Nicole Grochowina, Jahrgang 1972, ist eine deutsche Historikerin und Ordensschwester der evangelischen Communität Christusbruderschaft Selbitz. In ihrem Gastbeitrag widmet sie sich der Frage, welche Bedeutung Spiritualität für Männer und Frauen hat - und warum es wichtig ist, über spezifisch weibliche Spiritualität nachzudenken.

Glauben Frauen und Männer unterschiedlich? Gibt es sogar eine weibliche und männliche Spiritualität? Und wie lässt sich nachweisen, dass und worin diese Unterschiede bestehen? – Sowohl die evangelische "Praktische Theologie" als auch die katholische Pastoraltheologie beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit diesen Fragen, steht doch die Vermutung im Raum, dass insbesondere Frauen eine Affinität zum Glauben und zur Kirche haben.

Glauben Frauen und Männer unterschiedlich?

Der Blick in die sonntäglichen Gottesdienste sowie auf die Ehrenamtlichen in beiden Konfessionen mag dies rechtfertigen, aber ist tatsächlich von dieser Form des Engagements gleich auf eine unterschiedliche Spiritualität zu schließen? 

Redliche Studien verweisen darauf, dass Spiritualität durchweg erfahrungsbezogen ist; schließlich geht es sowohl um die mittelbare oder gar unmittelbare Gotteserfahrung als auch um das Erfahrungs- und Sprachreservoir einer Gesellschaft, das dem Erfahrenden hilft, die just gemachten Erfahrungen in Sprache zu bringen und auf diese Weise zu deuten.

Die Rede von Gott und von den eigenen geistlichen Erfahrungen ist also immer eine kontextbezogene Rede – schließlich will sie ja auch verstanden werden. 

Vor diesem Hintergrund deutet sich bereits an, warum es nicht ganz so leicht ist, zwischen weiblicher und männlicher Spiritualität zu differenzieren – und dann noch das Verhältnis von Frauen und Spiritualität zu bestimmen. Allerdings lässt sich vor eben diesem Hintergrund sehr viel darüber sagen, welche Möglichkeiten Frauen in Geschichte und Gegenwart hatten und haben, ihre Spiritualität auszudrücken oder dafür auch eine neue Sprache zu finden. Diese Möglichkeiten sind durchweg zeitgebunden – und zwar so zeitgebunden wie die Versprachlichung der Erfahrungen auch. 

Verhältnis von Frauen zu Spiritualität

Das wiederum bedeutet, dass das Verhältnis von Frauen und Spiritualität durchaus als ein prekäres gedeutet werden kann – und zwar genau dann, wenn geistliche Erfahrungsräume von Frauen beschnitten, ihr Sprechen und Ausüben von Religion untersagt oder stark reglementiert oder vermeintlich geistliches Leben dazu genutzt wird, Geschlechterhierarchien zu etablieren oder gar zu manifestieren.

Wer also nach gelebter Spiritualität fragt, wird nicht umhinkommen, erst einmal Frauen sichtbar zu machen, die jenseits der großen Ausnahmegestalten (wie etwa Apostelinnen, Prophetinnen, Märtyrerinnen, Ordensgründerinnen) geglaubt und von einer männlich dominierten Kirche und Theologie auf die hinteren Plätze oder ins Schweigen verwiesen worden sind.

Wer nach gelebter Spiritualität fragt, muss aber auch Gottesbilder, theologische Figuren sowie ein gewachsenes Verständnis von Amt und Charisma und nicht zuletzt die Idee von Ordnung bedenken, die in den Texten des Ersten und Zweiten Testaments angelegt wird.

Zeitgenössische Vorstellungen von Weiblichkeit in Betracht ziehen

Mit anderen Worten: Wer nach gelebter Spiritualität von Frauen fragt, wird ein breites Verständnis vom jeweiligen zeitgenössischen Kontext erwerben, nach gelebten Glauben in der verfassten Kirche sowie in der "praxis pietatis" des Alltags differenzieren und schließlich die zeitgenössischen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in Betracht ziehen müssen.

Dies ist insgesamt eine wichtige, weil notwendige Aufgabe, um schließlich einer selbstbestimmteren Spiritualität von Frauen Bahn zu brechen. Auch im Jahr 2023 ist hier noch Entwicklungspotential, denn weder sind bisher die Narrative verschwunden, die fast schon gebetsmühlenartig und damit undifferenziert die Bedeutung einer Geschlechterhierarchie in Kirche und Welt betonen, noch kann in hinreichender Form von einer Sprache des Glaubens gesprochen werden, welche die Erfahrungswirklichkeit von Männern und Frauen gleichermaßen abbildet.

Die Frage nach dem Verhältnis von Frauen und Spiritualität ist vor diesem Hintergrund also eine anstößige, aber zugleich auch eine notwendige, schließlich fordert sie, den kulturell bedingten Kontext von Kirche und Glauben ernst zu nehmen – und mit neuen Ausdrucksformen zu bereichern.

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