Es ist Samstagmorgen, während ich diesen Text schreibe. Geschäumte Milch, frisches Brot usw. Richtig schön! Adventskranz. Vier Kerzen. Sehr gemütlich. Als mein Freund zwei Stunden später aufsteht und sich zu mir an den Frühstückstisch setzt, grinst er: "Hey, es ist doch noch gar nicht der vierte Advent!" Ich puste geradezu panisch die vierte Kerze aus.

Kontrollverlust vor Weihnachten

Ein Kardinalfehler! Ich habe die heilige Wartezeit unabsichtlich verkürzt! Es zu schnell hell gemacht, die Regeln gebrochen! Wer weiß, was als Nächstes passiert? Vielleicht verliere ich völlig die Beherrschung und esse die komplette Schokolade aus dem Adventskalender meiner Kinder?

Zur Not hätten sie aber noch diverse Rätselkalender, Bastelkalender und zusätzliche Säckchen von der Oma. Außerdem gibt es noch einen Adventskalender in der LernApp auf dem Tablet. Ich selber habe einen Spotify-Adventskalender mit täglich neuer Musik, einen Postkartenkalender und einen Wandkalender. Kein Wunder, dass ich den Überblick verliere bei so vielen Adventsritualen und mir so ein Unglück wie das mit der Kerze unterläuft.

Bis Weihnachten anfängt, kann man keine Plätzchen mehr sehen

Sowieso hat der Advent mit seiner High Performance den Weihnachtsfeiertagen selbst anscheinend den Rang abgelaufen: Da gibt es besagte Adventskalender und Adventskränze, Lebkuchen, Christkindlmärkte, Glühwein und Spendenaktionen. Bis Weihnachten dann so richtig anfängt, kann man keine Plätzchen mehr sehen, verflucht sämtliche Lichterketten und will am liebsten das Fensterbrett abräumen, alle Tannennadeln wegsaugen und gelbe Tulpen aufstellen.

Das ist dann das Resultat von vier Wochen glorifiziertem Warten. Im Advent tun nämlich alle so, als wäre das Warten sowieso das Allerbeste. Die Vorfreude. Die Geduld als Höchstleistung der menschlichen Moral - als wäre das alles was man braucht, um das Leben in den Griff zu kriegen.

Der Advent erfüllt anscheinend so einige Kriterien zur gesellschaftlichen Entlastung: Eine eindeutige moralische Ansage, nämlich dass Warten können wichtig ist und dazu das Versprechen, dass Geduld belohnt wird.

Weihnachten, eine große Enttäuschung

Genau das Richtige für so unübersichtliche Zeiten. Nur: Ist das so? Ist Warten immer gut und gibt es an Weihnachten eine Belohnung dafür? Ich glaube, für die meisten Menschen ist Weihnachten eine große Enttäuschung. Deshalb der Streit, deshalb der Druck, deshalb die Tränen. Wie soll ein Fest nach vier Wochen Erwartungsaufbau alles an Liebe, Glück und Geborgenheit erfüllen können, was mein Leben im Rest des Jahres nicht aufbringen konnte?

Oft heißt es, der Weihnachtsstress läge am Perfektionsdruck, den wir aufbauen: Dass alles schön sein müsse und so wie immer. Ich glaube eher, es liegt an den enttäuschten Erwartungen - einem der schlimmsten Gefühle, die es gibt: Das Warten auf etwas, was alles anders, besser, schöner, glücklicher machen soll - und dann ist einfach nur Weihnachten. Wie immer. Geschenke, Tannenbaum, Gottesdienst. Das kann nicht funktionieren.

Nur von hinten schön 

Im Japanischen gibt es ein Wort dafür, wenn eine Frau von hinten schön aussieht und von vorne enttäuschend langweilig (das ist jetzt kein besonders feministischer Gedanke, aber er passt so gut). Das Wort heißt Bakkushan. Es heißt übertragen "nur von hinten schön". Genau so ist Weihnachten oft: Von hinten schön. Und von vorne betrachtet steigt eine Leere in mir auf, die sich viel schlimmer anfühlt als vorher. Eine Leere, die all das in mir hervorholt, was in diesem Jahr in meinem Leben schmerzlich gefehlt hat. Verständnis. Die Beine hochlegen können und die Augen zu, ganz ohne Verantwortung. Obst, das jemand anders für mich schält, schneidet und mir ans Bett bringt. Ein Konto im sicheren Plus, auch am 29. des Monats. Jemand, der nachfragt. Jemand, der trotzdem zu Besuch kommt.

Ich kenne sie gut, die Christbaumtränen, den Weihnachtskater und den leeren, kalten Bauch trotz der Plätzchen. Advent schaffen wir alle irgendwie, denn Warten können wir. Und ich glaube, das müssen wir auch nicht mehr üben. Auch Kinder nicht. Besonders die nicht. Sie wissen ganz genau, wie Warten geht: "Gleich, ich muss noch aufräumen, dann spielen wir!" Und wir Erwachsenen wissen es auch: Eine Ehe, in die man sogenannte Beziehungsarbeit stecken muss. Schuldgefühle, die man aushalten muss. Belohnungen, die man sich verdienen muss.

Das mit dem Advent kriegen wir gut hin, weil es das ist, woraus manchmal das ganze Leben zu bestehen scheint: Hoffen, dass es besser wird.

Und der 24. Dezember soll dann alles gut machen. Einfach so.

Aber wie soll an Weihnachten alles gut sein? In der Bibel ist das so. Dabei ist hier der Advent eigentlich ziemlich kurz. Rituale gibt es da keine, klar, fängt ja alles erst an. Es gibt eigentlich nur Maria und den Engel, der sagt, sie brauche keine Angst zu haben, es werde alles gut. Und es gibt Elisabeth, eine Frau, die endlich, endlich  Mutter wird. Es gibt Dornen und Träume. Der Advent in der Bibel besteht aus der Erwartung und der Angst und einer Reise, die an einem Ort endet, den so keiner erwartet hat. Nicht am Ziel, sondern im Irgendwo. Und die Klarheit des Herrn leuchtete.

Jesus als Zeichen: Es braucht keinen Kampf

Für die Menschen, die die Weihnachtsgeschichte aufgeschrieben haben, war das Baby Jesus ein Zeichen dafür, dass das verletzliche, zarte Leben voller Angst eben keinen neuen Kampf braucht. Kein Schwert, das den Knoten zerschneidet. Vielleicht eine Enttäuschung für all die, die sich Gott als Retter und König gewünscht haben. So wie wir uns Lösungen, Eindeutigkeit und ein Ende der Fragen in unserem Leben wünschen.

Es kann eine Enttäuschung sein, dass das Leben nicht noch mehr laute Antworten und starke Richtigkeiten braucht. Sondern ein Licht, das die Fragen, die Hoffnung, den Zweifel heiligt, anstatt sie wegzuwischen. So sehr heiligt, dass Gold, Weihrauch und Myrrhe gerade gut genug dafür sind. So sehr, dass niemand irgendwo ankommen muss, um anzukommen. Wie die Himmelsleiter, die genau da, wo Du jetzt stehst, den Himmel öffnet.

Gott heiligt die Fragen – und Weihnachten ist nicht die Antwort

Das habt zum Zeichen. Eine Enttäuschung habt zum Zeichen. Ein anders-als-gedacht. Weihnachten ist deshalb eben nicht wie das ersehnte Ende der Warteschlange. Nicht die Belohnung für Deinen Kampf. Weihnachten macht nichts von dem wieder gut, was Dir in diesem Leben fehlt. Und gleichzeitig verändert es alles: Es erlöst Dich von dem Zweifel, ob das mit der Sehnsucht normal ist. Ja, ist es. Es befriedet Dein Herz ohne es zu verhärten. Unterstreicht Deine Fragen.

Es ist kein Zufall, dass es die Geburt eines Kindes ist, die die Menschen in der Bibel erlöst. Unverfügbar, schmerzhaft und nicht von dieser Welt. So wie die Fragen in unserem Leben schmerzhaft sind. Gott heiligt die Fragen. Und Weihnachten ist nicht die Antwort. Sondern die Gewissheit, dass die Fragen zu Dir gehören, zu Deiner Reise zur Krippe. Mit Dreck am Stecken. Auch wenn Du die ganze Schokolade schon aufgegessen hast. Auch wenn Du nichts mehr erwartest im Leben. Auch wenn Du die Zärtlichkeit unter den Dornen begraben hast. Auch wenn Du nicht warten kannst. Auch wenn alle Zeichen auf Untergang stehen.

Vielleicht ist Weihnachten ja wirklich eine Enttäuschung. Eine gute. Denn vielleicht täuschst Du Dich.