So möchte ich auf keinen Fall werden

Ein Abend vor wenigen Wochen, als es mal angenehm warm war. Ich liege schon in den Federn, genieße die Ruhe, lausche dem Wind und schau mir den Ahorn an vor dem nachtblauen Himmel.  Und da geht’s wieder los: lautes Geräber vom Nachbarbalkon. Das muss die neue WG sein in dem Haus, wo die ganzen Studenten wohnen. Jetzt auch noch Musik, irgendso ein modernes Zeug. Aus ist es mit der Ruhe und der Gemütlichkeit. Und das schon die dritte Nacht in Folge! Tiefe Männerstimmen und dazwischen immer wieder ein helles Kichern; der Hinterhof tut sein Bestes, um die Partyunterhaltung auf dem sommerlichen Balkon noch zu verstärken. Ich drehe mich und wälze mich. Das ist echt dreist! Ich stehe auf und gehe auf unseren Balkon: Soll ich rüberschreien: RUHE! Ich lass es, schließe das Schlafzimmerfenster und ärgere mich leise aber ausdauernd vor mich hin.

 In letzter Zeit beobachte ich etwas an mir, liebe Leserinnen und Leser, was mir neu ist: ich will, dass es ordentlich und ruhig zugeht, so wie ich es mir vorstelle. Und dann weiß ich ganz genau, was sich gehört und wie man sich zu verhalten hat: ich spreche Falschparker an, schimpfe über die E-Roller auf dem Gehweg und hab null Verständnis für die feiernde WG und vergesse vollkommen, dass ich auch mal in WGs gelebt und auf dem Balkon gefeiert habe. Gehöre ich jetzt auch zu denen, die über die "Jugend von heute" schimpfen und denken, dass früher alles besser war?! 

Udo Jürgens erzählt eine ähnliche Geschichte wie meine, in seinem Song vom ehrenwerten Haus, nur aus der anderen Perspektive... Oh Mann! So möchte ich auf keinen Fall werden: die Mutter, die den Hund verwöhnt und darüber das eigene Kind vergisst; die Frau, die verhindert, dass ein Schwarzer einzieht; der Alte, der dauernd ungefragt erklärt, was hier im Haus verboten ist und der die Falschparker anzeigt. Und diese Heuchler, fragt sich Udo Jürgens am Ende des Songs, diese Heuchler schämen sich für ein junges Paar ohne Trauschein!? Klar, dass die beiden ausziehen.

Heute ist ein unverheiratetes Paar sicher kein Aufreger mehr wie 1975, als das Lied entstand. Aber das Thema "wer gehört dazu", das haben wir immer noch. Wer sich nicht so verhält, wie es mir passt oder wie es vermeintlich richtig ist und wer nicht so aussieht wie ich oder sich so kleidet, wie alle, der oder die gehört nicht dazu. Und das lassen wir sie auch spüren, mehr oder weniger subtil, mehr oder weniger bewusst. Bestimmt auch, weil wir vieles so verinnerlicht haben, denke ich. Man wächst ja mit bestimmten Regeln und Konventionen auf, manche lehnt man ab, manche verstärken sich im Lauf des Lebens, und manche übernimmt man widerwillig, weil man sich und andere schützen will vor solchen Typen wie aus dem Lied von Udo Jürgens.

Als mein Neffe fünf Jahre alt war, hatte er ein absolutes Faible für die Farbe Rosa! "Rosa ist meine Lieblingsfarbe" erklärte er jedem, ob der es hören will oder nicht. Rosa Stifte, rosa Spielzeug, rosa sollen die Gummistiefel sein, die er für den Kindergarten braucht. Seine Mutter hat ihn dann beim Kauf sanft dazu gebracht, doch lieber die etwas dunkleren zu nehmen. Sie wollte ihn davor schützen, NICHT mehr dazuzugehören. Man kann sich ja denken, was für Witze schon Kinder machen, wenn ein Junge auf rosa steht. Nicht dazu zugehören kann weh tun.

Was Besonderes und was Besseres

Die Geschichte aus dem Lukasevangelium, die Sie gleich hören, erzählt von erwachsenen Menschen, die auch dazugehören wollen.  Zwei Männer gehen zum Tempel, weil sie beten wollen, weil sie Gott nahe sein wollen, irgendwie dazugehören. Vielleicht wollten Sie das heute morgen auch, liebe Leserinnen und Leer, und haben deshalb diesen Artikel aufgerufen: Weil Sie dazugehören wollen - zur Online-Gemeinde, zur Kirche, zu Gott. 

Jesus erzählt: Zwei Männer gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine war ein Pharisäer und der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stellte sich selbstbewusst hin und betete zu sich selbst: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen – ich bin kein Räuber, kein Betrüger und kein Ehebrecher, und ich bin auch nicht wie jener Zöllner dort. Ich faste zwei Tage in der Woche und gebe den Zehnten von allen meinen Einkünften. 
Der Zöllner dagegen blieb in weitem Abstand stehen und wagte nicht einmal aufzublicken. Er schlug sich an die Brust und sagte: Gott, vergib mir sündigem Menschen meine Schuld.
Ich sage euch: der Zöllner war in Gottes Augen gerechtfertigt, als er nach Hause ging, der Pharisäer jedoch nicht. Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden; aber wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. Lk18,10-14 (Neue Genfer Übersetzung)

Da werden uns zwei vorgestellt, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: der Pharisäer gehört zum religiösen inner circle, zur Kerngemeinde, er weiß genau, wie alles geht, was er tun und lassen muss und er kennt seinen Ort im Gotteshaus, nämlich ganz vorne, da gehört er hin, selbstbewusst den Blick nach oben und betet.  Der Zöllner ist ein "Außenseiter vor Gott", einer, der immer wieder auch seine eigenen Gesetze und Regeln macht, und auch er kennt seinen Platz: nämlich ganz hinten, da spricht er mit gesenktem Blick.  Der Pharisäer ist ja bei uns sprichwörtlich geworden als ein Heuchler – und als eine Kaffeespezialität: ein starker Kaffee, in dem versteckt unter einer riesigen Sahnehaube reichlich Rum enthalten ist. Soll ja keiner wissen! 

Als Pharisäer werden Menschen bezeichnet, die nur nach außen hin fromm tun, in Wahrheit aber gar kein so gottgefälliges Leben führen. Dieses Bild ist sicher auch durch die Darstellung in den Evangelien entstanden, sie sollten so eine Art negative Folie sein für all das, was die neue Lehre des Christentums so neu machte. Aber die Pharisäer waren – sachlich betrachtet – Menschen, die ihren Alltag geheiligt haben, die versucht haben, jeden Tag nach Gottes Willen zu leben und die damit auch ihr Bestes geben wollten, für sich und ihre Gemeinschaft und ihren Glauben. Deswegen sind sie ja immer wieder gute Gesprächspartner für Jesus. Denn Jesus ist es ja auch ganz ernst – mit einem Leben mit Gott im Mittelpunkt. Nur: die Pharisäer sahen sich als die "Ausgesonderten" – das ist die wörtliche Übersetzung von Pharisäer – als die, die was Besonderes sind, weil sie von sich denken, dass nur sie alles richtig machen mit den Vorschriften, dem Fasten und den Spenden. Der Pharisäer aus der Geschichte fastet sogar zweimal die Woche, öfter als geboten und er gibt den Zehnten bereits vorsorglich, wenn er einkaufen geht, falls der Verkäufer es vergessen sollte. Im Dienst des Gesetzes schränkt er sich mehr ein, als das Gesetz es vorschreibt. Er ist nicht nur was Besonderes, er ist was Besseres.

Ich schwanke zwischen Kopfschütteln über diesen Übereifer und Bewunderung für diese Ernsthaftigkeit. Würde ich das machen? Den zehnten Teil meines monatlichen Gehaltes spenden?! Und wenn ich ganz ehrlich mir selbst gegenüber bin, dann denke ich mir doch auch manchmal: ich bin froh, dass ich kein Räuber bin, oder modern gesprochen: keine Obdachlose oder ein Junkie oder eine, die lügt und betrügt und andere damit verletzt oder vielleicht sogar deren Leben zerstört.

Nur ja keine Fehler machen

Das Problem ist die Abwertung. Dass andere herabgesetzt werden und unmissverständlich gesagt wird: ihr gehört nicht dazu zum inner circle, zu den "Guten"! Kennt der Pharisäer überhaupt einen von denen, über die er da redet? Hat er den Menschen da im hinteren Bereich des Gotteshauses mal angesprochen, wollte was von ihm wissen, wie er lebt, warum er so lebt?! Unwahrscheinlich, so sehr wie er darauf bedacht ist, keinesfalls zu denen gehören, die Fehler machen. 
In der letzten Zeit ist hierzulande der Ton rauer geworden, auf der Straße, im Alltag, in den Debatten, vor allem auch in den sozialen Medien im Internet. Vieles hört sich an wie: Ich weiß, wie es geht und du mit deiner Meinung bist total bescheuert! Jeder und jede ist Experte für alles und der Ton ist laut, reizbar und verächtlich, vor allem bei den Themen: Impfen, Klimawandel, Migration und Politiker*innen.

 Die grüne Spitzenkandidatin Annalena Baerbock soll in ihrem Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" abgeschrieben haben oder zumindest Zitate nicht gekennzeichnet haben. Stefan Weber hat das aufgedeckt, er nennt sich selbst "Plagiatsjäger." Daraus wurde eine monatelange Diskussion in Zeitungen, Radio und Fernsehen. Ich finde es auch nicht in Ordnung, abzuschreiben, aber ich bin ehrlich erschrocken über diese Jagd und die Schärfe und die Abwertung, die da der Person Baerbock entgegen kommt. Und aktuell geht es um ein Buch von Armin Laschet, derselbe Plagiatsjäger, dieselben Vorwürfe. Auf mich wirkt das so, als würde man mit den Worten des Pharisäers sagen: "Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen, besonders nicht die Politiker*innen!" Man ist felsenfest überzeugt: "Ich habe Recht, ich weiß Bescheid" und spürt nicht mehr, wie überheblich das ist, wie wenig Fehlertoleranz man hat andern gegenüber und dass man andere verletzt.

Liebe Leserinnen und Leser, ich möchte Ihnen eine Gegen-Geschichte erzählen, genauer gesagt: Reinhard Mey erzählt sie in einem Lied. Der zwölfjährige Reinhard ist wirklich kein guter Schüler, das weiß er auch, zudem ist er ein "fauler Hund und obendrein höchst eigenwillig." Aber dieses Mal ist es besonders schlimm: nicht mal in Religion eine Vier! Mit diesem Zeugnis traut er sich nicht nach Hause. Also unterschreibt er kurzerhand selbst für die Eltern. Es dauert nicht lange, bis alles aufliegt: Eine Eltern-Sohn-Geschichte voll Großzügigkeit und Liebe. Sie zeigt, wie wohltuend ein gütiger und verzeihender Blick ist, der mich sieht, so wie ich bin.

Mich hat das erinnert an eine Zeugnisbemerkung, die eine Lehrerin mir so in der achten oder neunten Klasse reingeschrieben hat: "Sandra ist eine sensible Schülerin." Das hat mich sehr berührt, das hatte ich vorher so noch nicht gehört; ich war vorlaut, witzig und frech, aber darunter auch sehr empfindsam. In diesem Alter ist es nicht so leicht, das zu zeigen, denn man will dazugehören, zu den Coolen, zu denen, die’s drauf haben. Aber mit dieser Bemerkung habe ich mich gesehen gefühlt und ernst genommen. Und es hat mir geholfen, diese Seite von mir mehr zu zeigen.

Vielleicht ist der Zöllner aus dem Gleichnis deswegen zum Tempel hinaufgegangen: um gesehen zu werden, so wie er ist, um Zuflucht zu suchen. Weil er weiß, dass er Fehler macht, jeden Tag. Und weil er zu Gott gehören will. Als Zöllner steht er in Diensten der Staatsmacht und er nimmt den Menschen Geld ab – kein sehr angesehener Beruf, damals wie heute. Oft waren die Zöllner flüchtige Sklaven und andere Heimatlose, die froh sein konnten, überhaupt eine Arbeit zu bekommen und als Zöllner konnte man auch mal illegal was für sich abzweigen.  Zöllner galten als notorische Gesetzesübertreter und lebten am Rand der Gesellschaft. 

Und ausgerechnet so einen stellt Jesus in diesem Gleichnis in den Mittelpunkt: einen Gauner. Das ist schon eine Zumutung für die Leser und Leserinnen. Dass man sich von diesem Pharisäer distanziert: Okay, aber ein Betrüger soll mein Vorbild sein?! Der Pharisäer und der Zöllner stehen für zwei religiöse Typen, zwei Menschentypen. Und diese Typen gibt es auch in mir: die Überheblichkeit, wenn ich ganz genau weiß, was richtig ist und dass man gefälligst nach 23 Uhr keine lauten Gespräche mehr auf dem Balkon führt. Und in mir gibt es auch die Sehnsucht, bei jemandem Zuflucht zu finden, vorbehaltlos dazuzugehören mit all meinen Fehlern und meiner Schuld. 

Augen, die mich ansehen

Hilde Domin: Es gibt dich

Dein Ort ist
wo Augen dich ansehn.
Wo sich die Augen treffen
entstehst du.

Von einem Ruf gehalten,
immer die gleiche Stimme,
es scheint nur eine zu geben
mit der alle rufen.

Du fielest,
aber du fällst nicht.
Augen fangen dich auf.

Es gibt dich
weil Augen dich wollen,
dich ansehn und sagen
daß es dich gibt. (1)

Es gibt dich. Es gibt mich. Mit allem, was mich ausmacht: Mit meiner sensiblen Seite. Mit meinen Fehlern. Mit meiner Überheblichkeit. Mit meiner Sehnsucht, dazuzugehören. Es gibt mich, weil Gott mich gnädig anschaut. Ich glaube, dass es das ist, worauf der Zöllner hofft, wenn er in den Tempel geht: Er hofft darauf, dass Gott ihn in diesem gegenwärtigen Augenblick liebt und annimmt. So wie der 12Jährige Reinhard Mey, der "Urkundenfälscher", auf die Liebe und die Solidarität seiner Eltern hofft – sicher unbewusst und ängstlich und dann umso erleichterter, weil es so allumfassend ausfällt. Wie Hilde Domin es sagt: "Du fielest, aber du fällst nicht. Augen fangen dich auf." 

Vielleicht ist mein Beispiel mit den feiernden Student*innen auf dem Balkon ein bisschen banal, liebe Leserinnen und Leser, es gibt wirklich Schlimmeres! Aber ich habe gemerkt: Das letzte Jahr hat mich dünnhäutig gemacht. Der viele Hass auf den Demos und im Internet, die radikalen Ansichten über das Impfen oder Nicht-Impfen, die Klimakrise, die wir hautnah spüren und die unser Leben auf dieser Erde bedroht, wenn wir nicht handeln. Über all das wird mit überheblichen, abwertenden und verletzenden Worten gestritten. Auf beiden Seiten. Und die Grenze, wer zu welchem Lager dazugehört und wer Recht hat, ist meterhoch und wird unerbittlich verteidigt.

Wie kann es mir gelingen, großherzig zu bleiben? Mein Ohr zu öffnen, zuzuhören und dabei klar zu bleiben? Wenn ich mir doch den Zöllner als Vorbild nehme, den Gesetzesübertreter und Betrüger. Zumindest in dem Moment, in dem er sich selbst erkennt, sich an die Brust schlägt und sich ganz der Liebe hingibt. Sein Ort ist, wo Augen ihn ansehen. In Gottes Augen bin ich gerechtfertigt, freigesprochen, gut. Ich muss gar nicht hassen, meckern, besserwissen. Ich kann aus Vertrauen und aus Liebe leben.

 Love lift us up where we belong. Die Liebe hebt uns hoch. Die Liebe hebt uns dahin, wo wir hingehören. Ein wunderschöner Song aus den 80ern. "Alles was wir haben, ist das Hier und Jetzt" – Gott liebt mich in diesem gegenwärtigen Augenblick und die Liebe trägt mich dahin mit, wo ich dazugehöre.

 

  (1) Hilde Domin: Es gibt dich, in: Gesammelte Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 122008, S. 208

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.