Nur zwei Prozent der Menschen in Deutschland haben einen Intelligenzquotienten (IQ) von über 130. Silvera Schmider ist eine von ihnen. Die 47-Jährige aus dem schwäbischen Landkreis Günzburg gilt damit offiziell als hochbegabt.
Als Begabungspädagogin führt sie inzwischen selbst IQ-Tests durch und berät hauptsächlich hochbegabte Kinder sowie deren Eltern. Bei den Beratungen geht es um Verhaltensauffälligkeiten, schlechte Noten, Schulangst, psychische Erkrankungen, Frust und Wut im Alltag.
Die Klischeevorstellung vom extrem schlauen Kind, das mit vier schon spielerisch komplexe Mathematikaufgaben löst, Schule problemlos meistert und es im Leben ohne Hilfe zu etwas bringt – es bröckelt schnell, wenn Schmider über das Thema Hochbegabung spricht.
Hochbegabung: Ein IQ-Test kann Aufschluss geben
Ich treffe Silvera in ihrer eigenen Praxis in einem ehemaligen Landwirtschaftsgebäude in Langenhaslach, ein bayerisches Dorf inmitten leuchtend grüner Wiesen. Kaum angekommen, begrüßt Silvera mich in einem freundlich ausgeleuchteten Raum mit Schreibtisch und Gesprächsecke, in dem auffällig viele Zertifikate und Auszeichnungen an einer Wand hängen.
Ein zweiter, angrenzender Raum ist kindgerecht bunt gestaltet, Gesellschaftsspiele stapeln sich in offenen Schränken, neben einem Tisch steht ein Aufsteller mit zahlreichen Unterlagen. "
Hier führe ich IQ-Tests durch", sagt Silvera in schwäbischem Dialekt und macht dabei eine weitreichende Handbewegung in das Zimmer hinein. "Eltern kommen zu mir und wollen abklären lassen, ob ihre Kinder hochbegabt sind. Dabei passiert erstmal eine breite Anamnese, sie füllen Fragebögen aus und ich lerne das Mädchen oder den Jungen kennen. Erst dann entscheiden wir, ob wir in die Testung gehen, denn die kostet einfach auch Geld."
Intelligenter als 98 Prozent der Menschen
Dass sie überdurchschnittlich intelligent ist, erkannte Schmider selbst erst mit Anfang 40. In der Schule hatte sie viele Probleme, musste das Gymnasium wegen schlechter Noten in Mathematik und Latein verlassen.
"Ich wusste immer, dass ich anders bin und dachte einfach, ich sei zu doof für diese Welt", sagt die gelernte Kinderkrankenschwester heute mit einem bedauernden Unterton.
Erst als ihre Kinder in der Schule auffällig wurden, unter psychosomatischen Beschwerden litten und bei der Suche nach einer Ursache schließlich bei allen dreien ein hoher Intelligenzquotient festgestellt wurde, ließen sich auch Schmider und ihr Mann testen.
"Wir haben uns dann schnell in das Thema reingefuchst und gemerkt: Das haben unsere Kinder nicht von irgendwo her gestohlen", so Schmider im Hinblick darauf, dass Hochbegabung vererbt wird. Beide sind heute Mitglied bei Mensa, dem größten Verein für Hochbegabte in Deutschland.
"Wer Mitglied bei Mensa werden möchte, muss bei einem anerkannten Intelligenztest ein besseres Ergebnis erzielen als 98% der Bevölkerung. Dies entspricht einem IQ von mindestens 130", schreibt der Verein auf seiner Webseite. Mensa bietet bereits Kindern und Jugendlichen spezielle Angebote zum Lernen und Vernetzen an, darunter Exkursionen, Feriencamps, offene Spieletreffs oder Seminare.
Hochbegabung bei Babys und Kindern erkennen
Sie selbst merke über den persönlichen Kontakt inzwischen sehr schnell, ob Kinder besonders intelligent seien, sagt Silvera und setzt sich auf den hellen Holzstuhl im Nebenzimmer, von dem aus sie sonst IQ-Tests durchführt. "Da ist dieser auffällig wache Blick, den ich schon bei Säuglingen erkenne", beginnt die seit 2020 zertifizierte Begabungspädagogin ihre Aufzählung der Merkmale, die bei Babys Hinweise auf eine Hochbegabung geben können.
Weitere seien: häufiges Erwachen aus dem Schlaf bei kleinsten Reizen, stundenlanges Schreien wegen Überreizung, Regulationsstörungen, auffällig starke Bindung an die Eltern, besondere Ängstlichkeit sowie extremes Springen in den Emotionen.
Ältere Kinder hätten häufig Schwierigkeiten in der Schule, seien ungeduldig und in Gedanken immer schon einen Schritt weiter, feinfühlig und stets auf der Suche nach der Sinnhaftigkeit hinter allem. "Hochbegabte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht dem System entsprechen", fasst Silvera zusammen, während wir zurück in ihr Büro gehen und uns setzen.
"Sie sind deshalb keine besseren Menschen, auch nicht unbedingt klüger. Das ist ein Mensch, der von einer Norm abweicht und deshalb Förderung braucht, damit er mit dem normierten System Schule und dieser Gesellschaft zurechtkommt."
Die Reaktion der Eltern auf einen bewiesenen hohen IQ ihrer Kinder sei deshalb stets ähnlich: "Ich habe hier noch nie jemand gehabt, der ‚Juhu‘ gesagt hat. Oft sind sie schockiert, weil sie selbst als Hochbegabte ihre Vorerfahrungen mitbringen und Angst haben, dass ihr Kind das gleiche erlebt. Dass es auch ausgegrenzt wird und gemobbt wird und sich schwertut mit anderen. Sie wollen einfach, dass ihr Kind ganz normal aufwächst."
Durchschnittliche Intelligenz
Was ist normal? Im Bereich der Intelligenz gilt ein Quotient von 100 Punkten als durchschnittlich. Laut Mensa erreichen 68 Prozent der Menschen einen Wert zwischen 85 und 115. Unter 70 sprechen Expert*innen von einer leichten Intelligenzminderung, ab einem IQ von unter 50 von einer mittleren bis schweren geistigen Behinderung. Extrem niedrige IQ-Werte sind dabei so selten wie extrem hohe.
Das Münchner Begabungsmodell geht davon aus, dass jeder Mensch unterschiedlich stark ausgeprägte Begabungsfaktoren mitbringt, die dann unter idealen Rahmenbedingungen in (Hoch-)Leistung resultieren. Zu den Rahmenbedingungen gehören Umweltfaktoren wie das Familien- und Schulklima. Auch ob Kinder beispielsweise Stressbewältigung und Lernstrategien erlernen, ist von großer Bedeutung. Läuft alles glatt, können Hochbegabte in Bereichen wie Naturwissenschaften, Kunst, Sport oder Sprachen extrem gut performen. Im gegenteiligen Fall drohen Verhaltensauffälligkeiten und psychische Krankheiten.
Schmider: Das Gehirn von Hochbegabten funktioniert anders
"Es geht mir bei der Förderung nicht darum, dass die Kinder später möglichst viel leisten, sondern darum, dass sie eine stabile Persönlichkeitsentwicklung haben dürfen und psychisch gesund bleiben", beschreibt Silvera in Langenhaslach die Motivation hinter ihrer Arbeit. Deshalb setzt sich die 47-Jährige dafür ein, dass sich die Begabtenförderung weiterentwickelt und Begabte sich vernetzen. Sie bietet Stammtische für Eltern an, organisiert Bildungs-Ausflüge für Kinder, hält Vorträge rund um das Thema und hat eine Jugendgruppe ins Leben gerufen.
"Unter Hochbegabten ist es nicht relevant, ob man jetzt Professorin ist oder Bauarbeiter, man versteht sich."
Das liege hauptsächlich daran, dass das Gehirn von Hochbegabten anders funktioniere. Es weise messbar stärkere Vernetzungen auf und sei stets in einem hyperaktiven Modus. "Da hast du quasi wie im Browser tausend Tabs offen und von A bis Z ist alles drin an Themen", so Silvera. Weitere Merkmale: Eine "wahnsinnige" Assoziationsfähigkeit, sehr schnelles Springen von Thema zu Thema, divergentes, komplexes Denken. "Wenn wir als Familie am Küchentisch sitzen, kann es sein, dass wir alle kreuz und quer reden und einer den anderen nicht ausreden lässt, weil er eh schon weiß, worauf der andere hinauswill, aber es funktioniert, weil wir alle ähnlich denken."
Auch die Sinnesorgane sind laut Silvera bei Hochbegabten verstärkt ausgebildet, weshalb hochbegabte Kinder manchmal bestimmte Stoffe auf der Haut einfach nicht ertragen oder in der Schule vor sich hin summen, um sich vom Lärm der Klasse abzuschotten.
Schlechte Noten und Probleme in der Schule
Im Unterricht haben Kinder mit Hochbegabung aufgrund dieser Besonderheiten oft Probleme. Anstatt mit guten Noten zu glänzen, quälen sich viele durch die Schulzeit. "Sie lernen oft das Lernen nicht", beginnt Schmider die Herausforderungen aufzudröseln. Anfangs würden sich die Kinder mit allem leichttun, seien schnell unterfordert und hätten deshalb wenig Motivation, intensiv zu lernen. Auch die anfängliche Wissbegierde nach tiefergehenden Fragestellungen und Hintergründen, die Hochbegabte üblicherweise hätten, würde meist nicht gestillt, sodass die Kinder das Interesse verlören. Manche würden aus Langeweile zu Klassenclowns, andere aggressiv.
"Das Gehirn von Hochbegabten braucht ständig Futter", betont Schmider, Unterforderung sei fatal und die negativen Auswirkungen ähnlich dramatisch wie bei Überforderung.
"Ich habe mal einen Jungen getestet, der an einer simplen Minusrechnung gescheitert ist, aber eine komplexe Gleichung mit Brüchen und einigen Zwischenschritten aus dem Kopf heraus spontan richtig gerechnet hat", nennt Schmider ein Beispiel. Kinder wie er bräuchten diese komplexen Herausforderungen zwingend, um Leistung zu bringen. In der Schule könnten dies zum Beispiel Arbeitsblätter mit Sonderaufgaben sein. Schmider, die seit 2022 auch politisch aktiv ist, plädiert unter anderem dafür, dass das Thema Hochbegabung Teil der pädagogischen Ausbildung wird und sieht in jedem Landkreis Bedarf für eine Beratungsstelle.
Wissen sei der Schlüssel, um Kinder zu schützen und Fehldiagnosen wie ADHS oder Autismus zu verhindern: "Klar gibt es auch Mischformen, ich berate beispielsweise eine Person, die sowohl autistisch als auch hochbegabt ist und zusätzlich eine Wahrnehmungsstörung hat. In diesem Fall ist Begabung aber die riesige Ressource, die viel kompensieren kann."
Die Flügel ausbreiten
In ihrem Büro greift Silvera abschließend hinter sich nach einem Buch, um mir eine Illustration des britischen Künstlers Charlie Mackesy zu zeigen, die ihr augenscheinlich viel bedeutet. Dargestellt sind mehrere gezeichnete Szenen, die ein Pferd mit Flügeln im Gespräch mit einem kleinen Jungen, einem Fuchs und einem Maulwurf zeigen: "Es gibt etwas, das ich euch noch nicht erzählt habe", sagt das Pferd im ersten Bild. "Was denn?", fragt der Junge. "Ich kann fliegen. Aber ich habe damit aufgehört, weil die anderen Pferde neidisch waren", erwidert das Pferd. Der Junge sagt daraufhin: "Also, wir lieben dich, ob du fliegen kannst oder nicht." – und das Pferd breitet Schritt für Schritt seine großen Flügel aus.
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