Lesen und schreiben lernen – anstrengend und wunderbar

Etwa 6000 Jahre liegen zwischen uns und der Menschheit, die die Schrift entdeckt. Schreiben und lesen. 6000 Jahre - im Vergleich zum Alter unseres Planeten, zum Alter des "Homo sapiens" ist das nur ein kleiner Moment. Die ältesten Tontäfelchen mit Schriftzeichen wurden in Europa gefunden, in Rumänien. Die Zeichen, mit denen sie beschrieben sind, haben alle Merkmale einer Schrift, sagt die Wissenschaft. Allerdings bleibt die Entzifferung dieser Schrift bislang noch ein Rätsel. 

Es ist eine einzigartige Kulturleistung der Menschheit, vom gehörten Wort zum geschriebenen Wort zu kommen. Und eine Schrift zu entwickeln, die es ermöglicht ein Wort zu lesen und wieder zum Klingen bringen.

Jeder Junge, jedes Mädchen, das grad irgendwo in der Welt mühsam das Lesen lernt, merkt es: lesen lernen wir nicht nebenbei wie das Sehen, Hören und Reden. Mit diesen Fähigkeiten kommen wir auf die Welt, sie sind uns angeboren. Lesen aber – dafür muss durch geduldiges Üben erst eine passende Struktur in unserem Gehirn entstehen. 2000 Stunden, heißt es, braucht es bis aus einem Leseanfänger ein geübter Leser wird, der sich nicht mehr mühsam von Buchstabe zu Buchstabe hangelt, sondern flüssig lesen und das Gelesene verstehen kann.

Heutzutage wird erforscht, was zum Lesenlernen hilft. Forscher empfehlen sehr, dass laut gelesen wird.  Als meine Schwester, 2 Jahre älter als ich, lesen lernt, ermuntern meine Eltern sie, mir vorzulesen. Meine Schwester liest mir eine Geschichte vor, und immer wieder ist dabei von der "großen Mutter" die Rede. Und ich erinnere mich, wie ich mir dazu innere Bilder gemacht habe: ja es gibt kleine Mütter und große Mütter. Die schauen vielleicht aus wie die Bavaria auf der Theresienhöhe, nur nicht aus dunklem Metall und nicht ganz so groß. In Sekundenschnelle reiht sich Gedanke an Gedanke, Bild an Bild. Und das ist doch etwas Wundervolles, was wir beim Lesen und beim Vorgelesenbekommen erleben. Eine ganze Welt tut sich auf in Kopf und Seele. Erst ganz am Schluss merkt meine Schwester – die große Mutter muss eigentlich "Großmutter" heißen.

Und manche machen es bis an ihr Lebensende – einander Vorlesen.  Ein hochbetagter Mann erzählt es mir beim Beerdigungsgespräch. Er und seine verstorbene Frau haben sich immer etwas aus der Bibel vorgelesen, am Sonntag nach dem Frühstück. Früher sind sie gern in die Kirche gegangen, aber das ließen ihre wackeligen Beine irgendwann nicht mehr zu. Und denken Sie nur, von so einem Stück Bibel, das bei uns erklungen ist, da blieb schon mal ein Wort, ein Satz hängen und wurde weiter bewegt einige Tage lang in unserem Kopf.

Lesen, hören, das ist Herzensbildung. Wir brauchen es wie das tägliche Brot. Wir sollten uns die Worte der Bibel zu eigen machen, nach Art der frühen Mönche, hat Martin Luther empfohlen. Sie pflegten die Ruminatio, das heißt eigentlich das Wiederkäuen. Ja, sie wiederholten Bibelworte, kauten auf ihnen herum, sie meditierten die Worte. Und darum geht es nach Luther, wenn wir die Bibel lesen: "das buchstäbliche Wort der Bibel treiben und reiben, lesen und wiederlesen mit fleißigem Aufmerken." So tritt das Wort der heiligen Schrift in Beziehung zum eigenen Leben. Die eigene Lebenserfahrung beleuchtet das Wort der Bibel und umgekehrt. Die schönsten Choräle sind daraus entstanden.

Lesen als Wunder der Vergegenwärtigung

Lesen ist eine Hilfe beim Glauben, nicht nur weil wir mit dem Lesen uns selbst in die Bibel vertiefen können.

Lesen hilft uns außerdem einfühlsam zu werden, es stärkt unsere Gabe zu Empathie. Dazu aber dürfen wir nicht nur lesen, wie wir es manchmal morgens mit unserer Zeitung oder dann den Tag über am Computer machen. Schnell mal einen Artikel überflogen, vielleicht nur die Zusammenfassung am Ende des Artikels gründlich gelesen. Wer nur noch so liest, kann es verlernen, lustvoll vertieft zu lesen. Das lustvoll vertiefte Lesen ist ein Weg zu mehr Mitgefühl, zu mehr Empathie. Leseforscher haben sich die Hirnaktivität angeschaut bei Menschen, die vertiefte Leser und Leserinnen sind.

Und sie konnten entdecken: liest der Mensch von einem raschelnden Seidenkleid einer Romanfigur, dann werden in seinem Gehirn die Areale aktiviert, die mit dem Tastsinn zu tun haben. Springt die Romanfigur aus der Kutsche, so aktiviert das die Areale, die für unsere Bewegungen zuständig sind. Das zeigt schon, dass wir uns mit einer Figur aus einem Roman vernetzen, ihre Gefühle werden zu unserem Gefühl, ihre Weltsicht die unsere. Meistens nur für die Momente, in denen wir uns in die Lektüre vertiefen. Dennoch dieses in einen anderen Menschen geschlüpft zu sein, das schult unser Mitgefühl, bereichert unsere Menschenkenntnis, unterstützt uns dabei, uns in andere einzufühlen. Eine unverzichtbare Zutat für das zentrale Gebot unseres Glaubens: liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Das Lesen erlernen

Kann jeder Mensch ein vertiefter Lesender werden?  Es spricht viel dafür, dass es Menschen gibt, die grad dazu kein Talent haben. Sie haben eine Leseschwäche – und die Schulen haben das oft behandelt wie Faulheit oder geistige Behinderung. Oft haben Menschen mit Leseschwäche ihre Kindheit zweigeteilt erlebt: eine schöne Kindheit vor der Schule, und dann eine einzige Quälerei. Zum Glück ist hier etwas dabei sich zu verändern. Heute weiß man: Leseschwäche oder Legasthenie ist nicht Faulheit oder ein geistiges Handikap.  Leseschwäche entsteht, weil die Gehirne von Legasthenikern anders organisiert sind als bei den Lesefähigen.  Oft sind Menschen mit Leseschwäche höchst kreativ.

Leonardo da Vinci gilt als Universalgenie. Er war Bildhauer, Architekt, Anatom, Mechaniker, Ingenieur und Naturphilosoph. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit war er Legastheniker – das lassen seine bizarren, überbordenden Notizen vermuten. In Spiegelschrift geschrieben von rechts nach links strotzen sie von Schreibfehlern und sprachlichen Absonderlichkeiten. Seine Biografen berichten, da Vinci habe sich im Umgang mit Sprache nicht wohl gefühlt und häufig betont: ich kann nicht lesen. Wenn da Vinci sich ein ideales Malerleben vorstellt, dann gehört dazu unbedingt ein Vorleser.

Da gibt es also die einen, die lieben das Lesen, können dabei mühelos in andere Welten eintauchen. Anderen wird das Lesen nie ans Herz wachsen, sie haben einen anderen Zugang zur Welt. Selbst wenn sie unter Extramühe irgendwann gelernt haben zu lesen -  eine große Lesefreude entsteht meistens nicht.  Zum Glück gibt es so viele gute Bücher zum Anhören. Heutzutage muss niemand mehr selber lesen, um in den Genuss zu kommen, in anderen Welten umherzugehen und durch das Auge anderer Leute das Leben anzuschauen. Und dabei zu wachsen in Sachen Mitgefühl und Einfühlungsvermögen.

Wir, die Eltern, die Großeltern, Tanten, Patenonkel wir sind nah dran an Kindern. Wir können mithelfen, dass Kinder zu Lesefreund:innen werden. Das fängt schon im Babyalter an. Nimm dein Kind, deine Enkelin auf den Schoß und lies ihr vor, was auf den Bilderbuchseiten steht. Schau dir mit dem Baby die bunten Bilder an und spricht mit ihm. So wächst der Wortschatz ganz nebenbei. Ein Lesegesamterlebnis: die Nähe eines geliebten Menschen und ein Buch, aus dem eine Geschichte heraussteigt. Meiner Erfahrung nach liebt das jedes Kind.  

Mein 8jähriger Enkel ist ein kreatives und munteres Kind, das kaum je still sitzt.  Lesen wir ihm vor, kuschelt er sich an uns und alle Unruhe ist verschwunden.  Die Geschichten schlagen ihn in den Bann, sie nehmen ihn auf, er darf durch Harry Potters Augen schauen oder mit Michel von Lönneberga Streiche aushecken. Ich wünsche meinem Enkel, ja ich wünsche es allen Kindern – dass sie entdecken können, welche Welten sich in Büchern für sie auftun.

Ich bin eine Leserin – und weiß, dass das Lesen mein Leben auf viele Weise fördert und unterstützt. Lesen tröstet, gibt Geborgenheit, regt auf, regt an. Und manchmal ist es wunderbar, wenn uns jemand vorliest. 

Sonntagmorgens bekommt, wer will, etwas Kostbares vorgelesen – die Worte aus der Heiligen Schrift. Im Radio oder in der Kirche hören wir Bibelworte. Auch in ihnen tun sich Welten auf, manchmal sogar der Himmel.  Und manchmal geht mir eine gut vorgetragene Lesung im Gottesdienst mehr unter die Haut als alles andere, was sonst noch gesagt wird. Lesen - welche Wonne.

Gottes Wort verinnerlichen, verschlingen

Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Das gesprochene, das gehörte, das geschriebene Wort. Und es formt eine ganze Welt. Der logos, wie ihn die griechischen Philosophen nennen. Gott ist das Wort. Das lebendige, das Wahrheit aufdeckende, das tröstende, das wach machende Wort. Es gibt eine Geschichte in der Bibel, die zeigt: das gelesene, verinnerlichte Wort ist das einzige, was hilft, um größte Krisen zu überleben. Ezechiel, ein Priester aus Jerusalem, der vor 2.500 Jahren Krieg und Deportation erlebt hat, hat die Geschichte aufgeschrieben.

Ezechiel schaut Gott in seinem Thron. Schaut die Cherubim, die Engel mit den Flügeln, schaut Räder in Bewegung, übersät mit unzähligen Augen.  Feurige Kohlen. Blinkendes Kupfer, Räder aus Türkis, die Himmelsfeste wie Kristall, und darüber ein Thron aus Saphir.

"Wie der Regenbogen steht in den Wolken, wenn es geregnet hat, so glänzte es ringsumher. So war die Herrlichkeit des HERRN anzusehen." 

In diesem fantastischen Szenario von Farbe, Feuer und Bewegung wird der Prophet von Gott überwältigt und bekommt seinen Auftrag: die schwere Aufgabe, Widerstand zu leisten, den Menschen Wahrheiten zuzumuten, die sie nicht hören wollen. 

Doch das ist nicht alles. Die Stimme sagt: Ich sende dich als Propheten zu meinem abtrünnigen Volk Israel und zu allen andern abtrünnigen Völkern. Sie haben harte Köpfe und verstockte Herzen. Sie sind ein Volk des Widerspruchs. Du Menschenkind du sollst ihnen meine Worte sagen, ob sie hören wollen oder nicht. Nun widersprich du mir nicht, sondern mach was ich dir sage.  Und dann hält Gott ihm eine Schriftrolle hin, vorn und hinten beschrieben. Nicht nur auf einer Seite, wie bei den irdischen Schreibern von Schriftrollen. Auf Gottes Schriftrolle drängen sich Worte auf beiden Seiten. Und Ezechiel liest geschwind – dort steht nichts als Klage, Seufzer und Wehgeschrei. Und schon wird er aufgefordert: Iss. Und er isst die ganze Rolle mit ihren bitteren Worten.

Und schau, wie er auf ihr herumkaut, füllt sich sein Mund. Und es schmeckt köstlich, süß wie Honig. 

Für einen Moment wird es ihm versüßt – sein neues Amt, mit dem schweren Auftrag, denen das Wort Gottes zu sagen, die es eigentlich nicht hören wollen. Stellt man sich das leibhaftig vor, muss Ezechiel eine riesige starre unverdauliche Pergamentrolle zerkauen und herunterschlucken. Dieser Prophet soll nicht nur Sprachrohr Gottes sein, wie alle vor ihm, hier passiert eine Verschmelzung. Das göttliche Weh und Ach über Krieg, Verschleppung, Verwüstung, eine Art kosmische Trauer, so unverdaulich wie die Rolle selbst, verinnerlicht hier ein Mensch, um sie von nun an unter die Menschen zu bringen.  Mit seinem ganzen Körper. Diese Schrecken lassen sich nicht einfach abschütteln. Sie graben sich ein ins Gedächtnis, hinterlassen Narben auf Leib und Seele. Und Kleinigkeiten, wie Geräusche oder Gerüche, können die Schrecken antriggern, und dann steht man wieder auf den Gassen seiner Stadt und schaut auf Gemetzel und Tote. 

Es ist alles aufgeschrieben auf der göttlichen Schriftrolle, damit es nicht vergessen wird. Und wer liest, wer Gottes Wort verinnerlicht, kann anfangen, zu verstehen, zu verarbeiten, zu verdauen.

Mich berührt dieses archaische Szenario. Wie Ezechiel die Buchrolle verzehrt. In seiner Welt sind solche Schriftstücke kostbar, keine Massenware, jede Rolle unter Mühen hergestellt. Es ist ein langwieriges Verfahren, aus Tierhaut Pergament zu fertigen. Es braucht Ausdauer und Geduld, eine Schriftrolle Zeile um Zeile zu beschreiben. Wer Gottes Wort schreibt, will es fehlerlos tun. Mit welcher Andacht und Ehrfurcht nimmt man so eine Rolle in die Hand, und jetzt gar in den Mund? Die Rolle zu verzehren – das Unverdauliche zerkauen. Umso erstaunlicher, dass sie im Mund des Propheten zu einer köstlichen Süßigkeit wird. Eine innige Liebe lesen ich dort heraus, eine innige Liebe zu Gottes Wort, zu Gottes geschriebenem Wort. Und eine große Verheißung: wer es verinnerlicht, findet zur Süße des Lebens zurück.

Wir müssen heute nicht unbedingt das Buch Ezechiel lesen, um etwas zu erfahren darüber, wie ein Trauma aussieht, wie Menschen fühlen und was in ihnen dabei vorgeht. Die Neurowissenschaften und eine große therapeutische Bewegung hat das genauestens entschlüsselt. Wir kennen das ABC der Seele – zumindest weitgehend. Dieses Wissen kann uns helfen, um Schulkinder aus Syrien, aus der Ukraine, aus Afghanistan zu verstehen, die nun bei uns leben. Sie kommen mit ihrem Wissenshunger, wollen Deutsch lernen und ihre neue Umgebung verstehen. Gleichzeitig müssen sie so viele verwirrende Eindrücke in ihrer Seele verarbeiten.

Doch wir brauchen auch etwas, das unseren Horizont weitet. Und das tut das Ezechielbuch.  Ist es doch ein sehr frühes Dokument der Menschheitsgeschichte, das uns in Erinnerung ruft: die Fluchtbewegungen heute sind nicht die ersten auf dieser Erde. Auch die im 6. Jahrhundert vor Christus war ja nicht die erste, immer wieder sind Menschen auf der Flucht oder werden vertrieben. Und: so zerstörerisch solche Bewegungen sind - das Volk Israel macht in dieser Katastrophe die Erfahrung, dass es mit seinem Gott nicht am Ende ist. Dass er nicht gebunden ist an die heimatliche Scholle, an ein Gotteshaus und immerwährende Ordnungen. Die Herrlichkeit Gottes erhebt sich aus dem Tempel in Jerusalem und zieht aus Richtung Osten, zu den Deportierten am Fluss Kebar, so schildert es Ezechiel in einer weiteren berührenden Vision. Gott geht mit, hat der Volksmund daraus gemacht. Es gibt keinen größeren Trost für Menschen in der Fremde, als zu erleben, bei Gott bin ich kein Fremdling. Bei ihm behält meine Seele ihr Obdach. Gott ist mit mir in die Fremde gegangen. Er richtet auch hier sein Wort an mich, ich kann es lesen, hören, verinnerlichen.

Damals ist ein Bewusstsein dafür entstanden, was wir Christen den Heiligen Geist nennen. Vom ersten Kapitel des Ezechiel-Buches an bis zum letzten taucht ein Wort auf, das hier so häufig wie in keiner anderen Schrift der Bibel vorkommt: Ruah. Geistkraft würde man übersetzen, doch ein einziges deutsches Wort reicht nicht ganz aus, um alles zu fassen: Wind, Geist, Leben, Sinn, Mut, Odem, Windrichtung.  Er ist Wind, bewegt die Segel der Schiffe und die Windräder ... Er ist Antriebskraft, Lebensgeist, das was in uns atmet und uns zu lebendigen Wesen macht. Und er ist Inspiration. Gibt uns eine Sprache, mit Gott zu reden, zu jubeln und zu klagen und gibt uns Gedanken, die das Unmögliche für möglich zu halten. Spirituelle schöpferische Kraft ist der Geist, der jeden Buchstaben lebendig macht.

Liebe Leserin, lieber Leser, 20 Jahre lang habe ich mit Ihnen Morgenfeierzeit verbracht. Es hat mir Freude bereitet. Heute verabschiede ich mich und bitte Gott um seinen Segen für Ihre und meine Wege.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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