Immanuel Kant (1724-1804) war der "bedeutendste Philosoph der Neuzeit", sagt Marcus Willaschek. Der Experte, der gerade das Buch "Kant: Die Revolution des Denkens" vorgelegt hat, betont die Aktualität des bedeutenden deutschen Aufklärers:
Ohne den Autor der epochalen "Kritik der reinen Vernunft" gäbe es den berühmten Artikel 1 zur Würde des Menschen in unserem Grundgesetz nicht.
Kant könne auch zum Verhalten in Krisen wie dem Klimawandel ethische Orientierung geben, betont der Frankfurter Philosophie-Professor und Mitherausgeber der wissenschaftlichen Standardausgabe der Schriften Kants mit Blick auf das bevorstehende Kant-Jahr 2024. Vor 300 Jahren, am 22. April 1724, kam der Denker der Aufklärung in Königsberg zur Welt.
Warum ist Kant 300 Jahre nach seiner Geburt noch wichtig?
Marcus Willaschek: Immanuel Kant ist der bedeutendste Philosoph der Neuzeit. Drei Aspekte sind heute noch von großer Bedeutung.
Erstens: Kant als Philosoph der Aufklärung, der dafür eintritt, dass wir uns von vorgegebenen Meinungen unabhängig machen, der für Freiheit, für eine kritische Öffentlichkeit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintritt.
Zweitens: Kant als Ethiker. Sein berühmter kategorischer Imperativ ist noch heute eine moralische Richtschnur für sehr viele Menschen.
Und drittens: Kant als Erkenntnistheoretiker. Sein verblüffender Gedanke war, dass die Welt nicht einfach da ist, wie wir sie erkennen, sondern dass wir sie im aktiven Erkennen mitstrukturieren: Raum und Zeit sind Formen menschlicher Erkenntnis. Zu Kants Zeit war das absolut revolutionär und erschütterte die Menschen.
Kant ist heute überall präsent in der Philosophie. Das liegt vor allem an der ungebrochenen politischen Relevanz seines Denkens, man denke nur an die Schrift "Zum ewigen Frieden" mit dem Konzept einer Weltfriedensordnung.
Dieses Projekt hat auch in den heutigen Zeiten nichts von seiner Dringlichkeit verloren.
Was können wir in unserer Zeit mit multiplen Krisen und wachsender Demokratiegefährdung von Kant lernen?
Kant hält natürlich nicht die Lösung für alle aktuellen politischen Probleme bereit. Was wir aber von ihm lernen können, ist die unglaubliche Bedeutung von Bildung für die Demokratie. Nur aufgeklärte, gebildete Bürger - Kant sagt: mündige Bürger - sind in der Lage, sich im heutigen Mediendschungel zurechtzufinden.
Das kritische Denken, das Kant in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt, müsste noch viel stärker in den Schulen vermittelt werden: sich eine eigene Meinung bilden.
Klares Nachdenken zeigt, dass die Werte der Aufklärung den Kern unseres Selbstverständnisses als freie und vernünftige Wesen ausmachen. Nur oberflächliches Denken kann dazu führen zu meinen, es wäre besser, in einer autokratischen Diktatur zu leben.
Ein freier und vernünftiger Mensch zu sein - das geht nach Kant nur in einer Demokratie mit einer kritischen Öffentlichkeit.
Würde Kant heute an seinem unerschütterlichen Fortschrittsglauben festhalten?
Kant hat nicht an die Unausweichlichkeit des Fortschritts geglaubt, sondern nur daran, dass Fortschritt möglich ist - weil es an uns liegt, weil wir es in der Hand haben. Kant sagt, dass es auf jeden von uns ankommt und dass wir uns nicht zurücklehnen dürfen. Das ist für ihn ein moralisches Gebot.
Wir können uns nicht damit herausreden, dass es unangenehm oder anstrengend ist.
Der kategorische Imperativ ...
Ja, der Mensch soll nach Regeln handeln, die für alle gelten können. "Ich halte mich raus. Sollen doch die anderen mal machen" - da sieht man sofort: Das kann keine allgemeine Regel sein.
Folgt daraus eine moralisch-ethische Pflicht zum Engagement gegen den Klimawandel? Viele sagen: Bei dem globalen Problem kommt es auf mich und mein Verhalten doch gar nicht an.
Es geht laut Kant nicht darum, ob mein Verzicht auf einen Urlaubsflug das Klima rettet, sondern ob es vernünftig wäre, wenn alle dies täten. Dann sollte auch ich es tun. Insofern kann seine Philosophie uns in einer Welt, in der wir Verantwortung für künftige Generationen übernehmen müssen, Orientierung geben. Der kategorische Imperativ fordert auch, dass wir die Würde der anderen Menschen schützen und sie niemals nur als Mittel, sondern auch als Zweck behandeln sollen.
Doch wir lassen es in vielfacher Weise zu, dass Menschen zu bloßen Mitteln gemacht werden.
Offensichtliche Beispiele sind Formen ausbeuterischer Wirtschaft, von denen wir profitieren: billige T-Shirts und Elektrogeräte etwa, für die in anderen Teilen der Welt Menschen die Rohstoffe unter erbärmlichsten Bedingungen gewinnen und verarbeiten.
Es ist für den Einzelnen nicht leicht, sich dem zu entziehen. Aber der erste Schritt ist anzuerkennen: Das ist ungerecht. Und das folgt ebenfalls aus dem kategorischen Imperativ.
Was würde der Welt fehlen, wenn Kant nicht gelebt hätte?
Es würde der Begriff der Menschenwürde in unserem Grundgesetz fehlen, das Konzept des mündigen Bürgers, das für uns in der Bundesrepublik maßgebliches Leitbild ist. Vielleicht würden auch die Vereinten Nationen nicht in dieser Form existieren.
Und das Erstaunliche dabei ist: Kant hat nichts anderes getan, als Bücher und Artikel zu schreiben. Er war kein Politiker, er hat nichts erfunden, hat keine lebensrettende Medizin entwickelt.
Trotzdem prägt seine auf das reine Denken bezogene Existenz unsere Welt bis heute.
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