In den 1990er Jahren kamen Zehntausende Jüdinnen und Juden aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland - viele von ihnen blieben, die Israelitischen Kultusgemeinden wuchsen enorm. Nun kommen wieder Juden aus Osteuropa, doch diesmal fliehen sie vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Mehrere Tausend sind es bis jetzt, wie viele es noch werden, ist völlig unklar, sagt der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster.

Jüdische Gemeinden in Großstädten betreuen geflüchtete Jüd*innen

Vor allem die Israelitischen Kultusgemeinden in Großstädten wie München, Berlin oder Frankfurt am Main haben jeweils bereits Hunderte geflüchtete ukrainische Jüdinnen und Juden betreut, sagt der aus Würzburg stammende Zentralratspräsident. In seiner eigenen Gemeinde sind es bislang nur etwa 15 Familien, die vor allem über persönliche Kontakte den Weg nach Unterfranken gefunden haben. Mit Blick auf Deutschland sagt er, die jüdischen Gemeinden "haben noch genug Kapazitäten".

Vergangene Woche meldete sich beispielsweise die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) zu Wort. Mehr als 400 jüdische Geflüchtete aus der Ukraine habe man inzwischen betreut. Ziel sei es, die meist traumatisierten Menschen sicher unterzubringen und ihnen Wege in einen halbwegs normalen, strukturierten Alltag zu ermöglichen:

"Diese Herausforderung ist gewaltig - aber die Hilfsbereitschaft ist es auch",

sagte die Gemeindepräsidentin Charlotte Knobloch.

Die Nürnberger Kultusgemeinde hat am ersten Wochenende nach Kriegsbeginn einen Hilfskonvoi aus 22 Kleintransportern und einem 40-Tonnen-Lkw nach Lwiw gefahren, sagt André Freud. Ein riesiges Spendenlager sei aufgebaut, Kleiderspenden nehme man schon nicht mehr an. Zudem wurde eine "Kinderbetreuung" in der Gemeinde eingerichtet, die zehn Stunden am Tag geöffnet ist. Die Behörden vor Ort profitierten unterdessen von den Russisch-Kenntnissen der Gemeinde-Mitarbeitenden.

Jüdische Spätaussiedler hegen keine Sympathien für frühere Heimatländer, haben aber viele Gemeinsamkeiten mit Flüchtlingen

Inzwischen gibt es Berichte, dass einige wenige russischstämmige Bürger in Deutschland das offensichtlich völkerrechtswidrige Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin verteidigen. So etwas werde es in jüdischen Gemeinden nicht geben, ist Schuster überzeugt - auch wenn ein erklecklicher Teil der jüdischen Kontingentflüchtlinge aus Russland kam, etwa um die 45 Prozent. Aus der Ukraine waren es übrigens genauso viele, die übrigen Ex-Sowjetstaaten machten insgesamt nur 10 Prozent aus.

Spannungen aber werden in den jüdischen Gemeinden wohl nicht aufkommen. Denn anders als bei manchen Russlanddeutschen hegten die jüdischen Spätaussiedler keine großen Sympathien für ihre früheren Heimatländer:

"Sie haben diese Länder nicht grundlos verlassen, sondern weil sie ganz erheblichen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt waren und sich hier in Deutschland ein sichereres Leben versprochen haben",

erläutert Schuster. Die Geflüchteten würden mit offenen Armen empfangen.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hatte vor wenigen Tagen gesagt: "Rund 75 Jahre nach dem Verbrechen der Nationalsozialisten flüchten Juden nach Deutschland, um dort Schutz zu suchen und sie finden ihn hier." Jüdische Gemeinden hätten die Bedarfe der aus der Ukraine Geflüchteten durch bestehende familiäre und sprachliche Verbindungen in das Land schnell einschätzen können und so schnell und unbürokratisch Hilfe organisiert, sagte Klein weiter.

Auch Schuster bewertet es als großen Vorteil, dass in den jüdischen Gemeinden viele Mitglieder mit ukrainischen und russischen Wurzeln zu Hause seien - nicht nur wegen der Sprachen. Die Gemeinden selbst wüssten durch die Aufnahme Zehntausender Jüdinnen und Juden aus der Ex-Sowjetunion, wie Integration gelebt werden muss, damit sie funktioniert: "Wir haben einen enormen Erfahrungsschatz, der uns jetzt selbst nutzt - von dem aber auch andere profitieren können", betonte Schuster.

Menge jüdischer, vom Krieg betroffene Menschen aus der Ukraine

In der Ukraine lebten vor Kriegsbeginn etwa 45.000 halachische Juden - also Menschen, bei denen mindestens die Großmutter jüdischen Glaubens war. Nimmt man auch noch alle Menschen nur mit jüdischem Großvater hinzu, seien es um die 200.000, erläuterte Schuster. Wie viele von ihnen wegen des Krieges die Ukraine verlassen, sei völlig unklar. Nach den aktuell geltenden Regelungen könnte aber jeder von ihnen nach seiner Einreise in Deutschland einen Antrag auf Zuwanderung stellen.

Besonders tragisch sei die Situation der Holocaust-Überlebenden in der Ukraine, die inzwischen alle hochbetagt sind. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) bemühe sich intensiv darum, viele Betroffene aus der Ukraine nach Deutschland zu holen, sagte der Zentralratspräsident. Viele seien allerdings nicht mehr sonderlich mobil: "Aber wir tun, was wir können." Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände hätten nicht nur dafür ihre Unterstützung zugesichert.