Schwimmen im See
So geht Leichtigkeit, liebe Hörerinnen und Hörer. Das habe ich plötzlich gefühlt. Wie schon lang nicht mehr. Der Sommer hatte gerade begonnen. Ein Tag am See. Spät abends geh ich noch einmal schwimmen. Ganz allein. Alles ruhig, irgendwo quaken ein paar Frösche, und das Wasser ist schon wieder ziemlich kühl.
Ein herrliches Gefühl: Auf den Treppen hinunter ins Wasser spürt man noch sein ganzes Gewicht. Und dann – beim Eintauchen – wird der eigene Körper auf einmal so leicht. Das Wasser trägt. Ich habe mich auf den Rücken gedreht und liege ganz ruhig auf dem Wasser. Toter Mann, haben wir das als Kind genannt. Das Wasser gluckert in den Ohren, ich schau in den Himmel. Der Mond und die ersten Sterne gehen langsam auf. Wunderbar ist das. Ich fühl mich schwerelos. So geht Leichtigkeit.
Wie gut das tut. Eigentlich müsste ich das viel öfter machen, denke ich ein bisschen sehnsüchtig. Aber genauso eigentlich ist es vielleicht auch ungerecht, dass ich das gerade erlebe und andere nicht. Darf ich so etwas genießen in diesen Zeiten?
In meinem Lieblings-Kirchensommerlied höre ich heraus, dass sein Dichter Paul Gerhardt für diese Frage durchaus sensibel war. Er wusste wohl, dass zumindest wir Erwachsenen in schweren Zeiten etwas zurückhaltend sind mit solchen Erfahrungen von Leichtigkeit. Paul Gerhardt gibt sich und seinem Herzen einen Schubs: Na los, komm schon, Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit…
Federleicht und furchtbar schwer – der Seewandel
Eins der berühmten Wunder in der Bibel geschieht auch an einem Abend am Wasser. Oder genauer gesagt: Auf dem Wasser und mit Wetterumschwung. In der Geschichte wird Jesus in beeindruckender Weise leicht. Federleicht…
Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht.
Jesus geht über das Wasser. In der Geschichte steht "übers Meer", obwohl es wohl der See Genezareth gewesen ist, der den Menschen einfach riesig groß schien. Und Jesus geht einfach so drüber. Neben so manchen unbekannteren Jesus-Geschichten ist dies wohl eine der berühmteren. Womöglich auch, weil sie selbst etwas Leichtes hat, das man gern weitererzählt. Geflügelte Worte sind daraus entstanden: "Bin ich Jesus? Kann ich übers Wasser gehen?" Es gibt Witze über diese Geschichte: Ich besitze einen kleinen Cartoon. Auf dem Bild geht Jesus als etwa 8j-ähriger Junge weinend übers Wasser und beschwert sich bei seiner Mutter: Ich möchte endlich auch mal schwimmen wie alle anderen.
Dieser Seewandel: Eigentlich ein verrücktes Wunder, finde ich. Brotvermehrung oder Heilungen, solche Dinge erscheinen irgendwie sinnvoller. Jesus hätte ja auch einfach den Sturm stillen können. Aber übers Wasser laufen? Was soll die Botschaft dahinter sein?
Die Geschichte geht ja noch weiter…
Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu.
Petrus möchte auch über das Wasser laufen. Halb soll es wohl ein Beweis sein, dass Jesus auch Jesus und nicht doch ein böses Gespenst ist. Halb, vermute ich, möchte Petrus das einfach auch können. Einmal so leicht sein und übers Wasser laufen.
Jesus lässt sich nicht lang bitten. Es braucht eigentlich nicht viel: Keine Verwandlung. Keine Berührung. Einfach nur: "Komm her!" Petrus wagt es und – kein Problem – wie Jesus läuft auch er. Schritt für Schritt geht er über den See Genezareth. Ich stelle mir vor, wie er das Wasser zwischen den Zehen spürt und über sich am Abendhimmel den Mond und die Sterne aufziehen sieht. Wie wunderbar! So geht Leichtigkeit. Bestimmt hat er sich schwerelos gefühlt. Zumindest einige Momente lang, denn als…
Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich!
Wie sich das wohl angefühlt hat? Die Furcht vor dem Sturm holt ihn zurück in das, was er eigentlich kennt und weiß: Menschen können nicht auf Wasser laufen. Sie sind zu schwer. Und auch wenn sie noch nicht entdeckt war: Petrus erlebt, was Schwerkraft ist. Er spürt: Seine Füße und Beine, der Rumpf und die Arme und der Kopf, erst recht der Kopf. Alles furchtbar schwer. So kann das niemals funktionieren, über das Wasser gehen. Und schon sinkt er und schreit und sinkt immer tiefer. Nichts, woran er sich festhalten kann.
Da ist er mir auf einmal sehr nah, dieser Petrus. Und vielleicht Ihnen ja auch, liebe Hörerinnen und Hörer. Einige aktuelle Studien über die Stimmungslage in unserem Land beschreiben mit nüchternen Zahlen, dass sich viele gerade fühlen wie Petrus: Es geht abwärts… Alles fühlt sich furchtbar schwer an. Immer mehr Menschen haben den Eindruck, dass die Krisen sie immer tiefer runterziehen. Und dass sie da nie wieder herauskommen und den Kopf nicht mehr über Wasser halten können. Ich mag sie manchmal kaum noch aufzählen – diese Litanei der gegenwärtigen Katastrophen: Krieg, Energiekrise, Dürren und Fluten, die Nachwirkungen der Pandemie, die soziale Spaltung, Rechtsruck. Wie hat sich das Leben noch einmal früher angefühlt? Besonders schlimm ist es für die Jugendlichen: Dreiviertel der unter 30-jährigen sorgen sich. Nur noch ein kleiner Teil, ein Fünftel blickt positiv auf die derzeitige Lage in unserem Land.[1]
Eigentlich denken wir schon bei der Weltlage immer: Viel weitere schlechte Nachrichten ertragen wir nicht. Es reicht… Aber dann kommen die privaten Katastrophen auch noch dazu: Der Freund ist schwer krank. Furchtbar. Es zerbricht eine Liebe. Noch ein Päckchen mehr zu tragen. Dann wird der Job gekündigt… Beladen. So fühlt sich Leben im Sommer 2023 für viele von uns an. So dass wir auch oft nach jemandem schreien wollen, der uns rettet.
Weil wir vergessen haben, dass wir womöglich allein übers Wasser laufen können. Wir sehnen uns nach Leichtigkeit, die wir doch einmal hatten. "Irgendwas ist wohl gerade an der Schwerkraft verstellt, weil sie uns stärker als sonst nach unten zieht und dort hält."
Über Wasser – Erleichtert
Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
Jesus zieht diesen nassen und zappelnden Petrus nach oben mit seiner ganzen Last. Ich sehe Petrus vor mir, wie er zittert, tropfnass, wie er zu Jesus schaut und dann auf seine Füße, die nun doch wieder auf dem Wasser stehen. Doch, es trägt, das Wasser! Verrückt. Wie kann das sein. Wieso war ich gerade noch so schwer? Ich spüre doch, dass es geht… Noch auf dem See bekommt er eine kleine Standpauke von Jesus – Du mit deinem kleinen Glauben… Wieso diese Zweifel? Wenn ich dir doch sage, dass Du leicht genug bist…
Und erst dann steigen beide ins Boot. Der Sturm hat sich gelegt. Diese ganze Last, die furchtbare Angst, die Petrus wie Blei an den Füßen hing und ihn hätte untergehen lassen – alles abgefallen. Diese Schwere ist er los. Ich stelle mir vor, wie sich die ganze Mannschaft, den Schrecken noch in den Knochen und die Verwunderung auch, total erleichtert fühlt. So schippern sie gelöst und erlöst heim durch die laue Nacht, schauen in den Himmel mit den vielen Sternen und dem Mond. Wie gut das tut.
Nicht immer sind solche Momente planbar, in denen wir Schwere loswerden. In denen einmal das von uns abfällt, was sich auf Herz und Seele gelegt hat. In denen ich die Sorgen ablegen kann, wenigstens für eine Weile einmal zum Erholen.
Von einem solchen erleichternden Moment erzählt ein Gospel: Shackles heißt er. Fesseln. Weil es sich auch so anfühlt, als würden uns schwere Fesseln gelöst, sodass wir uns befreit recken und strecken können. Hände und Füße und Seele, alle schütteln sich, probieren aus, wie sich die neue Freiheit anfühlt. Take the shackles of my feet, so I can dance: Nimm die Fesseln von meinen Füßen, damit ich tanzen kann. Und wer weiß, ob Petrus und seine Freunde auf dem Boot nicht auch vielleicht vor Freude und Erleichterung angefangen haben zu tanzen?
Anleitung zur Leichtigkeit
Die Sache mit dem Seewandel ist leider ein Einzelfall-Wunder geblieben. Öfter scheint Jesus das mit anderen Freundinnen und Freunden nicht ausprobiert zu haben. Trotzdem - die Idee, dass unser Menschenleben leichter werden darf, ist ein Thema für Jesus. Im Matthäusevangelium steht kurz vor seinem Wasserspaziergang das, was Jesus zu den Menschen um sich herum gesagt hat:
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.
Eine Anleitung zur Leichtigkeit. Ja, ich habe gelernt, dass es da wahrscheinlich um damals geltende schwer wiegende Gesetze ging, und um den sanftmütigen Blick von Jesus darauf, sie so auszulegen, dass sie dem Leben dienen können. Damals ging es also nicht um unsere heutigen Belastungen. Erstaunlicherweise schon sehr früh kam aber auch eine andere Perspektive ins Spiel, die diese Worte Jesu, den Heilandsruf, wie sie auch genannt werden, mit größerer Weite hören. Der Kirchenvater Augustin konnte die Härte, von der Jesus spricht, schon viel weiter deuten und so mehr Menschen, ja: uns alle angesprochen sehen:
Was auch immer hart ist in dem, was uns auferlegt ist: die Liebe macht es leicht.[2]
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid mit alledem, was euch hart auferlegt ist; ich will euch erquicken mit meiner Liebe. Doch, ihr sollt etwas tragen, aber das wird nun sanft und leicht sein.
So kann ich die Worte Jesu auch zu mir gesprochen hören: Als eine Einladung zu Leichtigkeit im Leben. Leichter wird mein Leben nicht dadurch, dass ich das Schwere verleugne: Sondern, weil Gottes Liebe zu diesem Leben mich stärker macht und manche Lasten nicht mehr so schwer wiegen. Und weil ich Mühseliges aus meinem Leben in Gottes Hände legen, abgeben darf. Ich fühle mich leichter, weil ich Schwere loswerde. Ich denke an meinen Moment auf dem See – ja, da habe ich etwas von der Liebe Gottes zu diesem Leben gespürt: Geschenkte Leichtigkeit.
Sommergefühl: Mit Gott wirst Du manches Schwere los
Nein, ich kann natürlich nicht täglich im See schwimmen gehen. Aber ich beginne, meine Augen und Ohren offenzuhalten in diesen Wochen. Ich halte Ausschau nach Momenten, die mich herausziehen aus der Schwere des Lebens, aus der Mühsal und den Lasten. Und nicht nur mich natürlich, sondern uns alle.
Ich finde sie da, wo Musik die Herzen erquickt, bei Festivals, auf denen die wir den Bands begeistert applaudieren und einander nett zulächeln und miteinander tanzen. Ich entdecke sie im Wiesengrund in den Flussauen, wo Familien miteinander spielen und wo die Jugendlichen auf dem Skatepark Zeit haben, sich wechselseitig Tricks beizubringen. Auf den Balkonen sehe ich Menschen, die ihre Geranien pflegen und zum Blühen bringen. Ich denke an all die Kinder und Jugendlichen, die in diesen Tagen aufbrechen zu Freizeiten in den Ferien. Vielleicht das erste Mal ganz allein und voll kribbeliger Aufregung unterwegs ohne die Eltern. Oder vielleicht mit einer ersten großen Liebe auf dem Campingplatz. Ich sehe Mütter und Väter, die sich erholen, die Füße hochlegen und die Augen schließen,um die Sonne zu genießen. Kirschen essen und Eis und sich nassspritzen. Wie leicht sich das anfühlt…
Wie leicht sich das anfühlt, wenn man kann aber nicht muss. Nur… manche können halt leider gar nicht und fühlen sich alles andere als leicht. Das ist schwer auszuhalten. Wie können wir das in diesem Sommer machen: Leichtigkeit zulassen? Wo wir ja nicht ausblenden können, dass das Schwere in dieser Welt, manchmal auch im eigenen Leben bleibt und sich nicht einfach in Luft auflöst. Dass andere mühselig und beladen sind? Darf ich da die schönen Dinge einfach genießen, mich erholen? Oder muss ich gleich auch ein schlechtes Gewissen haben? Immer wieder in diesem Sommer höre ich, wie Menschen darüber grübeln. Und stimmt… Es sind dieselben Fragen, die mich ja auch sofort im See beim Schwimmen erwischt hatten…
Dazu gibt es sicher viele Theorien. Was mir bei dieser Frage allerdings besonders gut weitergeholfen hat, ist eine ziemlich herzerquickende Geschichte: "Jesus nimmt frei"[3]. Der britische Kinderbuchautor Nicholas Allen hat sie als sehr lustig gezeichnetes Bilderbuch veröffentlicht.
Die Geschichte beginnt damit, dass Jesus mit seinen Freunden unterwegs ist, erstaunliche Dinge tut und Tag für Tag hart arbeitet, um die Welt schöner zu machen….
… bis er eines Morgens aufwachte und völlig erschöpft war vom Gutes-Tun. An diesem Tag klappten die Wunder nicht so gut und die Geschichten auch nicht.
Jesus geht brav zum Arzt, der ihm zu einem freien Tag rät, um auszuruhen und etwas Schönes zu tun.
Kaum unterwegs, übte Jesus Rad schlagen quer durch die Wüste. Danach nahm er ein erfrischendes Bad. Und ganz zum Schluss unternahm er einen langen Ausritt auf seinem Esel, was ihm schon immer besonderen Spaß gemacht hatte. Es war ein wundervoller Tag. Aber gegen Abend, als er in der Sonne saß, wurde Jesus plötzlich traurig und dachte: Eigentlich war es ein verlorener Tag, denn ich habe niemandem geholfen.
Randvoll mit schlechtem Gewissen wendet sich Jesus an Gott. "Schau mal kurz auf die Erde runter", rät Gott.
Überall, wo du Rad geschlagen hast, sind in der Wüste Wasserquellen entsprungen. Wo du jongliert und gepicknickt hast, tragen die Bäume die herrlichsten Früchte. Während du geschwommen bist, hatten die Fischer großes Glück… und alle, die du auf deinem Esel getroffen hast, wurden plötzlich froh. Du siehst: Nur, wenn du selbst froh bist, kannst du auch andre froh machen.
Leichter soll es werden, nicht schwerer, unser Leben. Darum wünsche ich uns, dass wir viele dieser leichten Momente in diesen Wochen genießen und sammeln, auf den Seen, mit Blick in den Himmel, im Wald, auf dem Balkon oder in der Eisdiele. Auch sie tragen Früchte für unser Leben und lassen uns vertrauen: Mit Gott wird unser Leben Schwere los…
…und vielleicht, liebe Hörerinnen und Hörer begegnen wir uns irgendwo… beim Eisessen, beim Wandern oder… auf einem See… und dann winken wir uns zu, leichthin und wissend….
[2] Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17), EKK I/2, Neukirchen 1990, 210.
[3] Nicholas Allan, Jesus nimmt frei, Kevelaer 1999, 9. Aufl. 2021
Die Evangelische Morgenfeier
"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."
Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.
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