Spirituals und ihre Geschichte
Mitte der 70er Jahre, da ging ich noch in Rumänien zur Schule, bekamen wir einen neuen Musiklehrer. Mit Schlaghosen, enganliegendem Hemd. Und mit ganz neuer Musik in der Tasche. Johann Sebastian Bach war ich vorher mit klopfendem Herzen begegnet. Jetzt kam was ganz anderes. "This little light of mine”. Go down, Moses. Swing low sweet chariot. Spirituals. Lieder vom anderen Ende der Welt, die hinterm Eisernen Vorhang für uns unerreichbar war. Umso kostbarer war alles, was durch die Ritzen und Löcher durchsickerte. Die Melodien eingängig, der Rhythmus packt dich. Du schwingst gleich mit, klatschen, schnipsen – alles ist Musik. Mit einem kleinen Chor durften wir die Spirituals sogar in der Hauptstadt singen. Man nahm Mose, der sein Volk in die Freiheit führt und dem Pharao widersteht, nicht ernst, nicht beim Wort. Sie klangen harmlos, diese Lieder. Sie entkamen der kommunistischen Zensur und wir mit ihnen, wenn wir sie sangen.
Sehr viel später habe ich die Geschichte dieser Lieder kennengelernt. Und die ist alles andere als harmlos. Spirituals sind die Lieder der afrikanischen Frauen und Männer, die als Sklavinnen und Sklaven vor allem im Süden Amerikas entwürdigt wurden. So viel weiß jeder. Es fing vielleicht mit einem Summen an, wie wenn ich mich selbst beruhige. In den Schlaf singe. Denn anders als Gospels, die komponiert werden, sind die Spirituals direkt aus Herz, Bauch und Kehle gekommen. Aus einer einzigen Liedzeile vielleicht, und dann von Mund zu Mund gegangen. Auf den Baumwollplantagen, oder am späten Abend in den armseligen Hütten, nach getaner Arbeit. Erst eine Melodie vielleicht, dann ein paar Worte dazu. Das Ächzen und Sehnen, die Arbeitsplage und das Träumen – die Hände, die gekrümmten Rücken, die Erdenschwere und die süße Hoffnung auf Erlösung– all das swingt in diesen Liedern.
Schaukle sanft, lieblicher Wagen,
Gekommen, um mich nach Hause zu holen.
Ich schaute über den Jordan, und was sah ich da
Gekommen, um mich nach Hause zu holen?
Eine Gruppe von Engeln kommt zu mir,
Sie kommt, um mich nach Hause zu holen.
Engel mögen mich in einem Wagen forttragen, so könnte man diesen Text verstehen. Weg von hier, in den Himmel, nach Hause. Eine schlichte einfache Jenseitshoffnung. Sie wird ja dem Christentum immer wieder unterstellt. "Hier leide ich, aber ich weiß, dass ich in den Himmel komme, wenn ich sterbe"…
Vielleicht haben auch die Sklavenhalter, die weißen Herrn, das so gehört, und so sollte es auch sein; die Sklavenhalter sollten diese Lieder harmlos finden. Eine Jenseitshoffnung kam ihnen durchaus entgegen. Der Wagen, das Fahrzeug, wörtlich der Streitwagen– was soll das schon bedeuten? Es ist den Sklaven ja ohnehin verboten, sich fortzubewegen. Sollen sie ruhig ihren kindischen Träumen nachhängen. Und der Jordan – weit weg in Israel. Doch in diesen Worten steckt viel mehr. Man muss sie entschlüsseln wie einen geheimen Code. Dann zeigen sie, wie konkret, wie diesseitig die Hoffnung in diesen Liedern ist. Dann steht der Jordan für den Fluss Ohio, der die Grenzlinie zwischen den Nord- und Südstaaten markiert. Norden – das heißt Freiheit.
Der Ohio bildet also den Übergang nicht zum Jenseits, sondern in ein freies himmlisches Diesseits. Und das Fahrzeug, chariot, der Streiwagen: the band of angels, die Engelschar. Das ist der Code für die geheimen Rettungsaktionen von Harriet Tubman. Harriet Tubman ist eine der berühmtesten Schwarzen Freiheitskämpferinnen der amerikanischen Geschichte. In die Sklaverei hineingeboren, gelingt ihr selbst die Flucht in den freien Norden der Staaten. Aber sie kehrt immer wieder zurück in den Süden und baut eine ein Fluchthilfenetzwerk auf. The Underground Railroad. Geheimgänge, Fuhrwerke mit doppeltem Boden gehören dazu und mutige Menschen: Weiße und Schwarze, Freie und entkommene Sklavinnen. Sie wollen möglichst viele in den freien Norden schleusen und es ist ihnen auch gelungen. Sehr viele Menschen sind gerettet worden. In Swing low hofft man auf chariots, auf die Fuhrwerke von Harriet, und wenn man von der Engelschar singt auf Harriet und ihre Widerstandsgruppe. Versteht man die Codewörter, könnte der Text so lauten.
Senk dich herab, süßes Gefährt,
das mich in den freien Norden bringen wird.
Ich schaue über den Ohio Fluss und was sehe ich?
Harriet Tubman und ihre Leute,
die gekommen sind, um mich in die Freiheit zu führen.[1]
Manchmal geht's mir gut, und manchmal geht's mir schlecht,
Aber immer fühlt sich meine Seele mit dem Himmel verbunden.
Wenn du vor mir dort ankommst,
Sag all meinen Freunden, dass ich ebenfalls dorthin komme.
Man muss singen, sprechen reicht nicht
"Gott kommt auf den Schwingen des Gesangs", sagt eine afroamerikanische Theologin über Spirituals. Gott kommt auf den Schwingen des Gesangs. Wer Spirituals hört und mitsingt, spürt diesen Spirit, diesen Geist, diese Kraft, die den versklavten Menschen Mut gemacht hat. In diesem Spirit stehen sie auf gegen Ungerechtigkeit. Suchen die Freiheit. Sprechen reicht nicht. Man muss singen. Immer wieder. Singen greift tiefer. Es prägt sich tiefer ein … bewegt Körper und Seele … man kann es mit anderen zusammen machen. Singen, um wieder glauben und hoffen und lieben zu können. Melodien haben die Kraft, Gefühle in uns zu wecken, von denen wir keine Ahnung haben, bevor wir sie hören. Sie wühlen auf, sagen wir. Sie zeigen uns das Menschliche. Und – das ist das größte Wunder – sie haben zugleich die Kraft, uns auch zu trösten, zu inspirieren.
In der Passionszeit erlebe ich es immer wieder, wenn ich mit meinem Chor eine der großen Passionsmusiken von Johann Sebastian Bach einstudiere. "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen". Wenn die Matthäuspassion so beginnt, wie ein auf und ab von Klage und Trauer, die einen überwältigt, wie ein Wellenmeer. Wie ein Seufzen, das immer wieder herausmuss, dann spür ich alle unterdrückte Klage, für die keine Zeit war. Und ich spüre den Trost. Die Schwingen des Gesangs, auf denen Gott kommt.
Heute am Palmsonntag beginnt die Trauerwoche der Christenheit. Kommt, helft mir klagen. Ich habe so viel Schweres auf dem Herzen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Von Missbrauch betroffene Kinder, Jugendliche, erwachsene Männer und Frauen in unserer Kirche. Die Menschen in Gaza, die israelischen Geiseln – seit Oktober in der Hand ihrer Peiniger. Dass Kinder an Hunger sterben…
Kommt, helft mir klagen.
Ein Hymnus über einen Sklaven
Er legte die göttliche Gestalt ab
und nahm die eines Sklaven an.
Er erniedrigte sich selbst
und war gehorsam bis in den Tod –
ja, bis in den Tod am Kreuz.
Das ist kein Klagelied! Diese Worte stammen aus einem alten christlichen Hymnus. Ein Lobgesang, ein Lied, von dem man auch nicht genau weiß, wie es entstanden ist. Aus einem Summen, aus einer ersten Verszeile. Vielleicht auch von Sklavinnen und Sklaven bei ihrer Arbeit. Denn sie gehören im ersten Jahrhundert zur christlichen Gemeinde.
Er war von göttlicher Gestalt.
Aber er hielt nicht daran fest,
Gott gleich zu sein –
so wie ein Dieb an seiner Beute.
Er legte die göttliche Gestalt ab
und nahm die eines Knechtes an.
Er wurde in allem den Menschen gleich.
In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch.
Er erniedrigte sich selbst
und war gehorsam bis in den Tod –
ja, bis in den Tod am Kreuz.
Deshalb hat Gott ihn hoch erhöht:
Er hat ihm den Namen verliehen,
der hoch über allen Namen steht.
Denn vor dem Namen von Jesus
soll sich jedes Knie beugen –
im Himmel, auf der Erde und unter der Erde.
Und jede Zunge soll bekennen:
"Jesus Christus ist der Herr!"
Das geschieht zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2, 6-11)
Ein Lied ohne Noten, ohne eine vorgegebene Melodie, jedenfalls kenne wir sie heute nicht. Ein Lied, das in zwei Strophen die kürzeste Lebensgeschichte von Jesus erzählt: Er war von göttlicher Gestalt.7Er legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an und wurde hoch erhöht.
Der Knecht heißt Sklave im griechischen Liedtext. Und von diesem Sklaven hört man, er war gehorsam bis zum Tod. Sklave und gehorsam. So reimt sich das seit Menschengedenken. Ich stelle mir vor, die Gemeinden, die diesen Text Stück für Stück formuliert haben, kennen das sehr genau, denn viele von ihnen sind Sklaven. Hausangestellte z.B., denen nichts gehört, nicht mal ihr eigenes Leben. Sie haben zur Verfügung zu stehen mit ihrer Arbeitskraft und mit ihrem ganzen Körper. Arbeitssklaven, Sexsklaven. Die Ehre, der Reichtum der Herren erkauft durch Erniedrigung des Sklaven, so ist es zu der Zeit im ganzen römischen Reich. Und so ist es bis heute geblieben in vielen Ländern dieser Erde. Wir hören dieses Lied heute in einer Welt, die trotz Abschaffung der Sklaverei immer noch so vielen Menschen nichts anderes zu bieten hat als diesen Kehrvers: Sklave und Gehorsam. Wir hören dieses Lied in einer Welt, in der vor allem Kinder, junge Frauen versklavt werden.
Wem predigt dieses Lied Gehorsam?
Wir hören dieses Lied in einer Welt, die nichts so sehr fürchtet, wie den Absturz und den Karriereweg nach oben als einzig gangbaren für einen angesehenen Menschen kennt. Koste was es wolle – nach oben geht es, wenn es sein muss mit Brutalität und Betrug. Das Lied aber singt vom Weg Jesu in die Tiefe, von oben nach unten. Er macht sich denen gleich, die wie Sklaven dienen. Wem predigt dieses Lied Demut? Von welchem "oben" und von welchem "unten" ist die Rede?
Die Klage in der ersten Strophe ist getragen von einem anderen Grundton.
Das Lied beginnt im Glanz, in Herrlichkeit, bei Gott. Und es erzählt die Geschichte Jesu nicht wie ein Verhängnis, das über ihn hereinbricht. Es erzählt nicht im Passiv von ihm. Er ist das Subjekt seiner Geschichte. Er tut alles, was er tut, aus freien Stücken. Kein Pontius Pilatus, kein Volk, das heute "Hosianna" singt und den großen Retter begrüßt und fünf Tage später "Kreuzige ihn" schreit, auch keine Soldaten, die foltern und dem Menschensohn zusetzen, sind hier erwähnt. Dieses Lied singt nur von ihm, er allein handelt. In die Klage mischt sich so von Anfang eine Spur von Freiheit und Unabhängigkeit. Hier handelt jemand so, dass er nicht reagiert auf das, was andere ihm antun. Hier handelt ein Mensch göttlich. Aus sich heraus trägt er etwas Neues in die Welt hinein. Etwas jenseits von Herren und Sklaven.
Mich fasziniert die Bildersprache, die Codewörter: das unheilige Bild vom Räuber und seiner Beute und ein Verb, "sich entäußern", das im Griechischen auch sich entleeren heißt, wie wenn man einen Eimer Wasser ausschüttet. Mit Bildern des alltäglichen Lebens: "Räuber, Beute, Sklave, entleeren, ausschütten" erzählen sich die Menschen in den christlichen Gemeinden das Kostbarste, was sie von Jesus bewahren wollen. Und so formulieren sie den Gedanken der Solidarität im Leiden. Sklaven, die sich ihrer Erniedrigung schämen, - denn so ist es ja verrückterweise auf dieser Welt: die Versklavten schämen sich ihres Zustandes und nicht diejenigen, die es mit ihnen machen. Sklaven, die es selbst schwer haben, sich noch als Menschen zu fühlen, sprechen etwas aus, was revolutionär ist: Er ist einer von uns geworden. Wir erkennen uns wieder in ihm. Als Menschen.
Ein Hymnus als Protestlied
Hier kippt die Klage für mich am deutlichsten in ein Protestlied um. Mit diesem Lied kann niemand Unterdrückung und Entmenschlichung und Versklavung rechtfertigen. Es ist eine Hymne, ein Loblied auf den, der sich selbst zum Sklaven macht, der es nicht hätte machen müssen. Der freiwillig den Weg nach unten geht und damit alle Macht von oben, alle menschliche Tyrannei lächerlich macht; der Subjekt ist, nicht Objekt. Vor ihm kann man niederknien – er ist ein Mensch für andere. Von Gott erhöht.
Dieses Lied hat Paulus in seinen Brief an eine christliche Gemeinde in Philippi in Griechenland aufgenommen, deshalb heißt es Philipperhymnus. Paulus sitzt zu der Zeit im Gefängnis – und dieses kommt ihm vielleicht wie ein Ohrwurm in den Sinn. Er geht in seiner Zelle auf und ab, summt die Melodie, singt eine Zeile. Es gibt ihm Kraft und so will er es teilen mit den Leuten in der Gemeinde.
Spirituals, 1.900 Jahre später, erscheinen wie eine Variation zu diesem alten Hymnus. Wie ein Kommentar. Die Identifikation mit dem Sklaven Jesus, mit seinem Leiden, und mit seiner Überwindung von Leid und Gewalt schwingt mit. Körperlich. Aufstehen, protestieren gegen Ungerechtigkeit, dem Rassismus die Stirn bieten. "Wir werden nicht weichen" "We shall not be moved" – dieser Spiritual hat 100 Jahre später die Menschen um Martin Luther King inspiriert, bei dem großen Marsch in die Freiheit. Und das ist heute auch noch nicht vorbei. Weil wir alle, auch wenn wir es nicht merken, Spuren von Rassismus in uns tragen. Und nicht das neue in die Welt hineintragen, sondern Vorurteile, altes Gift. Und weil eine Politik, die darauf aus ist, Grenzen hochzuziehen um Europa, dieses Gift weiterträgt, Menschenrechte mit Füßen tritt. Und sich jedenfalls nicht christlich nennen kann, wenn sie Feindbilder fördert. "Wir werden nicht weichen, wir kämpfen für unsere Kinder" heißt es im Spiritual. Da will ich dabei sein. Gegen jede Versklavung von Menschen. Und für meine eigene Unabhängigkeit, für mein Menschsein jenseits von Herren und Sklaven.
Welche Lieder singen – wir, heute?
Er war von göttlicher Gestalt.
Aber er hielt nicht daran fest.
und nahm die eines Sklaven an.
Er wurde in allem den Menschen gleich.
Er erniedrigte sich selbst, schüttete sich aus
Deshalb hat Gott ihn hoch erhöht:
Der Hymnus aus dem Philipperbrief fragt mich heute:
Wer sitzt bei dir auf dem Thron?
Kennst du dieses Unten?
Siehst du von dir ab? Nimmst du andere wahr?
Machst du dich leer? Schüttest du dich aus?
Oder musst du selber auf dem Thron sitzen, um jemand zu sein?
Nicht Eigennutz oder Eitelkeit soll euer Handeln bestimmen.
Vielmehr achtet in Demut den anderen höher als euch selbst.
Seid nicht auf euren eigenen Vorteil aus, sondern auf den der anderen –und zwar jeder und jede von euch!
Denkt im Umgang miteinander immer daran, was in der Gemeinschaft mit Christus Jesus gilt: Er war in göttlicher Gestalt, aber er hielt nicht daran fest…
So führt Paulus den Philipperhymnus ein in seinem Brief; diesen Hymnus ohne Melodie. Leider kann ich, können wir ihn nicht singen. Ich vermisse Protestlieder wie dieses in unseren Kirchen. Damit ich klagen kann zusammen mit anderen und zu dieser Widerstandskraft in mir finde. Wie die Spirituals sie mir geben, wenn ich sie höre oder mitsinge.
Es gibt ein Lied von Konstantin Wecker und Reinhard Mey, bei dem geht es mir so. Am liebsten möchte ich es auswendig lernen wie ein Kirchenlied mit vielen Choralstrophen. "Was keiner wagt, das sollt ihr wagen, was keiner sagt, das sagt heraus, was keiner denkt, das wagt zu denken, was keiner ausführt, das führt aus". Da kommt Gott auch auf den Schwingen des Gesangs.
[1] Eske Wollrad, Gott kommt auf den Schwingen des Gesangs, in: "Sich dem Leben in die Arme werfen", hrsg L.Sutter-Rehmann, S. Bidberstein, U. Metternich, Gütersloh 2004 (3. Aufl.), S. 95
Die Evangelische Morgenfeier
"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."
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