Alkohol wird zu den unterschiedlichsten Anlässen getrunken. In Gesellschaft oder auch allein zu Hause. Peter Heepe, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg, erklärt, ab wann Alkoholkonsum gefährlich wird, wie Betroffene ihre Sucht verstecken und welche Folgeschäden auftreten können. Er sagt, Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit, die grundsätzlich jeden, der Alkohol konsumiert, treffen kann.

"Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit ist, die grundsätzlich jeden, der Alkohol konsumiert, betreffen kann."

Herr Dr. Heepe, Alkohol ist eine gesellschaftlich anerkannte Droge. Bei sozialen Veranstaltungen ist sie häufig fester Bestandteil. Halten Sie Verharmlosung von Alkohol für ein Problem?

Peter Heepe: Der Genuss von Alkohol ist in unserer Gesellschaft kulturell akzeptiert und ist bei bestimmten geselligen Anlässen wie Geburtstagen, Jahreswechseln, Jubiläen oft auch eine Selbstverständlichkeit. Es besteht dabei die Erwartung, den Alkoholkonsum jederzeit willentlich kontrollieren zu können. Die Alkoholkrankheit hingegen, die unter anderem gerade durch den Verlust dieser Kontrolle gekennzeichnet ist, wird stigmatisiert, dabei eben häufig gar nicht als Krankheit wahrgenommen, sondern mit negativen persönlichen Attributen wie Willensschwäche oder Haltlosigkeit belegt. Die Gefahr der Verharmlosung besteht meiner Einschätzung nach genau darin, dass Kontrollverlust beim Alkoholkonsum stigmatisiert wird. Die Vorstellung, dass Alkoholabhängigkeit eine Krankheit ist, die bestimmte Merkmale hat und die grundsätzlich jeden, der Alkohol konsumiert, betreffen kann, hat sich noch nicht grundlegend durchgesetzt. Kriterien, die frühzeitig auf einen problematischen Konsum hinweisen könnten, sind daher oft nicht geläufig und werden übersehen.

Viele Menschen mit einem Alkoholproblem funktionieren weiterhin auf der Arbeit und im Familienalltag. Wie gelingt es ihnen, ihren Konsum selbst vor ihren engsten Angehörigen zu verstecken?

Alkoholkonsum unterliegt in der Familie und am Arbeitsplatz einer sozialen Kontrolle. Der Alkoholkranke muss daher, wenn er noch über ein funktionierendes soziales Umfeld verfügt, zunehmend Energie und Zeit aufwenden, um seinen Konsum zu verheimlichen, Verstecke organisieren, Zeiten und Orte finden, um unentdeckt Alkohol zu besorgen, Konsumzeiten organisieren, um nicht alkoholisiert aufzufallen. Je schwieriger dies wird, umso mehr wird er sich sozial zurückziehen. Viel hängt natürlich auch vom Verhalten des sozialen Umfeldes ab, ob Warnsignale wahrgenommen oder ausgeblendet werden, ob ein Klima herrscht, in dem Probleme vertrauensvoll angesprochen werden können. Partnerbeziehungen können unter Umständen in eine Eskalationsspirale geraten, in der der abstinente Partner immer kontrollierender wird und der konsumierende Partner immer mehr Energie in die Verheimlichung steckt.

Wie können Betroffene und Außenstehende einen normalen Alkoholkonsum von einem bedenklichen oder gar gefährlichen unterscheiden?

Heepe: Die Unterscheidung eines unbedenklichen Alkoholkonsums von einem problematischen ist nicht immer einfach. Grundsätzlich ist Vorsicht geboten, wenn der Konsum nicht mehr ausschließlich dem Genuss dient, sondern eine andere Funktion übernimmt. Das kann sein, nach einem anstrengenden Tag abzuschalten, zur Ruhe zu kommen oder nicht mehr über Probleme nachdenken zu müssen. Als Warnsignale gelten Rückmeldungen von Angehörigen, eine verminderte berufliche Leistungsfähigkeit oder Änderungen von Lebensgewohnheiten, wie das Vernachlässigen von Hobbys, ein sozialer Rückzug. Dringende Warnsignale sind auch Heimlichkeit beim Trinken, Zunahme der erforderlichen Trinkmenge, um den gewünschten Effekt, zum Beispiel das Abschalten zu erzielen, Fortsetzung des Trinkverhaltens, obwohl man die dadurch eingetretenen Nachteile sieht und aufhören möchte.

"Bei einem Konsum dieser Größenordnung ist langfristig von einem deutlich erhöhten Risiko für gesundheitliche Folgeschäden auszugehen."

Ganz konkret: Ab welcher Trinkmenge wird es problematisch?

Auf die Trinkmenge bezogen, gehen Experten von einem riskanten Alkoholkonsum aus, wenn Männer regelmäßig mehr als 24 Gramm Alkohol täglich konsumieren. Bei Frauen liegt die Grenze bei 12 Gramm. Zur Veranschaulichung: Ein halber Liter Bier oder ein kleines Glas Wein oder Sekt entsprechen in etwa 20 Gramm Alkohol. Bei einem Konsum dieser Größenordnung ist langfristig von einem deutlich erhöhten Risiko für gesundheitliche Folgeschäden auszugehen.

 Sie arbeiten in Ihrer Funktion als oberärztlicher Leiter des Alkoholentzugs in Nürnberg täglich mit Menschen zusammen, die an einer Alkoholsucht leiden. Welche Folgeschäden beobachten Sie häufig?

Zu möglichen Folgeschäden zählen Erkrankungen wie Leberzirrhose, Fettleber sowie Entzündungen der Bauchspeicheldrüse und der Magenschleimhaut. Auch neurologische Folgen wie Störungen der Sensibilität und der Motorik sowie Schädigungen des Zentralnervensystems können auftreten. Als typische psychiatrische Begleiterkrankungen gelten Depressionen, Angst- sowie Persönlichkeitsstörungen. Darüber hinaus treten gravierende soziale Folgeschäden auf: Partnerbeziehungen zerbrechen, Kinder gehen auf Distanz, es kommt zum Verlust des Führerscheins, des Arbeitsplatzes oder der Wohnung.

Welchen Einfluss hatte die Corona-Pandemie auf Betroffene? Konnten Sie einen gravierenden Zuwachs an Betroffenen während der Pandemiezeit erkennen?

Während der Pandemiezeit bestand insbesondere während der Lockdowns der Eindruck, dass die Betroffenen deutlich weniger Kontakt zum Hilfesystem hatten. Die Angebote von Ambulanzen oder Beratungsstellen waren zumeist auf Online-Kontakte beschränkt, viele Betroffene scheuten die Klinikaufnahme zur Entgiftung aus Angst vor Ansteckung. Aufgrund von Covid-Ausbrüchen mussten auch des Öfteren stationäre Behandlungsangebote vorübergehend geschlossen werden. Diese Einschränkungen in der Versorgung – und die soziale Isolation – führten vor allem bei vielen schon zuvor gefährdeten Menschen zu einer Zunahme des Alkoholkonsums, wie verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen zeigen. Auch in einer eigenen Untersuchung, die wir am Klinikum Nürnberg zusammen mit dem Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim durchgeführt haben, konnte eine Zunahme des Alkoholkonsums während der Lockdown-Phase gezeigt werden, vor allem bei Menschen mit starken Covid-assoziierten Ängsten.

"Grundsätzlich ist die Prognose umso günstiger, je früher therapeutische Hilfe in Anspruch genommen wird."

Welche Personengruppe ist besonders gefährdet?

Gesundheitlich besonders gefährdet sind oft Menschen, bei denen die Alkoholkrankheit über viele Jahre sozial unauffällig verläuft, da beim ärztlichen Erstkontakt häufig schon erhebliche Organschäden eingetreten sein können. Grundsätzlich ist die Prognose umso günstiger, je früher therapeutische Hilfe in Anspruch genommen wird. Große Bedeutung kommt hier den Hausarztpraxen zu, die in der Regel die erste ärztliche Anlaufstelle für Menschen mit Alkoholproblemen sind. Viele Betroffene tun sich aus Sorge um die damit möglicherweise verbundene Stigmatisierung schwer, weiterführende Hilfsangebote in psychiatrischen Kliniken oder Suchtfachkliniken wahrzunehmen. Aus diesem Grund haben wir in Altdorf vor 17 Jahren das Konzept einer qualifizierten Entzugsbehandlung an einer medizinischen Klinik in Kooperation mit einer psychiatrischen Klinik entwickelt.

 Worin besteht der Vorteil einer Behandlung in einer medizinischen Klinik?

Für die Betroffenen ist das Angebot der Entzugsbehandlung in einer medizinischen Klinik mit deutlich weniger Schwellenangst verbunden, das Behandlungsmilieu wird als angenehm empfunden. Von psychiatrischer Seite werden in diesem Rahmen grundlegende Informationen über die Suchterkrankung und bestehende Behandlungsmöglichkeiten vermittelt, Veränderungsbereitschaft und die Motivation zur Wahrnehmung weiterführender Hilfsangebote werden gefördert und auf Wunsch auch direkte Kontakte zu Suchthilfeangeboten vor Ort hergestellt.

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