Die Türen des Aufzugs öffnen sich. Eine Frau im weißen Kleid und mit Blumenstrauß in den Händen steigt mit Ehemann und Trauzeugen aus. Die nächsten steigen ein und fahren in den dritten Stock des zentralen Münchner Kreisverwaltungsreferats (KVR) an der Ruppertstraße. Doch sie sagen heute nicht "ja".
Im Gegenteil, sie machen Schluss - und zwar mit der Kirche.
Um die Ecke, im Wartebereich 37 klebt ein Zettel an der Wand: Wartezone Kirchenaustritte. Die Tür zum Büro der Standesbeamtin steht offen. Sie haut einen Stempel aufs Papier. "Nächster bitte", ruft sie mit freundlicher Stimme.
Kirchenaustritte in München
Es sind viele junge Menschen hier. Ein Mann mit rötlichen Haaren sitzt da, zwischen den Beinen steht sein Rucksack auf dem blauen PVC-Boden. Er hat nicht viel Zeit, muss gleich weiter zur Arbeit. Den Austritt hätte er auch schon vor zehn Jahren machen können, es war wohl "Faulheit, es nicht zu tun", sagt der 32-Jährige.
Wer austreten will, muss nur online einen Termin buchen und einen Lichtbildausweis mitbringen. Auf der Website des KVR ist bis Ende Februar alles ausgebucht. Bis zu 150 Personen treten hier täglich aus der katholischen oder evangelischen Kirche aus. Aber man bekommt auch spontan einen Termin, erzählt ein junger Mann, der seine Sonnenbrille an einer bunten Perlenkette um den Hals trägt. Er hat seinen Termin über Twitter ergattert. Wer will, bekommt über den Kurznachrichtendienst eine automatische Nachricht, sobald ein Zeitfenster für Kirchenaustritt frei wird.
Simpler Verwaltungsakt
Dass der Mann in der roten Bomberjacke heute austritt, hat mehrere Gründe. Zum einen findet er die Entwicklung in der katholischen Kirche nicht tragbar, zum anderen sind ihm die über 1000 Euro Kirchensteuern im Jahr zu viel. Er möchte sein Geld zielgerichteter einsetzen und selbst entscheiden, an wen er spendet. Wer die Steuer nicht mehr zahlen wolle, dem bleibe nur der Austritt. Das findet er schade. Eine Staffelung auf freiwilliger Basis gebe es ja nicht.
Für die Bearbeitung der Austritte wechseln sich die Dienstkräfte des Standesamts untereinander ab. Kirchenaustritte sind nur ein Teil ihrer Aufgaben, neben Trauungen und dem Beurkunden von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen. Die Taufe, das übliche Eintrittstor in die christlichen Kirchen, wird meist mit einem großen Fest gefeiert. Der Austritt hingegen ist ein minimalistischer Verwaltungsakt, bei dem Kirche nicht mal mehr vorkommt. "Völlig unromantisch", sagt die Beamtin, die heute Dienst hat. Das spürt auch der junge Mann in der Bomberjacke, als er die Amtsstube verlässt:
"Der Austritt ist recht würdelos. Es ist schon traurig, nicht mehr zugehörig zu sein."
Aus Sicht des Staates handle es sich um einen "uneingeschränkten Austritt", der durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit abgedeckt sei, erklärt Sabine Hübl, ebenfalls Standebeamtin am Münchner KVR. Keiner muss sich für den Austritt rechtfertigen. Deshalb wird auch nicht nachgefragt. Bei so viel Andrang wie im Münchner Standesamt bleibe auch gar keine Zeit, "solche für die Behörde unrelevanten Gespräche zu führen, selbst wenn die Leute uns gerne erzählen möchten, warum sie aus der Kirche austreten", berichtet Hübl. Ihre Kollegin ist hin- und hergerissen: Persönlich bedauert sie die Austritte, weil sie eine Gesellschaft ohne Kirche nicht schön findet. Andererseits leuchten ihr viele Argumente ihrer Klienten ein.
Gründe für den Kirchenaustritt
Derweil kommt ein Paar mit Motorradhelmen unter dem Arm in den Wartebereich. Die Frau trägt einen schicken Daunenmantel und nimmt auf einer der Doppelsitzbänke Platz.
"Ich sehe es nicht ein, für die Erhaltung von Mauern zu zahlen",
sagt die blonde 30-Jährige, während ihr Mann am Fenster steht und hinaus auf die Stadt blickt. Sie fühle sich von der katholischen Kirche wertemäßig nicht angesprochen. Dass Frauen keine Rolle spielten, sei unbegreiflich. Ähnlich geht es einer 29-Jährigen, die als Kind Ministrantin war: "Ich sehe mich nicht in meinen Werten repräsentiert." Als sie nach München zog, sei ihr einfach per Post eine Kirche zugeteilt worden, in die sie gehöre. "Ich weiß nicht mal, wo die ist", sagt sie kopfschüttelnd.
Berufseinsteiger ansprechen
Es sind hauptsächlich Leute um die 30, die austreten. Menschen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und merken, wie viel Kirchensteuer sie zahlen müssen. Deshalb gehe es vor allem darum, für die 24- bis 33-Jährigen eine Mitgliederbindung zu schaffen, sagt der Münchner Stadtdekan Bernhard Liess dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Die Bindung muss stärker sein als der erste Gehaltszettel." Auch der Generalvikar der Erzdiözese München und Freising, Christoph Klingan, spricht auf der Website des Erzbistums von der Notwendigkeit, dass Kirche neue Relevanz gewinnen müsse.
Aus dem Büro dringen Druckergeräusche nach draußen. "Ist jemand vom Zahlen zurück?", ruft die Dame aus dem Büro und legt einen Stapel Papiere in die Ablage. Stille. Noch ist niemand mit einem Kassenzettel zurück. Ganz am Ende des Gangs steht nämlich ein blauer Automat - denn Austritt kostet.
Mit ein paar Klicks auf dem Bildschirm landet der "Kirchenaustritt" (25 Euro Gebühr) oder der "mit Bescheinigung" (plus 10 Euro extra für die beglaubigte Abschrift) im Warenkorb. Ist die Gebühr bezahlt, spuckt die Maschine zwei Belege aus. Zurück im Büro heftet die Beamtin dann einen an die Erklärung, den anderen bekommt der Ausgetretene. Unterschrift, Siegel drauf, ab zu den Akten.
Evangelisch oder katholisch?
"Heute geht’s den Evangelen an den Kragen", bilanziert die Standesbeamtin nach Ende des Parteienverkehrs. Obwohl das Amt die Konfession bei den Austritten nicht erfasst, sehen die Mitarbeitenden am Mitteilungsstapel für die Kirchenverwaltungen, wen es trifft. Der "katholische" Stapel sei dabei immer höher. "Aber heute war der Abstand zu den Protestanten geringer", erklärt ihre Kollegin Sabine Hübl.
Bankenkrise und Kirchenskandale hätten zu einem kontinuierlichen Anstieg der Austrittszahlen geführt, ergänzt sie. Trotzdem sei der Ansturm aktuell "etwas erschreckend" und nicht mehr mit Rückstau wegen Corona-Lockdown zu erklären. "Wir könnten dieses Jahr durchaus die 25.000 erreichen", prognostiziert Hübl. Vor Corona, 2019, lag die Zahl bei 15.854 Austritten im Jahr.