Trag mich

Ein kalter Winterabend. Im Dorf liegt dicker Schnee. Alle bleiben daheim. Das verspricht einer dieser nicht enden wollenden langweiligen Abende zu werden. Dann beschließen die Eltern doch, den langen Weg durchs Dorf auf sich zu nehmen, um die Großeltern zu besuchen. Wir Kinder dürfen mit und die Freude ist groß. Es wird so, wie immer. Die Erwachsenen erzählen, wir dürfen auf dem Schoß der Großeltern sitzen, mal bei Großmutter, dann bei Großvater. Vielleicht gibt es warmen Tee oder man spielt Mensch-ärgere-dich-nicht.

Ich kann mich an keine Details von diesem Abend erinnern. Nur dieses eine weiß ich bis heute noch: Auf dem Nachhauseweg hat Vater nach langem Bitten und Betteln – Es ist so kalt! Ich kann nicht laufen, ich bin zu müde! Kannst du mich bitte tragen… - da hat mein Vater mich auf die Schultern genommen. Sparsam mit Zärtlichkeiten, wie er war, habe ich mir diese knappe halbe Stunde bewahrt und aus vielen Erinnerungen an ihn ragt diese eine heraus. Der starke Vater trägt mich auf seinen Schultern. Ich schlinge die Arme um ihn. Da ist Nähe, da ist Geborgenheit. 

Unser Leben beginnt damit, dass wir getragen werden als Babys– von Mutter, Vater, Tanten und Verwandten. Von Hebammen. Es ist überlebensnotwendig, dass ein Mensch den anderen trägt.

 Die Erinnerung daran setzt aber erst ein, wenn wir schon laufen können. Einer trägt mich auf seinen Schultern, in seinen Armen. Und ich erlebe bewusst, wie schön das ist. Wie leicht ich bin, körperlich-seelisch mit diesem Menschen verbunden. Das starke Band zwischen uns ist fühlbar. Eine Urszene des Lebens. Menschen sind Traglinge!

Mich wundert es nicht, dass die älteste Jesus-Darstellung damit zu tun hat. In der in Rom auf einem Fresko aus dem 3. Jahrhundert. Da trägt Jesus ein Schaf auf seinen Schultern. Der gute Hirte. Natürlich ist das ein mit Bedeutung überladenes Symbolbild. David, Mose, das Hirtenamt ist tief verankert in der Kulturgeschichte Israels. Es ist ein göttliches Amt:  der Inbegriff von Fürsorge, der gute Hirte führt die Schafe nicht in die Irre.  Und sie erkennen ihn an seiner Stimme. Die starke emotionale Wirkung hat dieses Bild aber, weil es sich mit unseren Urerfahrungen des Getragenwerdens vermischt. Und auch mit unseren Ursehnsüchten danach.  Ich staune immer wieder, wie lange sich das schon in religiösen Kulten abbildet. Lange vor dem Christentum!

Vor ein paar Wochen habe ich das gesehen, im Archäologischen Museum von Syrakus auf Sizilien. Da habe ich eine kleine Statue entdeckt. Noch mal viel älter als der gute Hirte in der Katakombe. Etwa 5 cm groß, aus Terrakotta. Ein fein frisierter Frauenkopf, Mittelscheitel, wellig eng angelegte Haare. Ganz feines Gesicht. Und über der linken Schulter der Frau schmiegt sich ganz zärtlich ein Kind an. Legt seinen kleinen Kopf auf ihrem großen ab, sitzt auf ihrer Schulter und lässt sich tragen. So innig, so schön. Kourothrophia heißt die Darstellung. Die Knabentragende, oder besser gesagt: die Knaben-Heranwachsen-Lassende, sein Wachstum Befördernde.

Diese kleinen Terrakottafiguren haben Menschen meistens einer Göttin in den Tempel gebracht, um für etwas zu bitten oder zu danken. Für Schwangerschaft und Kindersegen, für den Schutz der Familie oder eines Kindes.

Doch da gibt es noch eine zweite Ebene: Man bittet die Göttin, "trag meinen Wunsch, meine Bitte so mütterlich wie diese Frau den Knaben auf der linken Schulter". Eine Gebetssprache drückt sich hier aus, die mich berührt. Trag mich und meine Bitten. Universell verstehbar ist sie. Weit mehr als kindliche Bedürfnisse nach Getragenwerden spüre ich da. Eine tiefe spirituelle Sehnsucht danach, dass auch Träume, Sehnsüchte, Gedanken, Hoffnungen nicht nur verpuffen, sondern einer himmlischen Instanz zärtlich anvertraut werden. Trag meine Bitten…Trag meine Sorgen, trag meine Last. My heavy load, wie es in einem Gospel heißt.

Trag meine Last, trag mich hindurch, trag meine Träume und meine Ängste. Bekannter und berühmter als diese Gebetssprache ist ein anderer Satz aus der Bibel: Einer trage des anderen Last – das Christsein auf eine kurze Formel gebracht. Und hier verlagert sich die Bitte ins Zwischenmenschliche. Einer trage des anderen Last. Mühelos tut sich da ein ganzes christliches Bilderbuch auf: Da fällt ein Mensch unter die Räuber. Auf der Strasse zwischen Jerusalem und Jericho. Einige gehen vorbei, lassen ihn liegen.

Der Reichtum einer Kultur 

Der Fremde, der Samariter erbarmt sich, trägt ihn in einen Gasthof, pflegt seine Wunden und sorgt noch dafür, dass er dort so lange bleiben kann, bis alles wieder geheilt ist. Der heilige Martin von Tours, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt; der heilige Christophorus, der die Menschen und schließlich den Christusknaben durchs Wasser trägt. Einer trage des anderen Last. Ein Satz mit großer Schubkraft… Der Starke trägt den Schwachen, Hilfebedürftigen. So hat er sich eingeprägt.

Wenn ich dem Apostel Paulus zuhöre, der diesen Satz der Gemeinde in Galatien schreibt, steckt noch viel mehr drin. Es geht schon ums Tragen. Allerdings nicht nur zwischen Starken und Schwachen.

Wenn wir durch die Geistkraft leben, wollen wir auch durch die Geistkraft handeln. Lasst uns nicht eitlen Rangkämpfen frönen, indem wir miteinander konkurrieren und gegeneinander missgünstig sind.
Brüder und Schwestern, wenn jemand mit irgendeiner Verfehlung dingfest gemacht wird, so sollt ihr, die ihr geistlich seid, diese Person wieder zurechtbringen im Geiste der Bescheidenheit. Und gib Acht, dass du nicht auch selbst in Versuchung gerätst. Tragt einander eure Lasten und erfüllt so das Gesetz des Messias. Die sich aber einbilden etwas zu sein, und sind doch nichts, betrügen sich selbst. Alle sollen das eigene Tun kritisch prüfen, dann werden sie allein im Blick auf sich selbst Ruhm gewinnen, anstatt im Blick auf das Tun der anderen. 5Denn alle werden ihre eigene Bürde zu tragen haben.  (Gal 5,25-6,5) 

So klingt das Programm einer neuen Lebensgemeinschaft: keine Rangkämpfe, keine Konkurrenz, keine Missgunst. Bescheidenheit, kritische Selbstwahrnehmung, und gegenseitige Unterstützung. Die Energien fließen dann anders. Du bist nicht vor allem auf den anderen fixiert, du gierst nicht danach, ihn zu übertrumpfen und von ihm angehimmelt zu werden. Du bleibst bei dir. Du nimmst dich selbst wahr in Stärken und Schwächen. Mit deinen Bürden. Und erkennst: der andere ist wie du. Tragt einander eure Lasten.

Oder wie Luther sehr einprägsam übersetzt: Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Unterstützung statt Konkurrenz. Ja, das ist ein christliches Menschenbild. In so einer Gemeinschaft lässt sich gut leben. Das macht eine Gemeinschaft reich. Nicht im materiellen Sinn. Sondern als Zufriedenheit, als gutes Leben (im weitesten Sinne).

Wie Reichtum (nicht) bemessen werden kann

Seit ein paar Jahren diskutieren Wissenschaftler und Politiker, Politikerinnen darüber, wie der Reichtum eines Landes bemessen werden kann. Es reicht nicht mehr aus, das Bruttoinlandsprodukt eines Landes anzugeben, also wie das Land aus wirtschaftlicher Perspektive da steht. Das sagt noch nichts darüber aus, ob Menschen in Wohlstand leben können, ob es der Natur gut geht, ob die Gesellschaft zusammenhält.

Unbezahlte Arbeit, care Arbeit, bürgerliches Engagement, der Erhalt von Natur ist nicht in diesen Zahlen erfasst. In den Jahreswirtschaftsbericht sollen daher künftig diese anderen Faktoren einfließen, um etwas über die Entwicklung des Wohlstands auszusagen. Das ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen. Und es ist ein großer kultureller Fortschritt.

Einer trage des anderen Last –Dieser Satz ist Gold wert.

Für mich sind Politikerinnen und Politiker in hohem Maße glaubwürdig, die das im Blick haben. Andere, die das Konkurrenzmodell und allein den wirtschaftlichen Fortschritt heraufbeschwören, bekommen mein Vertrauen nicht. Es ist eine Politik von vorgestern.

In den 60er Jahren haben The Hollies eine Hymne geschrieben auf diesen biblischen Satz vom Lastentragen. "He ain't heavy, he is my brother". Er ist nicht schwer, er ist doch mein Bruder. Und die Geschichte geht so: 1917 gründet ein katholischer Priester, Father Edward Flanagan "Boys Town". Eine Einrichtung in Nebraska, wo hilfsbedürftige und obdachlose Jungs leben und eine Art Ersatzfamilie finden konnten. Eines Tages trägt ein älterer Junge einen jüngeren auf dem Rücken. Auf die Frage, ob der nicht viel zu schwer für ihn sei, antwortet er: "Er ist nicht schwer, er ist doch mein Bruder". Und das wird zum Motto von Boys town. Und seit Ende der 1970er Jahre gibt es dort auch "Girls town". "Sie ist nicht schwer, sie ist meine Schwester!"

Die Straße ist lang und kurvenreich.
Sie führt uns werweiß wohin.
Aber ich bin stark,
stark genug, um ihn zu tragen:
Er ist überhaupt nicht schwer - er ist nämlich mein Bruder.
Und so machen wir uns auf den Weg.
Sein Wohlergehen geht mich etwas an,
er ist keine Last, mit der ich mich abschleppen muss.
Wir schaffen das schon,
weil ich weiß, dass er für mich keine Bürde darstellt.
Er ist gar nicht schwer - er ist doch mein Bruder.

Wenn mich überhaupt etwas belastet,
dann die Traurigkeit darüber,
dass nicht jedermanns Herz
mit der Freude gegenseitiger Liebe erfüllt ist.
Es ist ein langer, langer Weg….
Warum sollten wir ihn nicht gemeinsam gehen?

Schattenseiten des Lastentragens

Und jetzt müssen wir über die Schattenseiten dieses Satzes reden. Denn der schönste Satz, die schönste Maxime kann sich ins Gegenteil verkehren. Über so manchem Leben steht als Motto "Einer trage des anderen Last" und dahinter verbirgt sich eine tragische Geschichte. Wie leicht kann ich mich dabei selbst aufgeben, verlieren. Aus meinem Zentrum rutschen. Oder verleitet mich dieses Gesetz Christi dazu, um mich selbst zu kreisen mit der Frage: tue ich auch genug für andere? Und dann gibt es da noch die Variante des Helfens, um Macht auszuüben. Bevormunden und Lösungen parat haben, die der andere gar nicht braucht. Ich trage deine Lasten, aber nach meinen Vorgaben. 

Wenn ich mir vorstelle, buchstäblich die Last eines anderen Menschen zu tragen, kann ich darunter nur/auch zusammenbrechen. Erst recht als Kind. "Einer trage des anderen Last" – das ist ein harter Satz, wenn Kinder damit belastet werden. Sie leben und verinnerlichen dieses Gesetz, ohne es wortwörtlich zu kennen. Und ohne darum gebeten worden zu sein. Sie hatten keine Wahl. Michel Friedman, der bekannte Publizist und Fernsehmoderator, hat seine Lebensgeschichte in einem Interview erzählt. Er ist das Kind von zwei Holocaustüberlebenden, die hier in Deutschland, in der Heimat aus der sie brutal verstoßen worden waren, ein neues Leben angefangen haben. und man muss sagen: gewagt haben.

Du bist unser Lebenssinn! Es hat sich gelohnt, dass wir überleben, weil es dich gibt. Das war ihre Liebeserklärung an ihren Sohn, der geliebt, verwöhnt, über Gebühr mit Fürsorge überschüttet wurde. Du bist unser Lebenssinn.

Das ist eine Last, die kein Kind tragen kann und doch müssen es so viele. Michel Friedman hat bis zu dem Zeitpunkt, als seine Eltern starben, kurz nacheinander, da war der Sohn Mitte vierzig - bis zu diesem Zeitpunkt hat es irgendwie funktioniert, damit zu leben. Dann bricht er zusammen. Drogenexzesse und der ganze Skandal, wird medial ausgeschlachtet. Michel Friedman bricht zusammen, weil der Lebenssinn, sein eigener, plötzlich nicht mehr gegeben ist. Die Eltern sind tot. Wozu soll es ihn noch geben? Er bewirbt sich heute jeden Tag beim Leben, sagt er. Es möge ihn aufnehmen, annehmen, durchtragen. 

Wenn Kinder alles tun, um die Starre, die Verzweiflung, die Traurigkeit aus dem Gesicht und den Bewegungen ihrer Mutter oder ihres Vaters wenigstens für einen Moment verschwinden zu lassen. Und im Verborgenen auch noch glauben, es sei ihre Schuld, sie hätten etwas falsch gemacht oder seien eben nicht liebenswert! Das ganze Leben der Last der Mutter oder des Vaters widmen. Und als Erwachsene sich fragen: und wer bin ich, wenn ich mich davon löse? Gibt es mich überhaupt ohne dieses Band, das mich fesselt?  Berührende, zarte Befreiungswege fangen so an. Zu sich selbst. Zur eigenen Mitte zurück. In die eigene Haut, ins eigene Herz. Es gibt mich, ohne weil, ohne warum, ohne wozu. 

Lebensordnung des Vertrauens

Es gibt noch einen wichtigen Satz bei Paulus, der meistens untergeht: "Alle werden ihre eigene Bürde zu tragen haben". Das führt mich ins eigene Zentrum. Und es ist eine Tatsache, an der ich nicht vorbeikomme. Meine eigene Bürde spüre ich und ich muss sie tragen. Aber vielleicht haben Sie das auch schon an sich selbst beobachtet: ein ganz großer Teil der eigenen Energie geht dahin, die Bürde wegzuschieben, sie zu umgehen, sie zu verdrängen. Das Ich will keinen Schmerz. Das Ich will es leicht und bequem. Und es (?) will herrschen und bewundert werden. Ich glaube, bevor ich irgendwie die Lasten anderer trage, muss ich mich zu den eigenen verhalten.

 Mich begleitet seit einiger Zeit ein Morgengebet, das Richard Rohr, ein geistlicher Lehrer unserer Zeit, in Vorträgen weitergegeben hat. Das Willkommensgebet. 

Willkommen, willkommen, willkommen.
Ich heiße alles willkommen, was mir heute begegnet, weil ich weiß, dass es meiner Heilung dient. 
Ich heiße alle Gedanken, Gefühle, Emotionen, Personen, Situationen und Bedingungen willkommen.
Ich lasse meinen Drang nach Macht und Kontrolle los.
Ich lasse mein Verlangen nach Beifall, Wertschätzung, Bestätigung und Vergnügen los.
Ich lasse meinen Drang nach Überleben und Sicherheit los.
Ich lasse meinen Drang los, irgendeine Situation, eine Bedingung, eine Person oder mich selbst zu ändern.
Ich öffne mich für Gottes Liebe und Präsenz und für Gottes Wirken in mir. Amen.

Für mich ist das eine Übung des Vertrauens. Das Ich wird nicht so ernst genommen. Und das ist eine große Befreiung, Erleichterung. Ja, die Bürde wird leichter. Ich stemme mich nicht mehr dagegen. Und sie wird leichter, weil ich selbst anders trage. Weil ich mich tragen lasse, ganz und gar. Vom Geheimnis. Von Christus. Von der Mutter des Lebens. Vom Vater des Lebens. Von Gott. / In meinem Zentrum wohnt eine spirituelle Kraft. Ich bin überzeugt davon: das hilft mir, ein Mensch zu sein, der dann auch andere Lasten tragen kann, nicht nur die eigenen. Auch das könnte dann leichter werden.

 Menschen, die das so leben, haben auf mich eine große Anziehungskraft. Ich spüre förmlich, dass da etwas strömt und fließt, woran ich mich wärmen, woraus ich trinken kann. Paulus sagt:

Täuscht euch nicht, denn Gott ist kein Spielzeug. Was Menschen säen, werden sie ernten. Alle, die in ihre Selbstherrlichkeit hinein investieren, werden aus Selbstherrlichkeit Staub und Asche gewinnen. Die aber in die Geistkraft hinein säen, werden aus der Geistkraft ewig lebendiges Leben ernten. Lasst uns im Tun des Guten nicht müde werden, denn wenn die Zeit dafür kommt, werden wir ernten, sofern wir nicht vorher aufgeben. Solange wir also noch Zeit haben, wollen wir das Gute bewirken für alle Menschen, insbesondere für die, die in der Lebensordnung des Vertrauens Wohnung genommen haben. (Gal 6,7-10)

In der Lebensordnung des Vertrauens wohnen. Ja!  
Ich hoffe, wir schaffen es, in unserem Land nach dieser Lebensordnung die Zukunft zu gestalten. Es steht viel auf dem Spiel.

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags um 10.05 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.