Die sogenannte närrische Zeit steuert auf ihren Höhepunkt zu. Allerdings merkt man nicht in allen Landstrichen der Bundesrepublik etwas davon – auch, weil die politische Lage derzeit nicht gerade Konfetti ist. Wobei die vielbeschworene Deutschlanddämmerung ja eigentlich ganz gut zum Wort Fastnacht passt. So gut, dass sich eine Frage von Friedrich Nietzsches toll gewordenem Menschen aufdrängt. Der lief am helllichten Vormittag mit einer Laterne auf den Markt und rief: "Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?"
Trotzdem bin ich – Fastnachtsmuffel von Kindesbeinen an – erst durch die Anfrage der Sonntagsblatt-Redaktion, ob ich nicht vielleicht etwas zum Thema Fasching schreiben möchte, darauf aufmerksam geworden, dass Narrhalla-Time ist. Dabei ist es ja eigentlich unübersehbar. Spätestens nach jenem Freitag, an dem eine Prunksitzung des Deutschen Bundestags das Land zu einem Tollhaus gemacht hat.
Migrationsdebatte im Bundestag: Es ist der Teufel los
Seit der geschichtswürdigen migrationspolitischen Parlamentsdebatte ist jedenfalls der Teufel los. Der Kirchenvater Augustinus hätte zweifellos seine helle Freude daran. Denn geradezu drehbuchmäßig bewahrheitet sich um den Showdown der Bundestagswahl herum nämlich wieder einmal die These seiner berühmten Schrift "Vom Gottesstaat". Augustin zufolge kann der Staat zur civitas diaboli, also zu einem Reich werden, das unter der Herrschaft des Teufels steht, weil es sich von Gott abgewendet hat.
Kein Geringerer als einer der offenbar intimsten Kenner der altkirchlichen Theologie, Rolf Mützenich, seines Zeichens auch Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, hat es denn auch zur Sprache gebracht, dass am Freitag, 31. Januar 2025 in Berlin das Tor zur Hölle geöffnet wurde. Und zwar bezeichnenderweise just vom Kanzlerkandidaten der einzig nominell christlichen Partei Deutschlands, also der Partei, ohne deren Wählerinnen und Wähler die Kirchen längst den Löffel abgegeben hätten. Dass dem Heiligen Petrus vom Herrn der Kirche die Schlüssel zum Himmelreich anvertraut wurden, ist ja schon länger bekannt. Aber dank dem lieben Augustin Mützenich wissen wir jetzt sogar, dass das neue Schmuddelkind der Kirche, also die CDU, die ja bis dato irgendwie als eine Art Partnerorganisation des römischen Katholizismus begriffen werden konnte, auch über die Schlüssel zur Höllenpforte verfügt. Teufelskerle!
Die Berliner Parlamentssitzung des 31. Januar hat nun insofern etwas mit Karneval zu tun, als sie die Deutung der spätmittelalterlichen Theologie im Kielwasser Augustins bestätigt. Demzufolge wird die Welt während des Karnevals eine kurze Weile zum zügellos tobenden gottlosen Mob, also zur civitas diaboli, ehe der Exzess des entfesselten Fleisches verebbt. In der Fastenzeit wendet sich dieselbe Welt dann wieder Gott zu und spiegelt zumindest einen Abglanz der civitas Dei, also des nüchternen, züchtigen, Christus und der Kirche ergebenen Gottesstaates wider.
Die Geister, die ich rief
Es steht freilich zu befürchten, dass der Vergleich zwischen Augustins theologischer Staatstheorie des fünften Jahrhunderts nach Christus und der Bundesrepublik Deutschland im Spätwinter des Jahres 2025 hinken könnte. Denn womöglich lässt sich der Ungeist auch nach der Bundestagswahl, also in der Fastenzeit, nicht so einfach in die Flasche zurückbefördern. Ob sie den Geist wieder los zu werden vermögen, den sie gerufen haben, wird darüber entscheiden, ob man die Matadore der Berliner Republik vielleicht besser als stümperhafte Zauberlehrlinge und Karnevalsdilettanten bezeichnen muss, die nicht nur den Sinn für die Zyklen und Rituale des Kirchenjahres, sondern auch den Sinn für den Sinn des Närrischen verloren haben.
Dabei erfüllt Friedrich Merz, ungeachtet dessen, dass es einem nicht sogleich in den Sinn käme, in ihm den idealtypischen Narren zu sehen, seit Kurzem alle Kriterien, die einen Narren zum Narren machen. Er hat etwas durchaus Verrücktes getan, indem er die Koordinaten der Politik, manche meinen sogar, eine ganze Brandmauer, verrückt beziehungsweise zerstört hat. "Du Narr!", ruft man in meinem Heimatdialekt jemandem zu, der etwas besonders Waghalsiges oder sogar Irrsinniges unternimmt, aber – wie weiland Petrus, der bekanntlich zur Selbstüberschätzung neigte – felsenfest davon überzeugt ist: "Ich schaffe das."
In Friedrich Merz also kommen alle Aspekte des Närrischen zusammen. Er hat einen Narren gespielt und sich selbst zum Narren, also unmöglich gemacht. Außerdem hat er Andere zum Narren gehalten. Und zwar mit Erfolg. Seit seiner Asylvolte spielen sie die Narren – in den Medien, auf den Gassen und vor den Parteibüros der Christlich Demokratischen Union.
Manche glauben sogar, Friedrich Merz habe nicht nur ein Tor geöffnet (also das zur Hölle), sondern sei selbst zum Tor, also zum Toren, will heißen zum – ooops! – Schwachkopf geworden, genauer gesagt zu einem, der sich als Gegenteil eines homo sapiens, also eines weisen Menschen, nämlich als homo insipiens, sprich als törichter Mensch, eben als Narr im schlechtesten alttestamentlichen Sinn erwiesen hat. Der Narr, so der Psalter, spricht in seinem Herzen: "Es ist kein Gott." Also kein C in der CDU sozusagen. Jedenfalls nach der Deutung derjenigen Christenmenschen anderer politischer Couleur, die das C für sich reklamieren.
Wer sich zum Narren gemacht hat, mit dem ist nun, so scheint es, kein Staat zu machen, weil er ja eben als Idiot, das heißt in schwachsinnigem und gemeinsinnwidrigem Eigensinn agiert hat. Und so kommt es nicht ungefähr, dass die politischen Gegner und Feinde des Narren ihn am liebsten in die Ecke, ins Narrenhaus oder ins Aus, also dorthin gestellt sehen wollen, wo derjenige hingehört, der besser nicht dazugehören, also aus der Gesellschaft der Vernünftigen ausgeschlossen werden soll. Was die vor Zeiten noch so genannten Idioten, also Menschen mit ausgeprägten geistigen oder körperlichen Behinderungen anbelangt, so wurden diese früher wie exotische Tiere in Käfigen ausgestellt und Schaulustigen als Spektakel präsentiert. Vielleicht ließe sich auch heute von diesem alten Brauch Gebrauch machen. Diejenigen, die so gerne auf den Laufstegen der Republik politisch bella figura machen, könnten den, den sie für einen tollgewordenen Idioten halten, als abschreckendes Objekt bei Demonstrationen für die eigene Anständigkeit mitführen. Wäre das nicht eine Schau?
Natürlich ereilte die für verrückt erklärten Andersdenkenden und Anderslebenden in dunkleren Zeiten durchaus auch Schlimmeres als die Schaustellerexistenz des Zurschaugestelltwerdens. Viele landeten nach mehr oder weniger kurzem Prozess auf dem Scheiterhaufen. Für Andere hatte man allerdings eine interessantere Verwendung. Nicht immer erklärte man diejenigen, die als das Andere des common sense, als das Andere des Sagbaren und als das Andere der Normalität etikettiert wurden, als vogelfrei. Sie genossen auch Narrenfreiheit. Und genau in dieser Hinsicht war mit ihnen, wenn man sie nicht in Narrenhäuser und Irrenanstalten wegsperrte, dann doch wieder Staat zu machen. Nämlich so, dass man sie zu Hofnarren machte, die ungestraft Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben, ja sogar Herrscher parodieren, sich über sie lustig machen, ihnen den Spiegel vorhalten, sie zur Kenntlichkeit entstellen und ihnen die Wahrheit ins Gesicht sagen durften. So wurden die Narren zum festen Bestandteil des Hofstaats, also zur Institution. Manche Herrscher waren also so weise, einen in ihren Reihen zu dulden, für den die Regel galt, dass für ihn keine Regeln galten. Der Hofnarr ist quasi das Memento der Selbstrelativierung. Der Staat, der Hofnarren erträgt, erträgt es auch, zu sich selbst zu sagen, was ein Engel im Traum zu Papst Johannes XXIII. sagte: "Nimm dich nicht so wichtig!"
Satan, der scharfsinnigste Berater Gottes
Wenn vom Hofstaat und von Hofnarren die Rede ist, ist der Teufel nicht weit. Also der diabolos, der im präzisesten Sinn des griechischen Wortes diaballein alles durcheinanderwirft. In der biblischen Überlieferung ist der diabolos mit dem Namen Satan ein Mitglied des göttlichen Hofstaats. Er ist sozusagen der scharfsinnigste Berater Gottes, der auch vor radikaleren Gedankenexperimenten und ihrer Verwirklichung nicht zurückschreckt und der Versuchung nicht widerstehen kann, vom Meister der Disruption zum zerstörerischen Verführer und Verwirrer zu mutieren. So wird aus Satan, dem advocatus diaboli, irgendwann die widergöttliche und widermenschliche Gegenmacht, die die Ordnung ins Chaos stürzt. Der altböse Feind jeder zivilisierten menschlichen Gesellschaft. Der Verderber. Der Geist, der stets verneint und nur vernichten kann. Die schlaue Schlange, die Adam und Eva in die erste theologische Debatte der Geschichte verwickelt, sie zutiefst verwirrt und in Teufels Küche bringt. Mephistopheles der Zwietrachtsäer. Tullius Destructivus. Donald, der Unberechenbare. Nicht von ungefähr ist derzeit zu hören, der diabolische Friedrich Merz hätte schon mal ein bisschen geübt, ob der Trumpismus in Deutschland auch außerhalb der AfD möglich sei.
Aber zurück zum Karneval. Im Blick auf die Fastnacht könnte man sagen, dass Satan, Diabolos, Mephisto, Joker oder wie auch immer man den Störenfried nennen mag, die entfesselte, gänzlich außer Kontrolle geratene Gestalt des Narren ist. Der Diabolos ist sozusagen der Narr, der am Ende die Institution und die Gesellschaft sprengt, der er sein Dasein verdankt. Man muss nur auf die Reaktionen und Deutungen der Merzschen Volte blicken, um eigentlich alle Dramatisierungsszenarien der biblischen Diabologie darin wiederzuentdecken.
Wahlkampf mit moralischen und unmoralischen Machtspielen
Apropos Drama. Coolere Gemüter haben es in der Regel nicht so mit dem Dramatisieren. Angesichts des Berliner und bundesweiten Spektakels der letzten Wochen neigen coolere Zeitgenossen daher dazu, sich gelassen, wenn nicht sogar gähnend, womöglich sogar prunksitzungsabgebrüht und schulterzuckend zurückzulehnen und das angeblich mit dem Bade ausgeschüttete Kind bei seinem Namen zu nennen. Der lautet Wahlkampf. Wahlkampf mit allem Drum und Dran und mit allen Eskalations-, Empörungs- und Diffamierungsfinessen. Wahlkampf mit allen moralischen und unmoralischen Machtspielen und Wirklichkeitsdeutungshoheitskämpfen.
Dieses Schulterzucken wiederum lassen die hyperbesorgten Drama-Kings und Drama-Queens, die derzeit die linkerseits lange geschmähte Sekundärtugend des Anstands wiederentdecken, den Coolen eher nicht durchgehen (und sei es, weil ja eben Wahlkampf ist). Sie brandmarken sie in den allerhöchsten Tönen des Moralismus als kalt, zynisch, blind, fahrlässig, verharmlosend, faschistisch und menschenrechtsverachtend. Und so erscheint den Einen die Lage, in der nicht weniger als alles auf dem Spiel steht, als die allerernsteste, während die Anderen aus anderen Gründen fassungslos sind. Nämlich deshalb, weil sie den Eindruck haben, in ein Narrenhaus geraten zu sein.
Am Ende findet man tatsächlich nur aus dem absurden deutschen Politiktheater heraus, wenn man sich klarmacht, dass man sich in einem Theater befindet. Gerade weil Gelassenheit, Ambiguitätstoleranz und Humor nicht die Tugenden sind, die man üblicherweise mit den Deutschen in Verbindung bringt, könnten sie die in dieser Situation eine Schlüsselrolle spielen. Sie könnten nämlich die Schlüssel sein, die das Tor zur Hölle – und sei es die Hölle der Empörungseskalation – wieder verschließen kann. Ich finde also, man sollte die Nerven bewahren, sich nicht ins Bockshorn jagen lassen und cool genug sein, das deutsche Drama als karnevaleske Burleske, eben als Narrenstück zu sehen. Vielleicht stellte der Ausnahmezustand des 31. Januar ja wirklich eine Art Fastnacht und zugleich einen Lackmustest der parlamentarischen Demokratie dar. Wenn diese derlei nicht aushält oder so tut, als würde sie es nicht aushalten, sondern zur civitas diabola auf dem Weg zur Hölle werden, dann ist es nicht gut um sie bestellt. Dann ist es in der Tat fast Nacht.
Mehr Karneval wagen
Womöglich war es also doch keine so gute Entscheidung, die Bundeshauptstadt von Bonn am Rhein nach Berlin an der Spree zu verlegen und allein durch ein Wirtshaus, die "Ständige Vertretung" des Rheinlands in Berlin, daran zu erinnern, dass Politik und Karneval ehedem näher waren und dass genau dies zur Zivilisierung der Politik beigetragen haben könnte.
Der rheinische Karneval weiß darum, dass sich selbst das närrischste Treiben und der ausgelassenste Rosenmontagszug in geordneten menschenwürdigen Bahnen bewegt. Er weiß darum, dass nie alle Hüllen des Respekts fallen dürfen, dass sub specie aeternitatis, also unter dem göttlichen Oberlicht alles letztlich ohnehin nur ein vergängliches, von Gott kopfschüttelnd, stirnrunzelnd oder wohlwollend belächeltes Spiel ist, dass Spiele Spielregeln haben und dass die Tugend der Selbstironie vor Barbarei schützt. Der rheinische Karneval weiß auch darum, dass der Karneval und mit ihm der Ausnahmezustand irgendwann enden muss, um einen Landstrich nicht dauerhaft in die Handlungsunfähigkeit und ins Chaos zu treiben. Im politischen Berlin scheint diese Weisheit des Karnevals auf beiden Seiten der Brandmauer in Vergessenheit geraten zu sein.
Ich plädiere also auf die Gefahr hin, für einen Narren gehalten zu werden, nachdrücklich dafür, um der Demokratie und um Gottes willen mehr Karneval zu wagen. Andernfalls ist es fast Nacht und kommt immerfort mehr Nacht.
Aber so kann ich nicht aufhören. "Nacht" ist kein wirklich erhebendes letztes Wort. "Amen" wäre anmaßend. Bleibt eigentlich nur eins: "Narrhallamarsch!"
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