Jesus der gute Hirte

Einen ungewöhnlich fülligen Jesus zeigt dieses Mosaik. Bartlos, mit lockigem Haar, und einem riesigen Heiligenschein über seinem Kopf, der wie ein Hut wirkt. Gekleidet mit einer goldenen Toga, dem Gewand der Kaiser. Er sitzt in einer grünen Wiese auf einem dreistufigen goldenen Felsen wie auf einem Thron, kleine grüne Pflanzen und Palmen um ihn herum. Mit der einen Hand umfasst er den Hirtenstab, der zum Kreuz geworden ist. Mit der anderen streichelt er freundlich eines der sechs Schafe, die um ihn herumstehen, am Kinn. Drei Schafe rechts und drei links von ihm. Ihre Köpfe sind alle auf ihn ausgerichtet und ihre Augen schauen gebannt auf ihn. Vollkommen auf ihn fixiert sind sie, als würden sie auf sein Kommando warten.

Eine ruhig anmutende Szene. Jesus der gute Hirte inmitten von Schafen, die alles von ihm erwarten und wissen, dass er der eigentliche König der Welt ist. Einer, der für seine Herde sorgt, ihr vorangeht und sie am Ende der Zeit vom irdischen ins himmlische Dasein führt. (Joh 10,27)

Ein Mosaik aus dem 5. Jahrhundert. Im Mausoleum der römischen Kaiserin Galla Placidia in der italienischen Stadt Ravenna habe ich es vor über 30 Jahren zum ersten Mal gesehen.  Und es hat mich damals sehr berührt. Und zugleich ist es mir fern geblieben. Im 5. Jahrhundert hat man diese Szene sicher sofort verstanden. Hirten gehörten zum Alltag und seit der Antike wurden auch weltliche Herrscher als Hirten bezeichnet. Schließlich hatten auch sie eine Machtfülle über eine Vielzahl von Wesen.

 Das Mosaik in Ravenna gehört mit zu den ältesten Hirtendarstellungen Jesu. Und durch die Jahrhunderte hat sich diese Art Jesus darzustellen erhalten. Natürlich immer im jeweiligen Stil der entsprechenden Kunstepoche. Die Moderne aber kennt es nicht mehr. 
Und so frage ich mich heute am Hirtensonntag, an dem die biblischen Texte von Hirten erzählen: Passt das noch? Ist das nicht verstaubtes Kopfkino der Kirche? Immer nur Hirten oder Kreuze? Reicht das wirklich aus, um zu sehen was dieser Jesus mir bedeutet und welche Herzenswärme von ihm ausgeht? Was steckt in diesem Bild und wo müssen wir uns vielleicht neue Bilder suchen?

Die Hirten der Welt, eine problematische Entwicklung…

Das Bild vom Hirten steht für Barmherzigkeit, für göttliche Barmherzigkeit: Da ist einer, der Acht gibt auf die Seinen, der den Weg kennt, der auch dann nicht aufgibt, wenn einer mal störrisch ist oder wegrennt. Er tröstet, stillt Hunger, sorgt für Weitblick, weiß, was gut ist und gut tut. Einer, dem ich vertrauen kann, weil sein Herz Erbarmen zeigt.

Wenn Bilder Füße kriegen, dann kann das schnell schräg werden. Nicht anders hat es sich mit dem Bild vom Hirten verhalten. Schnell wurde das göttliche Prädikat eines idealen Hirten auf ganz normale Könige übertragen. Allerdings setzten diese "Hirten" meist weniger auf Barmherzigkeit als auf "dumme Schafe" die alles ausführen, was man ihnen befiehlt. Und so prangern schon die Propheten an, die ganz feinfühligen Seismographen für Unrecht, dass der Hirtentitel zum Machtinstrument verkommt. Man nennt sich zwar so und tut als wäre man ein sanftmütiger und barmherziger Herrscher, aber die Realität ist dann doch eine andere. So etwa hören wir beim Propheten Jeremia folgende Richtigstellung:

 So spricht der Herr, der Gott Israels, zu den Hirten, die das Volk weiden: Ihr habt meine Schafe auseinandergetrieben und weit verstreut. Ihr habt euch nicht um sie gekümmert. (…) Ich werde neue Hirten einsetzen, die sie weiden und beschützen. Meine Schafe werden sich nicht mehr fürchten. Nichts kann sie erschrecken, und keines wird verloren gehen.– So lautet der Ausspruch des Herrn.
Seht, es kommt eine Zeit, in der ich für David einen Nachfolger einsetzen werde, einen gerechten Spross. (…) Das wird der Name sein, den man ihm geben wird: "Der Herr ist unsere Gerechtigkeit!" (Jer 23,2+4-6: Basisbibel)

Die Kritik an den weltlichen Hirten ist hart und klar. Aber die Hoffnung auf eine gerechte und fürsorgliche Leitungsfigur bleibt. Die frühe Kirche überträgt das auf geistliche Ämter.  Nicht nur bei den Königen, auch von Beginn der Kirche an, gab es problematische Entwicklungen. Der 1. Petrusbrief gibt uns eine Ahnung davon, wie es mit den Hirten der Kirche nicht sein soll und stellt klar, dass Christus der Hirte bleibt:

 Ich bin ein Gemeindeältester und ein Zeuge für die Leiden von Christus. Deshalb habe ich auch Anteil an der Herrlichkeit, die bald offenbar werden wird. Nun ermahne ich die Gemeindeältesten unter euch: Leitet die euch anvertraute Gemeinde Gottes wie ein Hirte seine Herde! Achtet auf sie. Tut dies nicht aus Zwang, sondern freiwillig. Denn so gefällt es Gott. Handelt dabei nicht aus hässlicher Gewinnsucht, sondern tut das bereitwillig. Spielt euch in eurer Gemeinde nicht als Herrscher auf, sondern seid Vorbilder für die Herde. Wenn dann der oberste Hirte erscheint, werdet ihr den Siegeskranz empfangen, dessen Herrlichkeit unvergänglich ist. (1.Petr.5,1-4: Basisbibel)

Hirte von Herzensgrund

Seit der Reformation ist der Zahn der vermeintlich rechtmäßig herrschenden Hirten in der Kirche gezogen worden. Ich bin dankbar, dass in meiner evangelischen Kirche, die Synoden die gesetzgebende Kraft sind. Kein Einzelner kann nach Gutdünken regieren und die Gemeinden oder gar Landeskirchen nach seiner Fasson springen lassen. Das war ein langwieriger und schmerzhafter Prozess, aber nur so, das wissen wir, können sich die Dinge verändern und Erkenntnisse in allen Bereichen der Welt wachsen. Das heißt natürlich nicht, dass es im Laufe der Jahrhunderte in der Evangelischen Kirche nicht auch Machtmissbrauch, Überheblichkeit und auch Unrecht gegeben hat.

Und es muss bis heute immer wieder gerungen und gestritten werden, auch wenn das manchmal nervt und es dann zum Beispiel bei einer Bischofs- und Bischöfinnenwahl länger dauert als gedacht, so wie gerade in der Bayerischen Landeskirche geschehen. Aber das ist gut so und anders geht es nicht. Die Kirche besteht aus mündigen Menschen. Insofern muss man schon anerkennen, dass die Christen zur Zeit des ersten Petrusbriefes gut verankert in der alttestamentlichen Prophetenkritik waren, aber auch visionär nach vorne geschaut haben. Hirten und Hirtinnen mit Herz, das war ihre Vision. Achtsam miteinander umgehen, kein Druck, Freiheit und Freiwilligkeit in allen Dingen, keine Herrschaftsattituden, keine Besserwisserei qua Amt, sondern Vorbild sein mit Herz und Maß.

 Ganz schön anspruchsvoll, aber auch ganz schön weise. Deshalb bin ich froh, dass der ganze kirchlich-moralische Druck des letzten Jahrhunderts endgültig vorbei ist. Wer zum Gottesdienst kommt, wer sich kirchlich engagiert, ob im Elternbeirat eines kirchlichen Kindergartens, als Teamer im Konfikurs, im Seelsorgeteam eines Krankenhauses oder im Asylkreis, der oder die macht das freiwillig. Niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Es ist einfach gut, Teil eines großartigen Netzwerkes zu sein, das weltweit ganz schön was auf die Beine stellt und der Barmherzigkeit ein Gesicht gibt. Niemand würde heute darauf kommen, dieses Engagement als Hirtendienst für eine Schafherde zu bezeichnen. Niemand in der modernen Welt möchte mehr ein Schaf sein, das irgendjemandem nachläuft. Diese Bilderwelt scheint für mich wirklich wie aus der Zeit gefallen. Aber welche Bilder für die Barmherzigkeit Gottes kommen dann in Frage? Was kann es dann sein? 

Taxigutschein aus Barmherzigkeit bei der Bahn

Mitten im Bahnstreik ist eine junge Studentin nachts um zwei an einem Bahnhof gestrandet. Nichts geht mehr. Beim Auskunftsschalter wird ihr gesagt, dass die ausgegebenen Taxigutscheine nicht für ihr Semesterticket gelten, mit dem sie sonst den Rest der Reise in die nächste Stadt antritt. Was jetzt? Ein Hotel ist für sie zu teuer und irgendwie ist ihr jetzt alles zu viel. Da steht sie, wie ein verlorengegangenes Kind, Tränen rollen ihr über die Wangen und dann hat einer der Bahnangestellten Erbarmen, drückt ihr einen Taxischein in die Hand und zeigt ihr freundlich wo sie hingehen muss. Und am Studienort ankommen zeigt dann auch noch die Taxifahrerin Herz und rettet diese Nachtfahrt mit dem Satz: "Sag mir wo Du wohnst, ich fahr dich jetzt bis vor die Haustür deiner WG!" 

Banksys Girl with Balloon (2002)

Plötzlich waren sie da, die Bilder des bis heute unbekannten britischen Streetart-Künstlers Banksy. An Häuserwände oder Treppenaufgänge gesprüht sind sie inzwischen weltweit bekannt. Was in London begann ist auch an vielen anderen Orten der Welt geschehen. Paris, Bethlehem, New York, Kiew oder Venedig. Immer sind es Bilder mit Botschaft. Eines seiner berühmtesten Bilder zeigt ein Mädchen, das versucht einen roten herzförmigen Luftballon einzufangen oder in den Himmel loszulassen.  Unter dem Titel "There is always hope" - "Es gibt immer Hoffnung" ist es bekannt geworden. Ein dahinfliegender Moment eingefangen für unser Gedächtnis, denn das Bild geht einem irgendwie nicht mehr aus dem Kopf. In seiner Schlichtheit rührt es geradezu an. Ein roter Herzballon, der uns auf die Sprünge helfen will, wenn wir mal wieder alles nur Grau in Grau sehen. Dieses Bild sagt mir: "Schau, irgendwann fliegt der farbige Ballon der Hoffnung auch zu dir, zu euch! Unvermutet, überraschend wie eine Botschaft der Freundlichkeit Gottes. Und dann schau hin: Gottes verändernde Kraft ist da.

Dorothee Sölle 

In der kommenden Woche jährt sich zum 20. mal der Todestag der Theologin Dorothee Sölle. (1) Eine Kämpferin für weltweite Barmherzigkeit. Eine, die gezeigt hat, dass man mit Gott nie fertig ist. Dass wir in jeder Zeit, in jeder Phase des eigenen Lebens, immer wieder neu über unser Gottesbild nachdenken und ringen müssen. Nur so bleibt die Theologie, die Kirche und auch meine Beziehung zu Gott lebendig. Nur wo wir uns auf den ganz Anderen einlassen, werden wir staunen und so manches zum Guten verändern können. In ihren Erinnerungen erzählt Dorothee Sölle von ihrer besten Freundin, der Theologin Luise Schottroff, von einem ganz besonderen Moment dieser Freundschaft: 

"Wir haben beide in den letzten Jahren unsere Erfahrungen mit Krankheit, Schwäche, Älterwerden und dem gemacht, der grinsend dasitzt und uns fressen möchte. Als ich einmal schwer krank war, hat mich Luise zweimal im Krankenhaus besucht, einmal ohne, dass ich es wusste oder wahrnehmen konnte. Als ich das später erfuhr, dachte ich zuerst: Was wollte sie denn da, ich konnte doch nicht hören oder fühlen. Aber dann verstand ich plötzlich, dass es eben ein acte gratuit war, eines von den Geschenken des Lebens, die wie die Rose ohne Warum und Wozu blühen." (2)

 Ein acte gratuit- gratis, ohne warum und ohne Gegenleistung. Barmherzigkeit. Ein Taxigutschein mitten in der Nacht, ein Mädchen mit einem knallroten Ballon, der an die Dimension der Hoffnung erinnert, eine Freundin, die unbemerkt einfach da ist. Wer genau hinsieht wird sie entdecken, die wundersamen Botschaften Gottes, die uns ins Auge springen und ins Ohr flüstern: "Du sollst mich spüren in deinem Leben. Ich bin dir nah. Ich kenne dich, ich halte dich, ich bleib in deiner Nähe."

Gott lässt sich nicht auf ein Bild festzurren, fixieren. Es gibt viele kleine Momente der Barmherzigkeit, die jede und jeder von uns wahrnimmt. Ikonisch werden sie nicht. Deshalb kehre ich zurück zum guten Hirten. Es gibt einen Text in dem diese Barmherzigkeit greifbar, ja fast körperlich spürbar ist. So geht es sehr vielen Menschen seit Jahrhunderten. Es ist der Psalm 23.

Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 
Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. 
Er erquicket meine Seele. 
Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; 
denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 
Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. 
Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 
Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar. (Ps 23: Lutherbibel 2017)

Liebe Hörerinnen und Hörer, wenn mir manches zu viel wird, wenn ich bei einer Sache nicht weiterkomme, dann muss ich raus. Entweder in den Kurpark von Bad Kissingen mit seinen grünen Wiesen und den großen alten beeindruckenden Bäumen oder rauf in die Rhön, wo ich Ruhe, sprudelnde Wasserläufe und den Blick in die Weite suche. Genau das findet sich auch im berühmten Psalm 23: grüne Auen und frische Wasser, eine Landschaft, die Freiheit atmet und stabilisierend und wohltuend wirkt.  Das alttestamentliche Lied, das Juden und Christen vielleicht wie kein anderes verbindet, bleibt dabei realistisch. Denn "wer sich auf Gott als den Hirten beruft, leugnet nicht, dass er Hilfe braucht." (3)

  Im Mittelteil werden wir im Psalm deshalb auch gedanklich zu unseren finsteren Tälern und der Furcht vor Unglück hinabgeführt. Sie gehören zu unserem Leben. Niemand ist frei davon. Sorgen und schwere Gedanken sind immer wieder da, begleiten uns, kleben sich an unsere Fersen auch wenn wir sie liebend gern los wären. Aber dieses Dickicht gehört zu unserer Lebenswanderung und verdrängt immer wieder die Erholungsmomente, die uns so guttun. 

Der Psalm 23 hat seine Beliebtheit vielleicht auch deshalb erlangt, weil er auf Gottes kämpferische Hirtenmentalität setzt, als Gegenmacht zu dem, was uns bedrängt. Er wird uns schon raushauen aus den brenzligen Lagen und gar Wölfe und Bären, die uns an den Kragen wollen, mit seinem Stecken vertreiben. Und der Psalm verheißt noch mehr: keines der göttlichen Schafe wird am Ende das Los eines realen Nutztieres teilen. Und nein, es wird auch kein mageres Gnadenbrot essen müssen. Vielmehr wird es an einem reich gedeckten Tisch Platz nehmen und ihm wird sogar Asyl geboten im Haus Gottes, aus dem keiner es vertreiben kann.

Dieser göttliche Hirte ist wahrlich mit niemandem zu vergleichen. Seine Barmherzigkeit sprengt alle menschlichen Kategorien. Aus dummen Schafen, die jedem hinterherlaufen, belämmerten Wesen und dem berühmten schwarzen Schaf werden geachtete Gäste, die königlich, mit Würde gesalbt, zu Mitbewohnern Gottes werden. Mitbewohnerin am Tisch der Barmherzigkeit. So sehe ich mich gerne in diesem Bild vom guten Hirten. Oder- wie Bobby McFerrin singt – von der guten Hirtin: "She is my shephard".

(1) gestorben am 27. April 2003 in Göppingen

(2) Dorothee Sölle, Gegenwind; Erinnerungen, Hamburg 1995, Hoffmann und Campe, S.300

(3)   Wolfgang Huber, Predigt zum Kirchweihfest der Kirche zum Guten Hirten in Berlin-Friedenau am 18.11.2018, http://www.wolfganghuber.info/images/wh_pdf/predigt-berlin-friedenau.pdf

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

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