Der Mensch werden, den ich mag

"Wie ich der wurde, den ich mag". Diesen Titel trägt ein neues Buch von Pierre Stutz, dem bekannten geistlichen Schriftsteller und Mystiker. Ich habe es sehr gern gelesen. Vom Buchcover lächelt Pierre mich verschmitzt an. Hellblaues Leinenhemd mit Stehkragen, der obere Knopf offen, weiße Bartstoppeln im Gesicht. Seine Augen blitzen durch die kleine Brille. Mit seinen fast 70 Jahren hat er noch etwas Jungenhaftes, Jugendliches, Verschmitztes.  Die Fältchen um die Augen lassen ahnen: Hier hat jemand viel Humor und: hier hat jemand einiges erlebt und mitgemacht.

Aus dem vielen, das er erlebt hat, hat, ist diese wunderbare Autobiographie geworden. "Wie ich der wurde, den ich mag."

Pierre erzählt: Von seiner Kindheit als jüngstes von vier Kindern in einem Dorf in der Schweiz. Wichtig ist immer: "Was denken die anderen? Schließlich verlässt er das Dorf. Als er noch ein junger Mann ist, stirbt erst seine Mutter und kurz danach sein Vater. Eine existenzielle Erfahrung für ihn. Pierre geht einen geistlichen Weg, er wird katholischer Priester und Jugendseelsorger. Später gründet er ein offenes Kloster. Seine Leidenschaft ist: Geistliche Texte und Bücher schreiben. Seine Worte berühren viele Frauen und Männer, ich gehöre auch dazu

Sehr offen erzählt Pierre Stutz von den Krisen und Brüchen in seinem Leben. Mit Ende 40 erleidet er ein schweres Burnout und eine lange Phase der Kraftlosigkeit. Er beginnt Therapien und arbeitet an der Frage: "Wer bin ich im Grunde meines Wesens?" Und er entdeckt: so viel hab ich verdrängt im Lauf meines Lebens. So vieles vernachlässigt. Vor allem sein inneres Kind, den kleinen Peter von früher hat er vernachlässigt, das verletzte innere Kind. Und er erfährt: Im Gedächtnis des Körpers bleibt so viel lebendig, was der Verstand einordnet, wegsperrt und meint, damit sei es erledigt:

Sein größter Schmerz: Er kann sich nicht wirklich selbst annehmen, und lieben – das fällt ihm schwer, das blockiert und behindert ihn immer wieder. Es dauert lang, fast 50 Jahre, bis er seinen Herzenswunsch annehmen, aussprechen und leben kann: Lieben. mit einem Partner zusammenleben und lieben. Einen Menschen partnerschaftlich lieben. Er gibt sein Priesteramt auf und orientiert sich neu. Endlich gelingt es ihm, der Mensch zu werden, den nicht nur andere mögen, sondern den er selbst mag. Er hat die Liebe seines Lebens gefunden. Mit seinem Mann ist er nun schon einige Jahre verheiratet und kann als fast 70jähriger heute sagen: Es ist nie zu spät so zu werden, wie wir von Anfang an gemeint sind: geborgen und frei.

Was mir besonders gefällt, ist der versöhnte, liebevolle und ehrliche Blick auf das eigene Leben. Nichts hochjubeln, schönreden, rechtfertigen, sondern ernst nehmen und wertschätzen, was da ist, auch die Tränen, Verdrängtes, Unerwünschtes, die Angst, von anderen nicht geliebt zu werden. Ja sagen zu Lebensplänen, die durchkreuzt sind. Das Leben einfach da sein lassen und vertrauen: Alles Werden ist irgendwie ein Werden in Gott und auf Gott hin.

Mein eigener Lebensweg ist in vielem anders als der von Pierre Stutz. Und Ihrer gewiss auch. Und doch berührt dieses Buch Tiefenschichten des eigenen Lebens: Du bist ein Mensch, der eine Geschichte hat, der schon einen ganz schönen Weg gegangen ist, sich entwickelt hat und immer noch entwickelt. Leben ist Entwicklung, ein Werden und manchmal auch ein Kreisen um Themen, die immer wiederkehren. Dein Leben ist auch Zerbrechen, Enttäuschen und Enttäuscht-werden, und manchmal ist da auch das Gefühl, du bist gescheitert, und doch bis du eine geliebte Seele.

Die geliebte Seele sein, der Mensch, den ich selber gern mag. Das ist eine geistliche Lebensaufgabe, die auch bedeutet: Mich annehmen mit den Dingen, die nicht gut sind – oder zumindest auf den ersten Blick oder aus jetziger Sicht nicht gut sind. Mit Entscheidungen, die mir heute als falsch erscheinen. Mit Menschen, die ich enttäuschen musste oder die mich enttäuscht haben… Manche Entscheidung hat man fürs ganze Leben getroffen und geplant, und das wird manchmal zu einer schier unlösbaren Aufgabe: Man will zu seinem Wort stehen und spürt doch, dass man sich selbst verrät, wenn man einfach so weitermacht.

In diesen Wochen ist in evangelischen Gottesdiensten ein Abschnitt aus dem Markusevangelium zu hören. Eine Lesung, die von Lebensentscheidungen handelt. Und von Herzensdingen.

Pharisäer traten zu Jesus und fragten ihn, ob es einem Mann erlaubt sei, sich von seiner Frau zu scheiden, und versuchten ihn damit. Er antwortete aber und sprach zu ihnen: Was hat euch Mose geboten? Sie sprachen: Mose hat zugelassen, einen Scheidebrief zu schreiben und sich zu scheiden. Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Herzens Härte willen hat er euch dieses Gebot geschrieben; aber von Anfang der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau. Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und wird an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein. So sind sie nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. (Mk 10,3-9)

Es geht um Ehe und Ehescheidung, also um sehr sensible Themen für verheiratete Menschen und Familien. Und es geht um Jesus, der so vom Leben erzählt, dass es jede Lebensfrage betrifft und dass es jeden Menschen berührt.

Ein paar Fromme fragen ihn: Darf man sich eigentlich scheiden lassen? Jesus, was sagst du dazu? Seine Antwort überrascht mich. Wenn auch etwas indirekt, sagt Jesus: Ja! Mose hat dieses Gebot geschrieben. In bestimmten Fällen darf man sich scheiden lassen.

Wie geht es deinem Herzen?

Und er spricht noch etwas Anderes an. Wenn zwei Menschen nicht mehr miteinander können, dann ist da im Inneren, spirituell etwas geschehen: Herzen haben sich verhärtet. Herzen, die mal in einem gemeinsamen Rhythmus geschlagen und aufeinander geachtet haben, sind hart geworden. So hart, dass sich nichts mehr bewegt, sich nichts mehr entwickeln kann.

Bei Jesus und in der hebräischen Bibel ist das Herz ein Symbol des inneren Menschen, der inneren Lebendigkeit. Wenn jemand innerlich verhärtet ist, braucht sie oder er oder brauchen beide Hilfe, Krise ist ein modernes Wort für das verhärtete Herz.

Krisen schmerzen und sind anstrengend. Für jeden und jede, für Allein-Lebende, Paare und Familien, hetero oder queer, verheiratet oder nicht verheiratet. Wenn eine Partnerschaft oder Ehe in der Krise ist, muss man miteinander aneinander arbeiten, und Ja, das ist anstrengend. Jede Beziehung macht Arbeit und darf Arbeit machen. Es ist Herzarbeit.

Wie geht es deinem Herzen, höre ich Jesus fragen. Wenn zwei Herzen sich langfristig und hoffnungslos verhärten, kann es vielleicht besser sein, sich auf Zeit zu trennen, oder auch sich scheiden zu lassen.

Ich finde es schlimm, wenn Menschen schief angesehen werden, weil sie geschieden sind. Niemand wirft gern seine Ehe einfach so über Bord und trennt sich von heute auf morgen, aus einer Laune heraus. Jede Krise, ob Ehe, Beziehung oder Freundschaft hat eine längere Geschichte. Und jede Krisengeschichte will erzählt, gehört, verarbeitet und auch betrauert werden.

Jesus ist kein Scheidungsrichter, auch kein Fachanwalt für Eherecht. Jesus ist der göttliche Seelsorger. Er ist Anwalt des Lebens in der Gegenwart Gottes. Und Jesus legt den Finger auf die seelische, auf die spirituelle Wunde einer Trennung. Herzen werden hart, Menschen werden schuldig und verwunden sich gegenseitig. Herzenshärte…

Dem stellt Jesus ein anderes Bild gegenüber. Das bewegliche Herz. Der Mensch als lebendiges Herzenswesen. Menschsein nach Jesus, das ist: Sich entwickeln, sich bewegen, leben mit einem beseelten Herzen, das pulsiert und arbeitet, Mensch werden vor Gott. Und Jesus erinnert: Du bist von Gott so gewollt und gemacht, als lebendiger Mensch, männlich und weiblich, was auch immer das konkret für dich heißt: Entdecke deinen Weg als Mann, als Frau, als dieser Mensch. Nabel dich ab von deiner Mutter und deinem Vater, eine große lebenslange Aufgabe, und versöhn dich auch mit ihnen, werde erwachsen. Lös dich von Traditionen, die dich einengen. Finde deine Form, wie du mit anderen zusammenleben und lieben kannst: Allein, als Paar, als Familie, in einer Gemeinschaft. Such deinen Lebensmenschen und verbinde dich mit ihm, ihr werdet ein Fleisch, ein Körper, ein Leib. Gott ist dabei – und ihr werdet das auch ganz körperlich spüren in eurem Miteinander, in eurer Erotik, in eurem Liebesspiel mit Herzen, Mund und Händen…

Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Dieser Satz wird oft so verstanden, als ob Jesus ein Verbot der Scheidung ausspricht, ja als ob er das noch verschärft. Ich verstehe diesen Satz anders.

Was Gott zusammen fügt ….

"Was Gott zusammen fügt" das will ich nicht einfach nur mit der Ehe identifizieren, womöglich nur mit der kirchlichen oder nur mit der Mann-Frau-Ehe.

Gott fügt zusammen – Da steckt für mich viel mehr drin: Eine Weise, wie ich mein ganzes Leben anschauen, verstehen, deuten kann. Alles ist irgendwie von Gott zusammengefügt. Ich finde diese Sicht wunderschön und manchmal auch verstörend: Gott hat dein Leben so zusammengefügt. Aus diesem und diesem. Aus diesen Begabungen und jenen Schwächen. Und auch mit diesen Menschen, die da zu deinem Leben dazu gekommen sind, für kurze oder ganz lange Strecken deines Wegs… So bist du geworden, so hast du dich entwickelt, Das bist Du. Und Gott hat es so zusammen gefügt…

Es sind zwei sehr verschiedene Sichten von Religion, die sich hier begegnen und fast schon aufeinanderprallen: Auf der einen Seite die sogenannten "Pharisäer", das sind Frauen und Männer, die ich mir distanziert mit verschränkten Armen und prüfendem Blick vorstelle; die in Regeln und Verboten denken, die beobachten, analysieren, beurteilen. Klare Frage – klare Antwort. Hier richtig - da falsch. Das ist gelungen und das ist gescheitert. Das ist religiös und das ist profan, gottlos, sündig.

Und auf der anderen Seite Jesus, für den alles mit Gott zu tun hat, auch das vermeintlich Falsche oder Sündige. Jesus geht davon aus: Leben ist Menschwerdung. Leben entwickelt sich, ist Herzarbeit und hat mit Gott zu tun. Religion gibt keine fertigen Antworten. Sie hält die offenen Fragen aus und bleibt so Gott auf der Spur.

In unserer Zeit wünschen sich viele einfache und klare Antworten zu den Fragen und Krisenthemen unserer Zeit. Wieviel Migration vertragen wir? Geht es uns in Zukunft noch wirtschaftlich gut? Wie mit dem Wandel des Klimas umgehen? Darf man Waffen liefern, damit sich ein angegriffenes Volk verteidigen aber damit auch töten kann?

Zulauf haben die Politiker und Parteien, die einfache Lösungen anbieten, in Bierzelten markige Sprüche von sich lassen und dabei beanspruchen, man würde dem Volk aufs Maul schauen, man würde die einfachen Leute verstehen. Ich traue solchen Leuten und ihren Sprüchen nicht, ich spüre da wenig Herz und oft auch wenig Hirn. Große Fragen brauchen auch ein großes Nachdenken. Differenzieren. Fachwissen sammeln, Fachleute befragen. Und dazwischen auch mal ein nachdenkliches Schweigen und den Mut zu sagen: Wir haben noch keine große Lösung, wir können gerade nur einen nächsten Schritt gehen. Das Leben ist nicht einfach, es ist komplex.

Nochmal zurück zur Frage, die Jesus gestellt wird: Was ist, wenn man keinen nächsten Schritt mehr miteinander kann? Wenn zwei Leute sagen: Wir können nicht mehr miteinander ….

Gott hat euer Leben zusammengefügt, sagt Jesus und weiß auch: Es gibt die Fälle der Herzenshärte, manche Ehe ist wirklich entsetzlich. Dann ist es besser sich zu trennen und heil zu werden und sich nicht gegenseitig zu zerstören. Und doch bleibt etwas für immer, unauflöslich, auch nach einer Trennung oder Scheidung. Man kann die rechtliche Verbindung auflösen, aber nicht, was das Leben, was der Ewige gewirkt hat in den Herzen und Seelen auf einem Weg, der mal gemeinsam war. Auch die Trennungen, die jemand durchleidet, lassen einen zu dem Menschen werden, den man heute hoffentlich gern mag.

Was bleibt, wenn gemeinsame Wege enden…

Eine getrennte Partnerin, ein früherer Mann bleibt immer Teil des eigenen Lebensweges. Das kann man nicht auslöschen. Bei einer Trennung oder Scheidung regelt man Unterhalt, Vermögen, die Beziehung zu gemeinsamen Kindern und manches mehr – und das muss auch so sein. Die Wunden aber bleiben, die Erinnerungen auch, manchmal leuchten sie aus der Ferne der Vergangenheit in warmen schönen Farben auf. Ein Mensch, mit dem ich gelebt und geliebt habe, mit dem ich ganz tiefes Intimes und manchmal auch Geistliches erfahren und geteilt habe, dieser Mensch ist auch nach einer Trennung Teil meines Gedächtnisses, meiner Lebensgeschichte, von der ich glaube: Gott wirkt in ihr…

Ich mag es nicht, wenn man geschiedene Ehen "gescheitert" nennt. In früheren Zeiten hat man sogar nach der Schuld gefragt – als ob nur einer allein schuld sei am Enden eines gemeinsamen Weges. Es war üblich, beim Scheidungstermin die Noch-Eheleute zu fragen: "Halten Sie Ihre Ehe für gescheitert"? Ich finde so eine Frage falsch. Als ob alles Gemeinsame deswegen gescheitert ist, weil die Ehe nicht mehr weitergeht. Als ob die gemeinsame Zeit, keinen Wert hatte.

Andreas Herrmann, evangelischer Theologe und Paartherapeut aus München, blickt auf beendete Beziehungen in seinem eigenen Leben zurück und stellt fest:

"Auch, wenn viele Wege …mit anderen Menschen, Liebespartnern, Freunden oder Kollegen vielleicht verschlungen, kompliziert oder irreführend waren, ich wüsste nicht, was "gescheitert" bedeuten sollte. Ich bin an so mancher Lebenskreuzung anders abgebogen als der ein oder andere Mensch, mit dem ich bis dahin unterwegs war. Meine jetzige Beziehung erlebe ich als gelingender denn je und fühle mich glücklich und auf einem guten Weg. Ich habe viel gelernt und bin gespannt, wohin mich mein Weg führen wird."[1]

Ich kann mich in diesen Worten gut wieder finden- Auf meinem eigenen Lebensweg habe ich selbst zwei Trennungen in Partnerschaften erlebt, das ist schon einige Jahre her. Heute bin ich sehr glücklich verheiratet, dankbar für meine Familie und dankbar, dass die Dinge meines Lebens sich so entwickelt haben. Manchmal denke ich noch an die beiden früheren Partnerschaften und sage: Danke Gott, du hast so vieles in meinem Leben - auch durch Schmerzen hindurch -  gefügt, gut zusammen gefügt. Segne auch die beiden, wo immer sie gerade sind.

Ein Herz wie ein Bergwerk ….

Weusd a Herz hast wia a Bergwerk. Ein Lied, das ich wahnsinnig gern mag, das mich berührt, wenn ich es höre und manchmal auch mittanze. Ein Herz wie ein Bergwerk. Darüber ist es im Bergwerk eigentlich ganz unromantisch, hart, laut, staubig, schmutzig, dunkel, mit Stirnlampen geht man in die Tiefe, da wird handgreiflich gearbeitet, gegraben und gebaut. Man arbeitet gegen die Härte der Steine. Und da ist immer Hoffnung, dass man noch einen ganz großen Schatz hebt. Ja, so ist Herzarbeit.

Im Herzen wie im Bergwerk – da wird gearbeitet. Ich finde, das ist eine megaschöne Liebeserklärung. Du hast ein Herz wie ein Bergwerk. Ich sehe, du arbeitest an uns, du arbeitest an dir und mir.

Danke, du Lebensmensch für dein Herz wie ein Bergwerk, für all deine Herzarbeit. Dadurch geht mir auch was auf von dem, der uns zusammengefügt hat. Danke

 

[1] Andreas Herrmann, Weil wir lieben, Goldegg Verlag; 30f, leicht gekürzt.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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