Erwin Stiers Lieblingsengel steht hinter der Friedhofskapelle: Die etwa ein Meter große, mädchenhafte Figur schmückt das Familiengrab des Augsburger Chemikers Felix Grandel. Die Flügel des Himmelsboten sind weit ausgebreitet, mit der rechten Hand legt er symbolhaft eine Rose auf das Grab vor ihm.
Dass der »Engel mit der Rose« heute unbeschadet auf die Grabstätte blicken kann, hat er Erwin Stier und seinen Mitarbeitern zu verdanken. Der Leiter des Protestantischen Friedhofs in Augsburg hat die Figur zusammen mit anderen sogenannten Galvanoplastiken vor einigen Jahren restaurieren lassen und sie so vor der Zerstörung bewahrt. Den mehr als 100 Jahre alten Kunstwerken hatten Wind und Wetter arg zugesetzt. Der Friedhof ließ sie daher von einer Regensburger Firma instand setzen. »Auch Engel kann man retten«, sagt Stier, »zumindest die irdischen.«
Prominente Protestanten
Erwin Stier arbeitet bereits seit 25 Jahren auf dem Protestantischen Friedhof, seit 20 Jahren leitet er ihn. Der Erhalt der Grabdenkmäler ist ihm wichtig. »Wir wollen sie für die Nachwelt bewahren«, erläutert er. Eine anspruchsvolle Aufgabe, denn auf dem rund 62 000 Quadratmeter großen, parkartigen Gelände gibt es eine stattliche Anzahl davon.
Der Protestantische Friedhof ist Augsburgs ältester Friedhof. Im Jahr 1534 ließ ihn der Magistrat der Stadt außerhalb der Stadtmauern anlegen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg übernahmen die evangelischen Kirchengemeinden ab 1648 die Verwaltung. Noch heute stehen hinter dem Friedhof die fünf Innenstadtgemeinden St. Anna, St. Ulrich, Heilig Kreuz, Zu den Barfüßern und St. Jakob.
Lange Zeit wurden auf dem Areal südlich der Augsburger Altstadt ausnahmslos Protestanten zur letzten Ruhe gebettet. Darunter sind viele Augsburger Prominente: Die Eltern Bert Brechts liegen hier begraben und die Famlie der Welser, der Renaissance-Baumeister Elias Holl hat hier ebenso ein Grab wie der Bildhauer Fritz Koelle oder der MAN-Mitbegründer Heinrich von Butz.
Erst seit den 1960er-Jahren gibt es auf dem Friedhof Begräbnisse für Menschen anderer christlicher Kirchen. Seit jüngerer Zeit werden auch Konfessionslose beerdigt. »Die Mitglieder einer Familie sind heutzutage längst nicht mehr alle nur evangelisch«, erläutert Frank Kreiselmeier, Pfarrer in der Kirchengemeinde St. Ulrich. Ein konfessionsloses Familienmitglied zu beerdigen, sei daher auf dem Protestantischen Friedhof nichts Außergewöhnliches mehr.
Dennoch ist Kreiselmeier das Wort »protestantisch« im Namen des Friedhofs wichtig. »Wir sind ein kirchlicher Friedhof«, betont der Pfarrer. »Wir legen Wert auf die Begleitung der Angehörigen und den Ritus der christlichen Bestattung.« Dazu gehöre insbesondere ein Gottesdienst und der gemeinsame Gang zum Grab.
Vielen Angehörigen ist das jedoch nicht mehr bewusst. »Beerdigungen sollen heute oft Event-Charakter haben«, berichtet Friedhofsleiter Stier. Übermäßiger Blumenschmuck oder ausgefallene Musik seien keine Seltenheit. Für Frank Kreiselmeier ist das kein Problem, solange es in den Rahmen einer christlichen Beerdigungsfeier passt. Wenn der Event-Charakter jedoch überhand nehme, sei ein würdevolles Abschiednehmen von den Verstorbenen und die Begleitung der Angehörigen in ihrem Schmerz nur schwer möglich, meint der Pfarrer: »Aber genau das gehört zu unserer christlichen Bestattungskultur, und dafür nehmen wir uns bewusst Zeit.«
Spiegelbild der Stadtgeschichte
Teil dieser Kultur ist auch die gesamte Friedhofsanlage. Der Besucher fühlt sich hier wie in einem Park. Die Idee dafür stammt vom Architekten Michael Voit. Anfang des 19. Jahrhunderts gestaltete der »königlich bayerische Kreisbauinspector« das Gelände zu einem Musterareal für andere deutsche Friedhöfe um. Die einstigen »Gottesäcker« sollten zu »heiteren Ruhegärten der Abgeschiedenen« werden. Nicht nur die Toten fanden dort ihren Platz. Auch für die Lebenden sollte es ein Ort des Rückzugs sein. Noch heute erfüllt der Protestantische Friedhof diese Erholungsfunktion. Mehr als 1000 hohe Bäume stehen auf dem Gelände. Seltene Vogelarten haben hier ihr Zuhause, manchmal kann man in dem Park Eichhörnchen oder Feldhasen entdecken. Nicht umsonst belegte der Friedhof 2014 den fünften Platz bei einem Wettbewerb, der die schönsten Friedhöfe Deutschlands kürte.
Dies liegt auch an der enormen Vielfalt an Ruhestätten für die Verstorbenen: 9600 Gräber gibt es hier. Sie sind ein Spiegelbild evangelischer Stadtgeschichte. In ihrer oft prunkvollen Gestaltung zeigt sich die Wertschätzung der Hinterbliebenen für die Toten. Zum Vorschein kommt darin aber auch die soziale Stellung, die die Verstorbenen in der Stadt hatten. Im Westen, dort wo das Gelände des Friedhofs ansteigt, wurden angesehene Bürger und Industrielle beerdigt. Auf ihren Gräbern stehen oft große, beeindruckende Denkmäler. In den unteren Teilen des Friedhofs sind die Grabsteine einfacher. Hier liegen die »normalen« Verstorbenen begraben.
Heute sind aufwendig gestaltete, moderne Grabdenkmäler eher selten geworden. Stattdessen habe in den letzten 20 Jahren die Zahl der Urnengräber stark zugenommen, berichtet Friedhofsleiter Stier. Von den rund 250 Beerdigungen im Jahr seien weit mehr als die Hälfte Urnenbegräbnisse. »Die Leute wollen ihren Angehörigen nicht zur Last fallen«, sagt Stier. Ein Urnengrab sei günstiger und leichter zu pflegen. Dennoch lege man auch hier Wert auf die christliche Tradition. Anonym beerdigt werde niemand, erläutert der Friedhofsleiter. So gebe es auch im neu angelegten Urnengemeinschaftsgrab zu jeder Urne einen Grabstein mit Namen.
Diese gewachsene Tradition ist vielen Menschen wichtig. »Sie wollen an einem Ort begraben werden, wo Geschichte und Vergangenheit sichtbar werden«, sagt Frank Kreiselmeier. Der Protestantische Friedhof sei ein solcher Ort. »Ein alter Ort, an dem das Wissen vorhanden ist, wie man Menschen im Abschied begleitet«, erläutert der Pfarrer, »und ein Ort, an dem etwas spürbar wird von der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben.«
Internet: www.protestantischer-friedhof.de