Kniffel über das ganze Blatt spielen. Aprikosenmarmelade in kleinen Plastik-Einmalbehältern, weil sie als Putzfrau in einem Hotel gearbeitet hat. Hausschuhe aus dunkelblauem Filz. Rotkohl, so sagte man in Berlin, nicht in Bayern, wo sie jetzt wohnte. Meine Oma und die Erinnerungen, die ich an sie habe. Ihre Stimme war laut, sehr laut. Manchmal sagte meine Oma mit dieser Stimme Sätze, die man nicht vergisst. Zum Beispiel: "Du hast aber einen dicken Hintern gekriegt." Ich glaube, sie hat mir dabei mit der Hand auf den Po gehauen, ich muss 13 gewesen sein. Vielleicht hat sich ihr Satz auch nur so angefühlt. Wenn ich an sie denke, fühlt es sich geborgen und warm an, mit ein paar Stichen oder Kratzern darin. Ich glaube, es ist okay, sich auf diese Art und Weise an Menschen zu erinnern: So, dass man sich an das Warme und Gute erinnert und auch an das Harte, Verletzende. Das, was man lieber nicht erlebt hätte.

Wir neigen dazu, Erinnerungen zu glätten

Oft erinnern wir uns auch anders an Menschen, unsere Kindheit oder ganz allgemein an unsere Vergangenheit: Nämlich so, dass wir zusammenfassen und uns dann für eine ganz bestimmte Deutung entscheiden. Die meisten Menschen neigen dabei eher dazu, zu verharmlosen, was schwierig war. Sie glätten, bügeln aus, wiegeln ab. Als ob ihre Erinnerung Wäsche wäre, die keine Falten werfen dürfe. Auch das kenne ich gut. In solchen Erinnerungen kann ich mich manchmal besser einrichten und orientieren. Und das wiederum scheint gut für das Hier und Jetzt zu sein. Gut für Erklärungen, Schlussstriche, Konsequenzen und Rückschlüsse.

Aber ich glaube, es ist auch eine falsche Klarheit. Wir bringen uns damit um die vielen Facetten des Lebens, das wir hinter uns gelassen haben. Um die gemischten Gefühle, den bitteren Nachgeschmack, die herbe Enttäuschung - aber auch um das leichte helle Glück, die feinen Lachfalten und das Aufatmen über all das Schöne.

Das alles ist unsere Erinnerung, unser Leben von früher. Augenblicke, Momentaufnahmen und lang haltbare Eindrücke.

Unsere Erinnerungen verbinden uns mit den Menschen unseres Lebens und mit uns selbst, so wie wir jetzt sind. Und sie schreiben sich fort: Wenn ich mit meiner Tochter Kniffel spiele, wenn ich Aprikosenmarmelade kaufe - in Gläsern natürlich. Außer im Hotel, da gibt es noch diese Packungen… Wenn ich meinen Körper überkritisch sehe und mich daran erinnere, wie sehr mich der Satz meiner Oma getroffen hat. Ich versuche, meine Erinnerungen sowohl zu hinterfragen, als auch zu lieben, wie sie waren. Ein schmaler Grat, finde ich. Bei der Erinnerung an meine Oma kann ich auf diesem Grat gehen, mit anderen Erinnerungen ist es schwieriger.

 

Weihnachts-Video lebt von Erinnerungen

Es ist November, Erinnerungsmonat. Vielleicht also kein Zufall, dass der notorische Weihnachts-Video-Clip dieses Jahr schon Anfang November viral geht. Der neue Penny-Spot wirbt für ein Gewinnspiel, bei dem Kinder und Jugendliche "ein besonderes Erlebnis" gewinnen können. Und er lebt von Erinnerungen. Der Beginn des Videos: Der Sohn, wohl so um die 16, fragt seine Mutter, was sie sich zu Weihnachten wünscht. In ihrem Kopf explodiert eine Mischung aus Flashback und Fantasie. Bilder entstehen, Farben und Szenen. Sie wünscht sich, ihr Sohn "bekäme seine Jugend zurück".

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hat sie den Eindruck, er sei um prägende Erfahrungen gebracht worden: Sich heimlich nachts rausschleichen, sturzbetrunken nach Hause gebracht werden müssen, sich unglücklich in ein Mädchen verlieben, mit dem besten Freund auf Rucksackreise gehen. In ihrer Erinnerung gehört all das zu einer "richtigen Jugend" dazu. Vielleicht, weil sie selbst etwas davon erlebt hat oder erleben wollte? Aber überträgt sie damit nicht ihr Leben und ihre eigenen Sehnsüchte auf ihr Kind?

Ich glaube, das passiert Eltern oft. Bewusst und unbewusst. Vielleicht wünscht sie ihm auch gar nichts Konkretes. Sondern vor allem "starke Gefühle". Den Mut, Dinge durchzuziehen, wenn es sein muss auch heimlich. Leidenschaft und Aufregung. Nähe und Schmerz. Ein intensives, nahes und dichtes Leben.

Ein Leben, das Erinnerungen hinterlässt und Spuren, die bleiben. Sie glaubt, Corona hätte all das verhindert. Ist das so?

Auch Jugendliche im Jahr 2021 kennen solche starken Gefühle. Sie verlieben sich, müssen sich Mut erkämpfen, Scham erleiden und erleben, was Freundschaft ist. Die Corona-Pandemie ist kein Gefühls-Schalldämpfer. Sie verwehrt uns zwar vieles, auch viel Normalität und viel Schönes. Aber sie ist ganz sicher kein Betäubungsmittel. Im Gegenteil. Sie wühlt auf, frisst sich als Angst und Schmerz in die Tage hinein.

Leben vor Corona war nicht frei von gesellschaftlicher Spaltung

Auch eine "normale Jugend" ist weder unbelastet, noch immer frei und sorglos. Die Scham, volltrunken von seinen Eltern abgeholt werden zu müssen, die Verletzung, von der ersten großen Liebe verlassen zu werden - natürlich gehört das irgendwie zum Erwachsen werden dazu, aber wir müssen es nicht glorifizieren. Auch nicht in unserer Eltern-Erinnerung. Auch nicht in unserer Gesellschafts-Erinnerung. Das Leben vor Corona war nicht frei von gesellschaftlicher Spaltung. Die Mütter und Väter von kleinen Kindern standen auch ohne Corona oft an ihrer Belastungsgrenze. Es wird jetzt einfach immer schlimmer. Das Personal in den Kliniken war unterbesetzt, Pflegeheime überlastet und schlecht versorgt. Nein, Corona hat all das nicht besser gemacht, sondern in vielen Bereichen unseres Lebens Salz in offene Wunden geschüttet.

Aber es gibt keinen Grund, unsere Erinnerung zu harmonisieren, zu glätten und so zu tun, als wäre früher alles gut gewesen. Weder gesellschaftlich, noch persönlich.

Oft braucht es viele Therapiesitzungen, lange Gespräche mit Freunden oder schmerzhafte Erfahrungen und meistens alles zusammen, bis wir verstehen, dass die Erinnerungen an unsere Vergangenheit manchmal ein bisschen ungenau etikettiert worden sind. Da steht Geborgenheit drauf, wo auch Unsicherheit war und Harmonie, wo die Angst manchmal von innen angeklopft hat. Das ist nicht schlimm, wahrscheinlich ist es sogar unvermeidbar.

Wir müssen weder Tränen noch das Schöne fürchten

Aber ich glaube, dass alle Erinnerungen zu uns gehören. Sie können uns unsere Gegenwart nicht mehr nehmen, wir brauchen sie nicht zu fürchten. Weder die Tränen, noch das Schöne müssen wir fürchten. Welche Gedanken hast Du über Deine Erinnerungen? Und was machen sie mit Deiner Gegenwart?

Am Ende des Videos setzt sich der Junge auf die andere Seite des Esstischs. Sie nehmen sich in den Arm. Man weiß nicht genau, wer wen tröstet. Wer Trost braucht und wer Hoffnung. Weil erinnern und nach vorne schauen oft nah beieinander liegen. Und wir selbst uns oft im Einen oder im Anderen verfangen. Im Buch des biblischen Propheten Jesaja steht ein November-Satz, der mir beim Erinnern hilft und mich dabei hier und jetzt weiter trägt:

"Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung."