.

Wer - im Sinne der völligen Inklusion - kompromisslos die sofortige Auflösung aller Zentren für Menschen mit einer Behinderung fordert, übersieht laut Kölbl den gravierenden sozialen Aspekt bei dem Thema: Menschen mit Behinderung möchten oftmals einfach nicht aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden. Der Einrichtungsleiter hatte in den vergangenen Jahren mehrmals erlebt, wie fürchterlich es für die Bewohner war, wegen Hilfsbedürftigkeit in ein fremdes Altenheim zu kommen:

"Das waren oft herzzerreißende Szenen."

Für den "Zentrums"- Neubau musste lediglich ein Kuhstall weichen, erläutert der Einrichtungsleiter. Nach dessen Abriss war im Herzen der Dorfgemeinschaft genug Platz für das neue Projekt. Niemand spricht von "Altenheim", sagt Kölbl: "Unser Zentrum ist gedacht für Menschen, die noch etwas vorhaben." So wie "Nesthäkchen" Frank. Der junge Mann mit Down-Syndrom ist gerade mal 43. "Frank ist ein Einzelgänger", sagt "Zentrums"-Mitarbeiterin Judith Herget. Das Gemeinschaftsleben bei den Hauseltern hatte ihn überfordert, also zog er ins "Zentrum".

Pflege steht nicht im Mittelpunkt

Im "Zentrum" gibt es mehrere Pflegekräfte. Insgesamt allerdings besteht das 18-köpfige Team aus einem bunten Mix. Die Pflege steht nicht im Mittelpunkt. Vorrangig geht es um die Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Dafür sorgen Erzieherinnen und Heilerziehungspfleger. Wobei viele Bewohner noch sehr selbstständig sind. Wenn sie Lust auf einen Cappuccino haben, spazieren sie einfach ins dorfeigene Café, wo sie dann auswärtige Gäste treffen. Einige lieben es, sich etwa im Dorfladen mit Leckereien einzudecken.

Anders als in Pflegeheimen, wo viele Senioren bettlägerig sind, ist im Augenblick nur einer der 24 Männer und Frauen nicht mobil. Die Bewohnerschaft ist vergleichsweise jung, Marietta mit 76 die Älteste. "Allerdings ist es so, dass die Menschen stärker nachlassen, als wir das gedacht hatten", sagt Kölbl. Zuletzt habe sich gezeigt, dass nicht alle Bewohner - so wie etwa Arthur - täglich durch die Dorfgemeinschaft streifen oder sonst etwas unternehmen möchten. Einige der Männer und Frauen haben am liebsten einfach nur ihre Ruhe, weiß Kölbl.

Während es für Pflegeeinrichtungen dieser Tage ein Riesenglück bedeutet, alle Stellen besetzen zu können, hatte Kölbl keine Probleme, Fachkräfte anzuheuern. Krankenschwester Judith Herget zum Beispiel kam zu ihrem neuen Job, weil sie vor einigen Jahren acht ältere Bewohner einer Hohenroth-Außenstelle kennenlernte. Damals hatte sie noch in einer Sozialstation gearbeitet. Herget schloss die Menschen sofort ins Herz. Als sie gefragt wurde, ob sie im "Zentrum" arbeiten will, brauchte es nur eine kurze Bedenkzeit. Und sie sagte zu.

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