Macht hoch die Tür…

Kindheitserinnerungen an den 1. Advent, Ende der 60er Jahre. Versammelt um den alten Sofatisch meiner Großmutter - es riecht nach Tannengrün - singen wir mit der ganzen Familie: "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit…". Für mich als Kind eine heile Welt. Getaucht in Wärme und Gesang, in Marzipan und Heiße Schokolade. Ein Fest der Sinne. Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören, als gäbe es nichts Anderes. Nur diesen erwartungsvollen Wohlklang. In den Gesichtern meiner ostpreußischen Großmutter und meiner Großtante aber: feuchte Augen. Sie haben als junge Frauen Flucht und Vertreibung erlebt und einen Neuanfang buchstäblich aus dem Nichts. In schönen Momenten kommen ihnen immer die Tränen - aus Trauer, aus Freude. Emotion pur, die sich in meinem Gedächtnis eingegraben hat.

Natürlich war auch damals schon, als ich Kind war, die Welt nicht heil. Der kalte Krieg zwischen Ost und West setzte Armeen in Bereitschaft und Erwachsene in Alarmzustand. Die Verwandtschaft in Ostberlin war durch eine dicke Mauer von uns getrennt. Vielleicht hatte der Advent damals so eine große Wirkung auf mich, weil ich das, wonach die Erwachsenen sich sehnten, in diesem Lied irgendwie spüren konnte:

Geöffnete Türen und Tore. Freiheit. Die Erwartung, dass göttliche Herrlichkeit das Dunkel vertreibt und Licht, Leben, Frieden bringt. Neu anfangen hilft.

Neues legt sich Schicht um Schicht auf das Vergangene

In der neuen Nationalgalerie in Berlin habe ich vor kurzem Bilder von Gerhard Richter gesehen. Sie deuten auf all das, was nach 1945 zu betrauern war und immer noch ist. Und es gab viel zu betrauern … sehr viel…. Vier großformatige Rechtecke, nebeneinandergestellt. Vordergründig sehe ich nur abstrakte Formen und Farben: Schwarz, Grau, Grün und Rot. Von Bild zu Bild nimmt die Farbigkeit etwas zu, aber der Eindruck bleibt düster. Kein Vergleich zu seinem farbintensiven Glasfenster im Kölner Dom. Alle Farben und Schattierungen in kleinen Vierecken durchscheinend, und wenn die Sonne darauf fällt, leuchtet es hell und bunt in den Raum hinein. In Berlin gibt das Thema etwas Anderes vor. Die vier Werke tragen den Titel "Birkenau". Ich erfahre von vier Fotografien, die 1943 heimlich im Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau von einem Häftling aufgenommen wurden. Richter malt diese Fotos, die das Grauen aufzeigen, Jahrzehnte später mit dem Pinsel auf Leinwand. Dann bearbeitet er sie. Trägt Schicht um Schicht Ölfarbe auf, ritzt Farbe wieder ab und arbeitet so lange bis die abstrakten Bilder entstehen.

Ich sehe darin den Versuch das Grauen der Konzentrationslager auszudrücken, im Wissen, dass es niemals zu fassen ist.

Dennoch schwingt das alles beim Betrachten dieser Bilder mit. Ich ahne: darunter ist mehr. Die Gräuel werden nicht vergessen. Das, was geschehen ist, löst sich nicht auf, auch wenn anderes sich davorschiebt.

Es ist wie ein Bild für die menschliche Seele. Das Schwere, das Bedrückende kann man nicht irgendwie loswerden, abwimmeln, bekämpfen oder gar auslöschen, als hätte es nie existiert. Es bleibt, es verschwindet nicht, wir tragen es in uns. Aber es darf Schicht um Schicht, nach und nach Neues hinzukommen. Farben, Formen, Gedanken, Erlebnisse und neues Leben.

Dem Frieden die Tür öffnen

Die Jüdin Margot Friedländer ist heute 102 Jahre alt. Als ihr Bruder und Ihre Mutter 1943 von der Gestapo verhaftet und dann in Ausschwitz ermordet werden, lebt sie in unterschiedlichen Verstecken in Berlin. Dann kommt auch sie nach Theresienstadt und überlebt. Wandert zusammen mit ihrem Mann nach New York aus. Beginnt ein neues Leben. Und kehrt zurück. Seit 2010 ist sie wieder in ihrer Heimatstadt Berlin. In diesem bewegten Leben nochmals ein Neuanfang, mit fast 90 Jahren. Zahlreiche Freunde in Amerika können es nicht verstehen, dass sie ins Land der Täter zurückkehrt. Aber Margot Friedländer empfindet keinen Hass, sie will Hände reichen. Sie erzählt Schülerinnen und Schülern von ihrer Lebensgeschichte, ruft dazu auf, die Menschen zu respektieren und erklärt: "Ich denke, dass in jedem Menschen etwas Gutes ist." Natürlich beobachtet auch sie den wachsenden Antisemitismus. Das zu sehen, ist für sie ganz entsetzlich. Sie sagt in einem Interview vor wenigen Wochen: "Ich hätte es nie gedacht, dass das möglich ist. So hat es damals auch angefangen. Ich bin nicht überrascht, nur enttäuscht und traurig."[1]

Seit dem 7. Oktober…ist es, als wäre nichts Neues dazugekommen, als wären wir in einer grausamen Wiederholungsschleife. Hass auf Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt kennt kein Maß…. entfesselt von einer Horde mordender Hamas-Terroristen. Es geschieht am helllichten Tag, nicht weit von Jerusalem entfernt. Messer, Waffen, Männer, wie von Sinnen, in ihrer unbändigen rohen Gewalt. Und sie filmen und fotografieren sich dabei. 

Als solle es keinen Ort auf der Welt geben, an dem Jüdinnen und Juden in Ruhe leben können. Sie fühlen sich allein gelassen, den Angriffen schutzlos ausgeliefert. Und zu wenige gehen für sie auf die Straßen.

Der Pianist und Jude Igor Levit ist entsetzt über die Teilnahmslosigkeit. Dabei gab es in unserem Land immer Solidarität mit Menschen, die Opfer von Gewalt wurden.

"Und jetzt? Was ist jetzt? Jetzt sagt man mir: es ist kompliziert. Jetzt sagt man mir: na ja, du, die Israel-Thematik ist so vielschichtig- Ich bin kein Israeli. Ich bin Jude in Deutschland, mit allem, was dazugehört, mit allen auch wirklich Schwierigkeiten, die dazu gehören, emotional. Und ich erlebe Teilnahmslosigkeit. Das ist der eigentlich schlimme Bruch." [2]

Dennoch glaubt Levit an Versöhnung, sie ist für ihn alternativlos. Er will nicht, dass das so bleibt. Wir finden Lösungen nur, wenn wir einander zuhören, sagt er.

Heute und an den kommenden Sonntagen entzünde ich die roten Kerzen am Adventskranz. Auch ich will die Hoffnung auf eine andere Welt, wo Frieden und Mitmenschlichkeit lebendig sind, nicht aufgeben. Und doch hinterlassen die vergangenen Wochen Zweifel in mir. Hass und Hetze, radikale Ansichten und krude Verschwörungstheorien lassen sich in unserem Land nicht mehr überhören. Wohin steuern wir? Jedenfalls ist für mich die Hoffnung auf Gottes Wirken nur zu haben, wenn auch wir selbst bereit sind genau hinzusehen, uns einmischen, zuhören! Dem Frieden die Tür öffnen.

Große Portale für die majestätische Energie Gottes

"Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …"Dieses Adventslied ist genau 400 Jahre alt. 1623 hat es der Königsberger Pfarrer Georg Weissel geschrieben. Es ist die Zeit nach dem Wüten der Pest. Unglaubliches Leid haben die Menschen erlebt. Einmal dem Erreger ausgeliefert, waren die Überlebenschancen ziemlich gering. Allein im Jahr 1620 sind in der Stadt 15.000 Menschen der Epidemie erlegen. Nach unseren Coronajahren ahnen wir ein wenig, was das damals bedeutete. Nur drei Jahre später aber weiht diese Stadt im Advent eine neue Kirche ein. Die Altroßgärtner Kirche -  mit diesem Adventslied. 

Ich stelle mir vor wie damals die neu errichteten Portale geöffnet und die staunende Gemeinde unter Gesang das Gotteshaus betreten hat. Sicher haben viele ihre kleine Hoffnung auf bessere Zeiten in diesen Raum hineingetragen. Haben Kerzen entzündet um Gott zu bitten um eine Welt voll Sanftmut und Barmherzigkeit. Ein Kirchenraum ist kein beliebiges Haus: hier geht es um Gerechtigkeit, um Wahrheit...hochaktuell! "Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug" der darf näherkommen, eintreten. (Psalm 24,4) So heißt es im Psalm für den 1. Advent und so steht es über dem Eingang von Synagogen geschrieben: "Dies ist das Tor zum Herrn, nur Gerechte treten ein." (Psalm 118, 20)

Im 6. Jahrhundert vor Christus ist der 24. Psalm entstanden, am Jerusalemer Tempel. In einem Wechselgesang zwischen Priestern und Gläubigen hat man ihn sich zugesungen. Ein Glaubensbekenntnis zu Gott dem Schöpfer, der durchaus auch etwas von seinen Menschen, von uns erwartet.

Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist,
der Erdkreis und die darauf wohnen.
Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.
Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?
Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist,
wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug:
der wird den Segen vom HERRN empfangen
und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils.
Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt,
das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch,
dass der König der Ehre einziehe!
Wer ist der König der Ehre?
Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit.
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe!
Wer ist der König der Ehre?
Es ist der HERR Zebaoth; er ist der König der Ehre. (Psalm 24,1-10)

Hoffnung öffnet Türen

Mit der ersten Kerze des Advents schreiten auch wir durch ein Tor. Die Novembersonntage und manch schwere persönliche Erlebnisse des vergangenen Kirchenjahres liegen hinter uns. Die Adventssonntage stimmen uns auf Neues ein. Wir sollen neu anfangen. Aber wie soll das gehen? Das ganze Schlamassel der Vergangenheit lässt sich doch nicht ablegen, wie ein alter Mantel oder einsperren hinter verschlossenen Türen.

Die Adventszeit schubst uns an, uns mit der Hoffnung zu befassen. Drei Wochen lang, bis Weihnachten. Hoffnung ist nicht nur ein Gedanke, sondern eine Übung, eine Haltung.

Lieder, Gebete, Gemeinschaft und Tun, was ansteht - Türen der Hoffnung. Das ist, was wir als Christen zusammen mit anderen in die Welt einbringen können. Wer die Vision Gottes von einer guten Welt über Bord wirft, hat schon verloren. Die Hoffnung öffnet Türen. Selbst dort wo alles nur noch trostlos dem Ende zuzurollen scheint. Wir brauchen sie.

Ich denke an das israelisch-palästinensische Restaurant Kanaan in Berlin. Seit neun Jahren wird es von Jalil Dabit, einem Palästinenser und Oz Ben David einem Israeli gemeinsam geführt. Man kann dort nicht nur köstlichen Humus und Fladenbrot essen, sondern auch sehen wie Frieden geht. "Hoffnung ist alles was wir brauchen und dafür haben wir einander!" sagen sie. Und sie wollen etwas Anderes zeigen und sein. Wollen deutlich machen wie Toleranz und Verständigung ganz praktisch funktionieren, in ihrer Küche, in ihrem Restaurant. Gerade jetzt. Dazu gehört auch, dass sie trotz aller Anfeindungen und Drohungen in Berlin ihr Restaurant nicht schließen. Sie halten die Türen geöffnet. Und die Hoffnung. Die innere Tür. Und mir machen sie Mut, mich in meiner Anteilnahme nicht auseinanderdividieren zu lassen. Ich will trauern mit den israelischen Familien, die Angehörige verloren haben und immer noch warten, dass ihre Geliebten, die als Geiseln gefangen gehalten werden, endlich nach Hause kommen. Mit Jüdinnen und Juden trauern, die bei uns leben und mit den palästinensischen Frauen, Männern und Kindern, die in Gaza ausharren, oder ihre Lieben verlieren. Es sterben dort so viele Kinder. In meinem Herzen soll Platz sein für alle. 

Dann ist da der "Wünschewagen" des Arbeiter-Samariter-Bundes. Das Projekt ermöglicht es schwerkranken Menschen in ihrer letzten Lebensphase, medizinisch begleitet, Fahrten zu Wunschzielen zu erleben. Ein Großvater aus Uffenheim möchte so gerne seinen Enkel, der in Turin studiert, einmal besuchen. Ein Herzenswunsch. Sein Gesundheitszustand erlaubt es ihm nicht, sich einfach aufzumachen. Das Team des "Wünschewagen" macht es möglich! Enkel und Großeltern gehen zusammen italienisch essen, besichtigen die Studenten-WG, den Schokoladenmarkt, die Universität und den Dom mit dem Turiner Grabtuch. Dem Großvater geht es gesundheitlich so gut, wie schon lange nicht mehr. Von diesem Ausflug werden alle noch lange zehren und ihn dankbar in ihrem Schatzkästlein der Erinnerungen behalten. Das kann niemand wegnehmen, das bleibt.

Herzenstüren öffnen

Grenzen, Zäune, Abschottung und Hass, sie sind das Gegenteil von geöffneten Türen. Ehrlicherweise muss man ja sagen, dass es eben auch zu unserem Sicherheitsgefühl gehört, dass die eigene Haustür verschließbar ist. Als ich in Studienzeiten eine Freundin in der Schweiz zum ersten Mal besucht habe, da habe ich nicht schlecht gestaunt. Als ich dort ankam, war sie nicht zu Hause, aber sie hatte mir am Telefon gesagt, dass ich schon einmal zur angegebenen Adresse fahren solle. Haustür und Eingangstür bräuchte ich nur anzustupsen, sie seien bei ihr immer offen.

Was für ein Urvertrauen: offene Türen mitten in einer Großstadt. Klar Reichtümer waren da nicht zu holen, dennoch: ich wäre nie auf die Idee gekommen den Türschnapper in meiner WG auf "Geöffnet" zu stellen. Aber ich erinnere mich bis heute an dieses Gefühl von unglaublicher Freiheit und Gastfreundlichkeit, als ich damals erst durch die geöffnete Haustür- und dann auch die Wohnungstür ging.

Der Liederdichter Weissel richtet den Blick in seiner letzten Strophe von "Macht hoch die Tür" auf die Herzenstür. Diese zu öffnen oder zu verschließen, das liegt in meinen Möglichkeiten. Im Lied lässt er uns bitten: "Komm, oh mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist. Ach zieh mit deiner Gnade ein; dein Freundlichkeit auch uns erschein. Dein Heilger Geist uns führ und leit…" (EG 1,5). Damit beginnt wohl alles Neue, dass Gott Einzug hält im Herzen und es schafft uns mit neuer Energie und Hoffnung zu erfüllen. Er macht, dass wir auch anders können.

Und plötzlich öffnet sich die Herzenstür und er traut sich endlich den Anruf zu, den er so lange vor sich hergeschoben hat. Sie fordert das längst überfällige klärende Gespräch ein. Die Herzenstür öffnet sich für uns selbst, weil wir auch für uns selbst Sorge zu tragen haben. Oder wir engagieren uns für Geflüchtete, für Obdachlose, für die kranke Nachbarin, für die vielen, die niemand sieht.

Es ist immer ein Wagnis, die Herzenstür zu öffnen. Man zeigt da auch etwas von sich selbst. Man wird verletzlich, verwundbar. Man hört anders zu. Und es darf etwas hineinkommen, was ich mir selbst nicht geben, ausdenken, schaffen kann. Wo meine Herzenstür nur einen Spalt breit sich öffnet, wird der Geist Gottes mir Neues und Hilfreiches zuspielen.

 

[1] Holocaust-Überlebende Margot Friedländer im Gespräch | WDR Aktuelle Stunde; https://www.youtube.com/watch?v=hrJBfsXNp1Y

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