Paradoxe Gottesnamen
"Vater unser im Himmel". Im Gottesdienst, am Taufstein, am Grab unserer Lieben, auch jeden Sonntag hier in der Morgenfeier gibt dieses Gebet Kraft und Trost. Und Gott "Vater" zu nennen klingt vertraut und liebevoll. Ich habe von einem Gottes-Namen gelesen, der etwas anderes ausstrahlt. Da heißt Gott: "Du stilles Geschrei". Und alles in mir sagt, ja, das ist in dieser Zeit ein guter Name für Gott.
"Du stilles Geschrei". Das steht nicht in einer heiligen Schrift. In einem anonym überlieferten Brief aus dem späten Mittelalter taucht dieser Name zum ersten Mal auf. Man weiß nicht genau, an wen der Brief adressiert ist. Vielleicht hat eine Seelsorgerin ihn geschrieben an einen Menschen in großer Zerrissenheit. Denn so beginnt der Brief: "Mein Kind, sei geduldig und lass dich, dieweil man dir Gott nicht aus dem Grunde deines Herzens gräbt."[1]
Da wird einem Menschen Gott fast aus Herz gegraben. Die Seelsorgerin spricht ihn zärtlich an – mein Kind. Und empfiehlt ihm: lass dich, vertrau dich an, lass dich fallen. Es wird nicht gelingen, dir Gott aus deinem Herzen zu graben. Sie bietet ihm eine Reihe von Gottesbildern an: Tiefer Schatz, Brunnen, wer kann dich erschöpfen? Lichter Glanz- bloße Verborgenheit, verborgene Sicherheit. paradoxe Bilder. Keine glatten Lösungen. Und Ohnmacht statt Herrschaft. Und dann taucht dieser Name auf in dieser Reihe: "du stilles Geschrei". Etwas stilles, und doch ein Schrei. Gott befiehlt hier nicht wie ein König oder ein Herrscher. Gott ist ein Schrei in der Welt. In uns selbst. Ich höre diesen Schrei seit einiger Zeit. Still in mir, als stünde ich mit geöffnetem Mund da, und kein Ton kommt raus. Dieser Gottesname entspricht genau meiner Gefühlslage. Doch ich höre den Schrei auch von den vielen Menschen, die unsägliches Leid getroffen hat. In Israel. In Gaza. In der Ukraine. Menschen, denen man Gott aus dem Grunde des Herzens gräbt. Das soll niemanden gelingen. "Du stilles Geschrei"
Terror in Israel
Sie sind gekommen wie Diebe in der Nacht und haben auf schlafende, wehrlose Kinder, Greise, Frauen und Männer geschossen. Und auf tanzende und feiernde Jugendliche. Sie haben sie getötet. Als Geiseln verschleppt. So war das vor zwei Wochen. Der Hass der radikalen Hamas hat Menschen im Süden Israels getroffen, die selbst auf Frieden und Zusammenleben setzen mit den palästinensischen Nachbarn. Menschen, die sich von ihrer eigenen Regierung aber nicht geschützt fühlen. Im Stich gelassen. Der schwärzeste Tag seit dem Holocaust sei dies für Israel. In diesen Konflikt seien seit vielen Jahren die meisten Gelder und die meisten Gebete auf dieser Welt geflossen – Gebete um Frieden und Respekt voreinander. Und so viele Menschen treffen sich dort über die Grenzen hinweg: Eltern zum Beispiel, die bei einem Terroranschlag in Israel oder bei einem Polizeieinsatz auf palästinensischem Gebiet ein Kind verloren haben. Sie treffen sich im Parents-Circle. Um sich kennenzulernen, und über die Grenzen des Hasses hinweg miteinander zu trauern und Freundschaft zu schließen. Aber all das wird immer wieder zerstört. Jedes Pflänzchen der Menschlichkeit zertreten.
"Seit Tagen gebe ich Interviews, schreibe Beiträge. Ringe mit den Worten. Schreibe ich wütend, frage ich mich, was ich damit rechtfertige – welche Verantwortung ich mit meinen Worten für die Zivilbevölkerung in Gaza trage…Schreibe ich zurückhaltend, dann tue ich den Ermordeten, Misshandelten, Verschleppten, den stummen Gesichtern in den Traueranzeigen Unrecht. Ich versuche, diese Zerrissenheit in mir auszuhalten. Aber sie tut genau das. Sie zerreißt. Sie lässt mich nach jedem Interview mit zugeschnürter Kehle zurück…"[2]
So der israelische Schriftsteller Ofer Waldmann in einem Brief aus der Hafenstadt Haifa. Tödliche Verstrickung. Zerrissenheit. Und doch sagt er: er will versuchen, aus Trümmern eine neue Welt zu flicken. Etwa: "Mit dem arabisch-israelischen Supermarktbesitzer, der vor die Sammelstelle für die Evakuierten wortlos Lebensmittel türmte."[3]
Für mich sind diese Menschen wie Leuchtsterne, sie leuchten ganz hell am finsteren Himmel. Sie hören das stille Geschrei. Und finden einen Ausweg, menschlich zu handeln. Im Judentum haben sie einen Namen: die Gerechten, auf deren Schultern diese Welt ruht.
Paradoxien der Freiheit im Stadtgericht von Moskau
Ende Juli habe ich von anderen Gerechten, auf deren Schultern die Welt ruht, in der Zeitung gelesen. Und ihre dort abgedruckten Worte haben mich tief berührt. Sie sind Protestleute gegen Putin und seinen Krieg. Als Angeklagte eingesperrt in einem "Aquarium". Nicht mit Wasser gefüllt und bunten Fischen. Es ist ein großer Kasten aus stoßfestem Glas. Hier sind sie eingesperrt, während man ihnen im Stadtgericht in Moskau den Prozess macht. Und bevor die Richter ihr Urteil verkünden, darf die oder der Angeklagte selbst noch einmal zu Wort kommen. Zwischen 17 und 81 Jahre sind sie alt. Dass das russische Volk nicht geschlossen hinter jedem Despoten steht, der dieses Land regiert, beweisen sie. Ich habe das oft gehört in den letzten Monaten: so sind sie eben, die Russen. Der Zar oder eben Putin, sie beugen sich jedem. Nein. Es wandern viele aus. Und es gibt sehr viele, die sich zu Wort melden gegen den Krieg und die verbrecherische Staatsideologie. Sie gehen auf die Straße, verteilen Flugblätter, fordern den Rückzug der russischen Truppen, wie der 62jährige Alexej Gorinow in einer Stadtratssitzung. Einen Malwettbewerb für Kinder wollte er ausrufen, solange in der Ukraine "jeden Tag Kinder sterben". Sein "Letztes Wort" im Aquarium lese ich und komme gar nicht mit. Verwirrend, kompliziert aber klug ist alles, was er sagt. Er spricht von Sonnenstrahlen, Lichtwellen, Galaxien, von der Lichtgeschwindigkeit. In dieser Situation! Plötzlich ist die kosmische Dimension des Lebens da im Gerichtssaal.
"Sieben Jahre Haft – ist das viel oder wenig? Ein Sonnenstrahl braucht acht Minuten bis zur Erde. Die Lichtwellen eines in den Himmel gerichteten Scheinwerferstrahls erreichen den der Sonne nächstgelegenen Stern in gut vier Jahren – fast zwei Drittel meiner Haftzeit. Bis zu unserem nächstgelegenen Sternensystem, der Andromeda-Galaxie, würde das Licht etwa zwei Millionen Jahre brauchen. Unvorstellbar viel? Denken Sie nur daran, wie viele Menschen vom Krieg in der Ukraine betroffen sind, der jeden von ihnen um Jahre eines friedlichen, normalen Lebens – und einige um das Leben selbst – gebracht hat! Und multiplizieren Sie das ... So groß ist die Verantwortung, die auf uns allen liegt. Auch auf mir."[4]
Maria Ponomarenko, Journalistin, 44 Jahre alt, hatte einen Beitrag über den Luftangriff auf das Theater von Mariupol verbreitet.
Glauben Sie, ich werde weinen und in Hysterie verfallen, weil Sie mich zu achteinhalb Jahren Gefängnis verurteilen? Nein. Das ist nur ein neuer Lebensabschnitt. Und glauben Sie mir: Hinter Gittern gibt es viel mehr anständige Menschen als in der Regierungspartei Einiges Russland.[5]
Wie klug, wie besonnen diese Menschen sprechen. Das geht mir immer noch unter die Haut. Poesie ist auf ihrer Seite, Schönheit. Und ein großes Paradox: In einem Land, in dem eingeschüchtert, gelogen und gehetzt wird, ist der gläserne Käfig, aus dem sie sprechen, der letzte Ort, an dem ein Menschen in der Öffentlichkeit frei reden darf. Ausgerechnet dort, wo sich die Staatsgewalt in all ihrer Brutalität zeigt, hat die Wahrheit eine Chance und ein zu Hause. Und die Freiheit. Der bekannteste unter den Gefangenen, der 41-jährige Wladimir Kara-Mursa, der schon zweimal vergiftet wurde und immer knapp überlebt hat, sagt, bekommt ein Vierteljahrhundert Straflager. Er sagt kurz vorher, er tue all das aus Liebe.
Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem sich die Finsternis über unserem Lande auflöst. … Dann wird unsere Gesellschaft die Augen öffnen und erschrecken, welch fürchterliche Verbrechen in ihrem Namen begangen wurden. Mit dieser Einsicht wird ein langer, schwerer, doch für uns alle so wichtiger Weg der Genesung und des Wiederaufbaus Russlands beginnen – die Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder. Sogar heute, sogar in der Dunkelheit, die uns umgibt, sogar in diesem Käfig liebe ich mein Land und glaube an seine Menschen.[6]
Auch in einem gläsernen Käfig eines Gerichtssaals kann man frei sein und lieben.
Erfahrungen mit der Sündenmacht
Was mag in diesen Menschen vor sich gegangen sein, bis sie zu ihrer Entscheidung gefunden haben, nicht zu schweigen, ihre Jugend und ihr Leben zu riskieren? Ich versuche, mir das vorzustellen. Du wachst auf in einem Land, das plötzlich Krieg führt und man darf es nicht so nennen. Politische Morde sind schon seit langem an der Tagesordnung. Die Gefängnisse vollgestopft, Straflager gehören plötzlich wieder zum Alltag. Wie lebt man in einem Land, in dem man sich ständig bedroht fühlt? Wie lebt man in Israel, wo seit Jahrzehnten Raketeneinschläge zum Alltag gehören? Wie lebt man im Gazastreifen, isoliert vom Rest der Welt, dem Geschrei der Radikalen ausgeliefert? Wie lebt man im Westjordanland hinter Mauern, unter Bedrohung der Besatzungsmacht? Du willst ein aufrichtiger Mensch sein, vielleicht weil du christlich, jüdisch, muslimisch erzogen bist und vom Gedanken der Barmherzigkeit, der Nächstenliebe geprägt. Oder humanistische Bildung hat dich geformt. In einer Diktatur aber kannst du nicht auf die Straße gehen und ein aufrichtiger Mensch sein. Sie macht aus allen, die in ihr leben, Lügner, Diebe, doppelzüngige Menschen. Auch du wirst, wer du nicht sein willst. Du verbiegst dich. Du sollst Komplize von Verbrechen sein. Und schweigen. Dich ducken. Aber in dir rumort es, es zerreißt dich. Du kannst dich nicht mehr im Spiegel anschauen.
Es gibt Texte im Neuen Testament, die solche Erfahrungen erzählen. Sie sind uralt, über 2.00 Jahre alt. Die Briefe des Apostels Paulus. Menschen werden in seiner Welt, im römischen Reich, schon als Kinder versklavt. Steuern und Abgaben lassen viele verarmen. Auf der Suche nach Arbeit verlassen sie ihre Heimat und landen dann oft in den Elendsvierteln der großen Städte. Krankheiten, Ausbeutung, Gewalt sind an der Tagesordnung. Und bittere Armut. Die menschenfeindliche Übermacht des römischen Reiches hat alle im Griff. Paulus hat einen Namen für diese Übermacht: Herrin Sünde.
Etwas von dieser Übermacht erlebt er am eigenen Leib. Und es zerreißt ihn. Er leidet darunter. Und dann schreibt er Briefe. An die Gemeinden in Thessaloniki, in Korinth und auch an die in Rom, in der Hauptstadt des mächtigen römischen Reiches. Hier findet er eine Sprache für diese Zerrissenheit. Klar und wahr, bis heute. Sünde ist die Macht, die den Menschen hindert, das zu tun, was er liebt.
Wir wissen doch, dass die Tora von der Geistkraft bestimmt ist. Ich aber bin durch mein begrenztes menschliches Dasein angreifbar, verkauft unter die Gewalt der Sündenmacht. Was ich bewirke, durchschaue ich nicht. Ich mache nämlich nicht das, was ich will, sondern was ich hasse, das tue ich...Das Gute, das ich will, verwirkliche ich nicht. Aber das Schlechte, das ich nicht will, das vollbringe ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bestätige ich damit, dass die Tora heilbringend ist. … Denn mit allem, was mein Menschsein im Innern ausmacht, habe ich Lust an der Tora Gottes. Ich sehe aber ein anderes Gesetz, das mit den Gliedern meines Körpers gegen das Gesetz meiner Sinne zu Felde zieht. Mit Hilfe des Gesetzes der Sündenmacht, das in allen Teilen meines Körpers gegenwärtig ist, versklavt es mich in die Kriegsgefangenschaft. Ich geschundener Mensch! Wer rettet mich aus diesem von den Mächten des Todes beherrschten Dasein? Dank sei Gott durch Jesus, den Messias, unseren Befreier. (Brief an die Gemeinde in Rom, Kapitel 7, 14-25 i.A.)
Schlupfloch in die Freiheit
Man kann diese Zeilen des Paulus unterschiedlich deuten und verstehen. Man kann sie lesen als eine grundsätzliche Aussage über uns Menschen. Das Gute kann ich überhaupt nicht vollbringen, ich werde immer scheitern, der Mensch ist schwach, Gefangener seiner Ängste und seines Egoismus. Man kann sie auch anders lesen. Paulus sagt am Ende: "Wer rettet mich aus diesem von den Mächten des Todes beherrschten Dasein? Dank sei Gott durch Jesus, den Messias, unseren Befreier". Mir kommt das wie ein Schlupfloch vor, durch das man der Übermacht entkommt. Klein und doch reicht es aus. "Dank sei Gott durch Jesus, den °Messias, unseren °Befreier". Dieser Satz ist wie mystische Herzöffner. Wie das stille Geschrei als Name für Gott. Jesus ist den Tod eines jüdischen Märtyrers im Römischen Reich gestorben ist, gefoltert, entwürdigt, gekreuzigt. Und - von den Toten auferweckt. Der entwürdigte Jesus ist der mit Würde gekrönte Christus. Und hier ist das Schlupfloch in die Freiheit: Vertrauen auf Christus löst heraus aus den Fängen des Todes.
Dieses Schlupfloch in die Freiheit, finden viele Menschen in gläsernen Gefängnissen auch in Israel und Palästina. Lichtwellen, Sonne, Sterne, Menschlichkeit, Verantwortung, Verbrechen und Einsicht, die Gemeinschaft zivilisierter Länder. Welchem Gesetz folgen all diese Menschen? An welchen Satzungen haben sie Lust mit allem, was ihr Menschsein im Innern ausmacht? Ich bin überzeugt, es ist das universal gültige Recht auf Würde und Freiheit, auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit, das zivilisierte Staaten ausmacht. Für Paulus und die Juden verwirklicht es sich in der Tora, die Christus für uns Christen erschlossen hat. Das Gesetz der Freiheit, das uns lehrt, das Böse mit Gutem zu überwinden. Und im auferstandenen Christus zeigt sich uns Christen das Schlupfloch in die Freiheit. Im Bild des mit Würde gekrönten Menschen. Gekreuzigt und auferstanden – das größte Paradox unseres Glaubens.
Zerrissenheit aushalten
Man muss nicht in einer Diktatur leben, um dieses Lebensgefühl zu kennen- das Gute, das ich will und dem ich von ganzem Herzen zustimme, kann ich nicht tun. Auch in einer Demokratie, auch in unserem Land leiden viele unter dieser Schwere. Geflüchtete Menschen, die in dem Land noch nicht arbeiten dürfen, in dem sie frei und in Würde leben wollen. Ohne dass sie es wollen oder beeinflussen können werden sie zu Sozialfällen. Menschen, die im Krankenhaus von zu viel Arbeit überfordert sind. Sie haben eine ganz andere Vorstellung davon, wie man einem kranken Menschen beisteht oder einen altersschwachen pflegt. Ihre getaktete Arbeitszeit erlaubt es ihnen nicht.
Und doch ist all das im Rahmen einer freien Gesellschaft möglich, auszusprechen, zu diskutieren, zu verändern.
Zerrissen zwischen dem, was ich liebe und tun will und dem, was nicht möglich ist. Und das aushalten. Es nicht im anderen mit Gewalt und Hass bekämpfen. Das ist der friedliche Weg. Ein Gottesnamen wie "stilles Geschrei" hilft mir, das auszuhalten. Dass wir es alle hören. Dass wir Gott in uns schreien hören, das ist auch ein Schlupfloch in die Freiheit. Niemand und nichts kann mir Gott aus dem Herzen graben.
"Mein Kind, sei geduldig und lass dich, dieweil man dir Gott nicht aus dem Grunde deines Herzens gräbt."
Stilles Geschrei. Rufe weiter in mir!
Die Evangelische Morgenfeier
"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."
Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.
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