Luisa Neubauer ist eine der bekanntesten Klimaschutzaktivistinnen in Deutschland. Im Interview spricht sie über ihre Erfahrungen mit der Kirche, ihren evangelischen Glauben und wie die Kirchen ihre Stimme nutzen können, um etwas gegen den Klimawandel zu tun. 

Sie haben kürzlich in einem Interview erzählt, dass Sie Jugendleiterin in Ihrer Kirchengemeinde waren.

Luisa Neubauer: Genau, in meiner Kirchengemeinde in Hamburg – eine ganz, ganz tolle Kirchengemeinde, mit einem sehr starken Fokus auf Jugendbeteiligung. Der Konfirmandenunterricht wurde größtenteils begleitet und durchgeführt von Jugendlichen, und wenn man konfirmiert war, dann konnte man selbst Jugendleiter werden. Dazu habe ich die Juleica-Ausbildung gemacht und dann eben Jugendgruppen geleitet. Man organisiert natürlich auch drumherum Sachen, wie Sommerfreizeiten.

"In einer Jugend- Leitungsfunktionen in der Kirchengemeinde sieht man genau, was man gemeinsam schaffen kann, was für einen Unterschied es macht, ob man präsent ist oder nicht, ob man sich Zeit nimmt oder nicht, ob man genau hinguckt und hinhört oder eben nicht."

Haben Sie da das Rüstzeug für Ihr heutiges Engagement bekommen?

Neubauer: Auf jeden Fall hat es mich sehr geprägt. Es macht ja einen großen Unterschied, wie man als junger Mensch die Welt präsentiert bekommt und wie man sich selbst in der Welt wahrnehmen kann. Und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die ist so wichtig, aber eben auch sehr besonders und alles andere als selbstverständlich. In so einer Jugend- Leitungsfunktionen in der Kirchengemeinde sieht man genau, was man gemeinsam schaffen kann, was für einen Unterschied es macht, ob man präsent ist oder nicht, ob man sich Zeit nimmt oder nicht, ob man genau hinguckt und genau hinhört oder eben nicht. Und das hat natürlich für mich dann die Welt bedeutet.

Es war für Sie also wichtig, als junger Mensch ernst genommen zu werden?

Neubauer: Ja, es ist ja - absurderweise - eine skurrile Erfahrung, jung zu sein, weil man einfach sehr, sehr lange das Gefühl vermittelt bekommt, man steht vor allem im Weg. Oder man sei zu jung oder noch nicht volljährig oder noch nicht erfahren genug. Und das ist ja merkwürdig in einer Welt, in der so viele Menschen, ein so großer Anteil der Gesellschaft, jung ist. Diese Hierarchien, die so destruktiv sind und so spalten, die gab es bei uns nicht, weil klar war, der ganze Konfirmandenunterricht, die Jugendkreise und all das liegt auch auf den Schultern von uns jungen Menschen – aber eben auch in unseren Händen. Dass man Dinge nicht nur ausschließlich auf die Schultern legt, sondern auch in die Hände packt und dort dann Vertrauen schenkt – das macht einen großen Unterschied.

"Ich habe eine Gemeinde und die Gemeinschaft erlebt, das Kirchliche stand in den meisten Fällen gar nicht so sehr im Vordergrund."

Sie haben Kirche als Jugendliche also sehr zugewandt erlebt?

Neubauer: Naja, ich glaube, man muss da einen Unterschied machen. Ich habe eine Gemeinde und die Gemeinschaft erlebt, das Kirchliche stand in den meisten Fällen gar nicht so sehr im Vordergrund. Der Glaube hat für mich eine große Rolle gespielt und wir haben uns auch gemeinsam dem evangelischen Glauben genähert. Aber das war für mich deutlich weniger geradlinig als die Erfahrung, die ich mit der Gemeinde, in der Gemeinschaft gemacht habe. Und bis heute ist das eigentlich so geblieben, dass ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zur Institution Kirche habe und mir über meinen Glauben gar nicht so umfassend sicher bin. Was aber ehrlich gesagt ein ganz schönes Gefühl ist. Ich bin 25. Es wäre ja auch merkwürdig, hätte ich da jetzt alle Antworten.

Das stellen Leute immer wieder fest: Dass sie die Gemeinschaft, die die Kirche anbietet, schätzen, aber die Institution kritisch sehen.

Neubauer: Damals kannte ich das Wort Ambiguitätstoleranz  (die Fähigkeit, Uneindeutiges oder Mehrdeutiges zu ertragen, Anm.) noch nicht. Aber genau das ist es ja für mich. Und ich bin dankbar, dass ich mir nicht, bevor ich ein einziges Mal da reingelaufen bin, gesagt habe: Hier ist so viel schief gelaufen in der Vergangenheit, das kann nichts Gutes sein, sondern der Sache eine Chance gegeben und festgestellt habe, dass das, was ganz konkret vor Ort passiert, gut und sinnvoll war. Das hat mich in keiner Weise davon abgehalten, trotzdem die Institution zu kritisieren, es aber mir eben auch ermöglicht, das wertzuschätzen, was direkt vor meinen Augen besteht.

Sie haben nach wie vor Kontakt zu Ihrer Gemeinde, oder?

Neubauer: Ja. Wenn ein wichtiges Ereignis in Hamburg ist, dann bin ich natürlich da und besuche die Gottesdienste und den Martinsmarkt. Mein Vater wurde durch die Pastorin beerdigt, die mich konfirmiert und getauft hat, die auch meine Geschwister konfirmiert und getauft hatte.

Der Tod Ihres Vaters muss ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein.

Neubauer: Da war ich gerade 19 Jahre alt. Zwangsläufig muss man sich ganz viele Fragen stellen über das Leben und den Tod. Und was passiert, wenn ein Mensch, den man liebt, nicht mehr da ist, ohne dass man das hätte verhindern können. Ohne, dass man hätte intervenieren können.

Luisa Neubauer

"Ich finde die Frage nach einem Leben nach dem Tod seitdem ein bisschen befremdlich, weil mein Vater natürlich weiterlebt."

Hat Sie das auch zur Frage eines möglichen Lebens nach dem Tod geführt?

Neubauer: Ich finde die Frage nach einem Leben nach dem Tod seitdem ein bisschen befremdlich, weil mein Vater natürlich weiterlebt. Er lebt in meinem Herzen weiter, in unseren Herzen und unseren Gedanken, Geschichten und Erzählungen. Und er ist auch immer ein bisschen da und begleitet uns immer ein bisschen. Er lebt, weil wir ihn in uns tragen.  

Welche Auswirkungen hatte diese Verlusterfahrung auf Ihr weiteres Leben?

Neubauer: Natürlich viele. Und ein Effekt war auch, dass sie meinen Aktivismus gegen die Klimakatastrophe geprägt hat. Ich musste feststellen, dass vieles von dem, was ich für unvergänglich hielt, sehr, sehr vergänglich ist. Und wir als Menschheit erleben auch Vergänglichkeit, und zwar in maximalem Ausmaß. Wir machen eine riesengroße globale ökologische Verlusterfahrung, die so schwer zu fassen ist, die so erdrückend ist, dass man kaum Worte dafür finden kann. Als mein Vater gestorben ist, habe ich mich irgendwann gefragt: Was für eine Tochter möchte ich sein? Möchte ich eine ausschließlich trauernde Tochter sein? Oder möchte ich eine Tochter sein, die sich der Trauer stellt und darüber hinauswächst ? Und auch in dieser globalen Erfahrung, die wir gemeinsam machen, haben wir eine Entscheidung zu treffen. Das finde ich so befreiend, und so beruhigend, dass wir eine Entscheidung fällen können, dass wir die Wahl haben, wie wir uns diesem Verlust gegenüber verhalten.

"Ich finde ganz viel Hoffnung, Kraft und Stärke im Glauben, aber der Glaube an sich kann auch demotivieren und Energie rauben."

Wieviel hat Ihr – wie Sie selbst sagen – kompliziertes Verhältnis zu Gott damit zu tun, dass häufig immer noch ein Gottesbild vom alten weißen Mann mit Bart vorherrscht?

Neubauer: Natürlich ist es wichtig, die Kirche und den Glauben sehr ausführlich und kritisch zu reflektieren, daraufhin zu überprüfen, wie patriarchale, sexistische, rassistische Muster abgelegt werden können. Und ich bin mir sehr sicher, dass der Jesus, den man in meiner Kirchengemeinde da hingehängt hatte, nicht so aussah, wie Jesus überhaupt aussehen konnte zu der Zeit. Was für mich aber eher hinter dieser Uneasyness über den Glauben und Gott steckt, ist die Feststellung, dass es zumindest auf den ersten Blick so gar nicht richtig zusammenpasst, was auf der Welt passiert und was der Glaube verspricht. Ich finde ganz viel Hoffnung, Kraft und Stärke im Glauben, aber der Glaube an sich kann auch demotivieren und Energie rauben.

Wie das?

Neubauer: In dem Augenblick, wo man das Gefühl hat, man könnte sich darauf verlassen, dass sich irgendwer anders um die Dinge kümmern wird, die man selbst in die Hand nehmen muss. Die Klimakrise ist menschengemacht, und die wird auch nur von Menschen aufgehalten werden können. Manche Menschen wollen mir erklären, dass wir doch in Gottes Händen sind und er sich um die Dinge kümmern wird, aber wenn wir sie kaputt gemacht haben, dann müssen wir sie auch wieder reparieren.

Welche Rolle können die Kirchen im Kampf gegen den Klimawandel spielen?

Neubauer: Zunächst einmal müssen sich die Kirchen fragen, wie sie die Lage selbst befeuern. Das passiert in Deutschland insbesondere durch die Tatsache, dass überall Kirchengemeinden, Bistümer und so weiter noch Kapitalanlagen in Kohle, Öl und Gas haben. Kirchengemeinden, die dazu beitragen wollen, die Schöpfung zu bewahren und gleichzeitig Einnahmen mit Renditen aus Kohle, Öl und Gas generieren – das geht nicht. Und es ist eine riesengroße Aufgabe für die Kirchen, die sich hier in Eigenverantwortung stellen müssen als Institution. Dann haben natürlich auch Kirchen eine politische Macht und eine politische Stimme. Das heißt nicht, dass sie Politik machen, aber sie sind ein Politikum.

"Ich freue mich total, dass immer mehr Kirchengemeinden in Deutschland sich zusammentun, wirksamen Klimaschutz einfordern, ihrer Verantwortung gerecht werden und ihre Reichweite, ihre Plattform, ihre Macht reflektieren."

Stellen Sie da noch keinen Bewusstseinswandel fest?

Neubauer: Doch. Ich freue mich total, dass immer mehr Kirchengemeinden in Deutschland sich zusammentun, wirksamen Klimaschutz einfordern, ihrer Verantwortung gerecht werden und ihre Reichweite, ihre Plattform, ihre Macht reflektieren. Und schließlich sind Kirchen Orte der Hoffnung, wo Gemeinschaften wachsen sollen. Wir brauchen ganz dringend diese Orte, an denen wir Kraft schöpfen können, an denen wir zugewandt sind. Achtsam. In unserer Kirchengemeinde haben wir immer gesagt: Lasst uns die Kirche nicht im Dorf lassen. Und das gilt heute mehr denn je.

Steckt im christlichen Glauben auch die Verpflichtung, sich gegen den Klimawandel zu engagieren, im Sinne von Bewahrung der Schöpfung?

Neubauer: Ich weiß nicht, ob ich diejenige sein möchte, die darüber urteilt, zu was welcher Glaube verpflichtet. Ich persönlich finde es aber nicht wirklich konsistent, sich auf der einen Seite mit Christentum und Christlichkeit zu rühmen, wie das ja einige Parteien in Deutschland tun, und auf der anderen Seite massiv einzuwirken, dass besagte Schöpfung noch weiter zerstört wird.

Luisa Neubauer

Was ist beim Kampf gegen den Klimawandel wichtiger: Die globale oder die lokale Ebene?

Neubauer: Beides. Überall auf der Welt muss Initiative ergriffen werden, müssen sich kleine und große Hebel verschieben, müssen die Unternehmen von ihren Verbrechen abgehalten werden. Aber nichts wird passieren, wenn es nicht das lokale Organisieren gibt. Wenn sich nicht Menschen bei sich vor Ort zusammentun – und dafür ein gutes Beispiel ist Fridays for Future. Eine globale Bewegung, die einen globalen Aufschrei hervorgebracht hat, die den größten Konzernen, den größten Regierungen, den größten Organisationen der Welt eine Ansage gemacht und sie teilweise zum Einlenken gezwungen hat. Und all das passierte, weil sich Menschen bei sich zu Hause an einem Freitagmorgen gedacht haben: Heute verstehe ich mich als Teil von etwas großem Ganzen, indem ich vor die Tür gehe, in meiner Straße, in meinem Viertel, in meiner Stadt. Es kommt darauf an, dass wir vom Kleinen ins Große denken, aber auch vom Großen ins Kleine. Und dass wir es wagen, uns wichtig zu nehmen und verstehen, dass wir eine Rolle spielen. Wenn wir nichts tun, unterstützen wir, dass die Klimakrise weiter eskaliert, dass die größten, dreckigsten Konzerne die Ausbeutung von Menschen und Natur fortsetzen und weiter ihre Milliardenumsätze machen. Aber wenn wir etwas tun, dann haben wir eine Chance, dass die Dinge sich zum fundamental Besseren und Gerechteren wenden, Menschen überall Perspektiven und Kinder eine Zukunft haben, egal ob sie jetzt in Deutschland geboren werden oder sonstwo auf der Welt.

Gibt es auch Dinge, die man im persönlichen Konsumverhalten unbedingt beachten sollte?

Neubauer: Ich glaube, uns allen wäre sehr geholfen, wenn wir als Menschen anfangen würden, uns als politisches Wesen zu begreifen und weniger ausschließlich als Konsumenten. Ja, wir stehen irgendwann mal im Supermarkt, aber das ist eigentlich die geringste Zeit des Tages, die wir dort verbringen. Von daher: Es ist auch eine sehr private Entscheidung, sich am Freitagmorgen zu entscheiden, die nächsten zwei Stunden auf die Straße zu gehen. Das müssen wir alle mit uns selbst ausmachen, müssen wir alle für uns selbst entscheiden.

"Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass Menschen von jedem Geschlecht und in jeder Generation dazu fähig sind, die tollsten Beiträge zu leisten, dass es eine gerechtere Welt gibt."

Was würden Sie anderen jungen Frauen raten, was sie tun können, damit sie sich diesen Raum, den Sie sich nehmen, nicht nehmen lassen?

Neubauer: Richte dein Handeln nicht danach aus, dass es Männern in Machtpositionen gefällt. Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass Menschen von jedem Geschlecht und in jeder Generation dazu fähig sind, die tollsten Beiträge zu leisten, dass es eine gerechtere Welt gibt. Aber Menschen, die nicht in der Lage sind, anzuerkennen, dass junge Menschen auch eine Stimme haben, oder junge Frauen ein legitimes Interesse daran haben, mitzureden oder sich einzumischen: An denen sollte man nicht das eigene Handeln ausrichten. Lasst euch nicht aufhalten. Wir haben all die guten Argumente und haben überhaupt keinen Grund, uns unsere Rechte, Freiheit, Perspektiven oder Zukunft nehmen zu lassen. Und wir hier in Deutschland haben auch noch eine andere Verantwortung. Wir sind unterm Strich immer noch sehr privilegiert, global gesprochen. Irgendwo auf der anderen Seite der Welt sitzt eine junge Frau, die ist genauso alt wie ich und will die gleichen Perspektiven haben wie wir. Aber wenn niemand die deutschen Kohlekraftwerke abschaltet oder niemand die Regierung davon abhält, weiter Autobahnen zu bauen und neue Gaspipelines zu verlegen, dann wird das nicht passieren.

Fridays for Future ruft zum zehnten globalen Klimastreik auf

Die Klimaschutzbewegung Fridays for Future (FFF) ruft am 25. März 2022 zum inzwischen zehnten globalen Klimastreik auf. 

Zuletzt waren im vergangenen September trotz Corona-Pandemie Zehntausende Menschen in einen Klimastreik getreten. Die Polizei sprach von rund 26.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die FFF-Bewegung von 80.000. Bei der bislang größten Kundgebung hatte Fridays for Future im September 2019 - also vor Ausbruch der Pandemie - nach Polizeiangaben 70.000 Menschen auf die Straße gebracht, die Klimaschützer sprachen damals von 100.000 Teilnehmern.