Herr Puschke, was verbindet Sie als Berliner persönlich mit Nürnberg, mit dem evangelischen Bayern, mit Franken?
Moritz Puschke: Ich weiß schon länger, was es für herausragende, tolle Kirchenräume in Nürnberg gibt. Ich kannte Franken außerdem ein bisschen, weil ich vor ein paar Jahren mit meiner Familie hier eine Fahrradtour gemacht und dabei Weinfranken und Bierfranken entdeckt habe (lacht). Die Stadt habe ich aber eigentlich erst durch den Job so richtig kennengelernt. Ich habe viel Zeit gehabt, mich in Nürnberg kundig zu machen – und die habe ich auch genutzt: um mit Kirchenmusikern, Pfarrerinnen und Pfarrern, mit dem Regionalbischof Ark-Nitsche zu sprechen.
Ich habe versucht rauszukriegen: Wie tickt Kirchenmusik in Nürnberg? Welche Traditionen gibt es? Was läuft gut? Was nicht so gut? Das ist wichtig, wenn man so ein Festival macht. Ich war überrascht, was für eine tolle, kreative, bunte und vielfältige Stadt Nürnberg ist.
Man hat natürlich einerseits immer dieses Reichsparteitag-Feld und die schreckliche Geschichte im Fokus, aber dann habe ich die "Straße der Menschenrechte" gesehen und entdeckt, dass sich Nürnberg heute als Stadt der Menschenrechte empfindet. Auch die evangelische Kirche nehme ich als sehr progressiv, sehr geöffnet, als sehr neugierig wahr. Alles in allem: ein toller Humus, um so ein Musikfest programmatisch gestalten zu dürfen.
Sie sind Kulturmanager, bringen biografisch aber einiges mit an kirchlicher Erfahrung. Man könnte Sie als "in der Wolle gefärbten Protestanten" bezeichnen.
Puschke: Stimmt: Ich bin ein Pfarrerskind. Ich bin in Hessen-Nassau aufgewachsen in den 1970ern, frühen 1980er-Jahren. Später ging mein Vater dann nach Bremen in die lustige kleine Bremische Evangelische Kirche. Das ist die ohne Bischof, die nur einen Schriftführer hat. Ich habe dann fast zehn Jahre am Bremer Dom gearbeitet: Dort hatte ich meine erste Kultur- und Dramaturgenstelle. Ich habe viel gelernt, viel erfahren und die Kirche überwiegend positiv erlebt.
Das Motto der diesjährigen ION lautet "Spuren". Was wollen Sie damit transportieren?
Puschke: Das Festival-Motto "Spuren" habe ich ganz bewusst gewählt, weil ich die erwähnte Spurensuche in Nürnberg unternommen habe. Ich habe einerseits geschaut: Was ist die reichhaltige Kultur- und Musikgeschichte Nürnbergs mit Dürer, Pachelbel und so weiter? Und: Wo kommt diese Internationale Orgelwoche eigentlich her? Aus dem Geist der Völkerverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg, aus den Ruinen der Kirchen! Aber als dann die erste Orgel wieder spielfähig war, hat man sich gleich international aufgestellt und Organisten eingeladen aus anderen europäischen Ländern. Das war unglaublich visionär und fortschrittlich.
All das spiegelt sich im Programm: "Auf Dürers Spuren" ist der Abend mit Bernhard Buttmann, Organist und Kantor an St. Sebald, der eine große Uraufführung eines Werks von Philipp Maintz spielt. Das wird auch begleitet vom Bayerischen Rundfunk, und das finde ich ganz großartig. Die Kirchenmusiker der Innenstadtkirchen sind alle einbezogen in den großen Eröffnungsabend, die lange ION-Nacht, mit der das Festival am Freitagabend sozusagen den richtigen Auftakt bekommt. Man merkt das in den Vorgesprächen: Denen ist es nicht egal, so nach dem Motto "Da ist noch irgendein Festival", sondern sie spüren das auch als ihr Festival. Ich habe den Eindruck:
Was hier qualitativ und programmatisch an großer Kirchenmusik geboten wird, hat man in dieser Dichte und in dieser Qualität beileibe nicht in jeder großen deutschen Stadt.
Eine Neuerung 2019 lässt sich an der Internetadresse der ION ablesen: Früher ion-musica-sacra.de, ist es nun musikfest-ion.de. Was verbirgt sich dahinter? Soll die geistliche Tradition künftig eine kleinere Rolle spielen?
Puschke: Nein, ganz im Gegenteil. Man muss in dieser digitalisierten Welt der Hashtags natürlich sehen: Was sind die Schlagworte? Aber uns ist ganz wichtig, dass zu diesem Musikfest ION ein ebenso kräftiger Untertitel gehört, der auch überall, in jedem Druckerzeugnis, auf jedem Plakat kommuniziert wird. Und der heißt: "Das internationale Festival für geistliche Musik in Nürnberg". Genau darum geht es mir. Ich will ausleuchten: Was bedeutet heute geistliche Musik? Ist das komponierte Musik? Ist das vielleicht aber auch eine persönliche Erfahrung, die jeder ganz individuell macht, wenn er ein Konzert im Kirchenraum hört? Wie werde ich anders angeregt, anders berührt, anders getröstet, anders zum Nachdenken gebracht?
Was heißt das konkret?
Puschke: Es passiert mit Menschen etwas ganz anderes, wenn sie im Kirchenraum ein Konzert erleben, als wenn sie es in einer hell erleuchteten Philharmonie oder im Konzerthaus hören. Ich glaube, das können wir noch viel mehr herausstellen. Seit 1951 ist die ION immer auch ein Festival gewesen für geistliche Musik, für Chormusik, für Uraufführungen, für Neues und für Experimente – auch für die Orgeln. Genau das ist für mich die Grundlage: Ich will die geistliche Musik feiern mit den Menschen.
Nur können immer weniger Menschen mit Begriffen wie "geistliche Musik" etwas anfangen …
Puschke: Ich finde es eigentlich ganz schön, das Wort "geistlich": Da stecken Geist und Begeisterung drin, und diesen Geist will ich heben und entdecken. Wenn man sich die Festival-Landschaft in Deutschland so ansieht:
Es gibt zig Festivals für klassische Musik; aber ein Festival, das sich auf geistliche Musik konzentriert und das Thema immer wieder neu beleuchtet, das gibt es relativ selten. Da sehe ich für uns auch eine überregionale Chance.
Am 9. Juli geht es bei einem Symposium im eckstein um die Frage: "Alles Pop?! Oder: Was bleibt von der Musica Sacra?" Was ist Ihre persönliche Antwort? "Rockt" Bach auch heute noch?
Puschke: Ich finde: Bach rockt eindeutig! Ich liebe wirklich auch Popmusik. Ich bin ein großer Beatles- und Pink-Floyd-Fan. Ich habe noch eine Band in Bremen, und ich kenne mich echt gut aus. Sie sprechen mit jemandem, in dessen Brust zwei Herzen schlagen. Aber ich mag diese ganzen deutschen Teilungen nicht. Nicht nur die politischen, auch nicht die musikalischen Schubladen für "U" und "E" oder Pop und Klassik. Bach oder auch Mozart waren in ihrer Zeit revolutionär. Man würde heute sagen, dass sie über den Groove, über den Beat komponiert haben. Bach komponiert über den Generalbass, und was ist der Generalbass anderes als im Pop Bass und Schlagzeug? Oder wenn man sich Blitz und Donner in der Matthäuspassion anhört oder "Lasset uns den nicht zerteilen" in der Johannespassion: Das groovt, das ist tänzerisch ohne Ende. Auch die Bach-Motetten! Oder Monteverdi! Das war zu der Zeit die Popmusik, aber von höchster Qualität. Die spannende Frage für mich ist: Wie wird geistliche Musik heute wieder alltagsrelevant? Mir ist in meinen Konzerten wichtig, dass die Qualitätsbotschaft eindeutig ist.
Wie schlägt sich das im Programm nieder?
Puschke: Bei der Johannes-Passion zum Beispiel, die wir dieses Jahr mit ganz jungen Musikern machen, komprimieren wir auf eine Dreier-Besetzung. Das Werk ist ja sonst für Chor, Orchester und Solisten groß besetzt. Wir reduzieren das auf einen Sänger, einen Percussionisten, eine Tasten-Virtuosin und das Publikum, das die Choräle singen wird. Das ist höchst zeitgemäß, weil das drei junge Leute sind, die frisch von den Hochschulen kommen. Mir macht das Mut, weil sie nicht die Einzigen sind, die sagen: Für uns ist Bach heutzutage total relevant, und er ist modern, und er ist zeitlos, aber wir müssen uns immer wieder neu an ihn heranpirschen, ihn neu hinterfragen, ihn vielleicht auch einmal bearbeiten, in einen anderen Kontext bringen. Aber die Bach'sche Musik ist so gut, so robust, dass sie das auch gut verträgt.
Ist moderne "Lobpreismusik" eigentlich ebenfalls "geistliche Musik"? Inzwischen gibt es ja auch Ausbildungen zum Popmusik-Kantor.
Puschke: Das wollen wir auf dem Symposium ein Stück weit auch diskutieren: Was sind die Qualitätsbotschaften der Kirchenmusik heutzutage, aber wo sind vielleicht auch Kannibalisierungstendenzen?
Wir wissen, dass es in einzelnen Kirchengemeinden durchaus Diskussionen und auch Auseinandersetzungen gibt über die Frage: Was ist eigentlich die passende zeitgemäße Musik im Gottesdienst? Obliegt die Entscheidung darüber dem Kirchenmusiker? Dem Pfarrer? Dem Kirchenvorstand? Wer setzt sich da durch, und wo will man eigentlich hin?
Ich glaube, wir dürfen nicht diese beiden Szenen gegeneinander ausspielen, sondern wir müssen herausfinden, was wir davon haben, wenn es in unserer Gesellschaft ein Stück weit diverser wird.
Die "Resilienz" von Bach und die immer neue Kraft seiner Musik spiegelt sich auch in dem Projekt "Singbach" mit 250 Nürnberger Grundschulkindern, das Sie vermutlich ebenfalls ganz bewusst an den Anfang des Festivals gesetzt haben.
Puschke: Ja, das war mir total wichtig. Friedhilde Trüün kenne ich seit längerem. Sie ist ursprünglich Kirchenmusikerin und hat sich in den letzten Jahren zu einer der führenden Vokal-Musikpädagoginnen entwickelt. Ich habe dieses Experiment mit ihr in Dortmund schon einmal gemacht: eine Woche lang die Kinder aus dem Unterricht herauszunehmen, Drittklässlerinnen und Drittklässler, nicht vorgebildet, ganze Klassen, eine Woche lang.
Sie beschäftigen sich mit nichts anderem als mit Johann Sebastian Bach. Aber eben nicht zuhörend und "Gucken wir mal den Stars zu, wie die das machen". Von der ersten Sekunde an geht es um: selber machen, singen, produzieren. Es gibt zwei Effekte bei diesem Projekt. Das eine: Die Kinder lernen Bach kennen. Das steht übrigens nicht im Lehrplan der dritten Klasse – auch in Bayern nicht. Das wird Grundschulkindern nämlich noch gar nicht so richtig zugetraut.
Die Kinder beschäftigen sich aber auch mit der Frage: Was passiert eigentlich, wenn ich Montagmorgen mit einer Probe beginne, fünf Tage Zeit habe und am Freitagnachmittag das Eröffnungskonzert der ION singe? Was passiert mit mir auf der Bühne? Wie trete ich auf, wie trete ich ab? Was bedeutet Bühnenpräsenz, was bedeutet Wahrnehmung, was bedeutet Hören?
Kinder, die das Projekt in ganzen Klassen mitmachen, erhalten ein direktes Erfolgserlebnis. Dabei ist es völlig egal, ob jemand gut in der Schule ist oder schlecht, ob er Deutscher ist oder ob er aus einer anderen Kultur kommt, an was er glaubt. All das spielt keine Rolle. Es geht tatsächlich eine Woche lang nur um das Musikerlebnis.
Sehen Sie sich also auch als Musikpädagoge?
Puschke: Unser Job als Festivalmacher, als Musiker, als Dramaturgen, als Institutionen ist doch letztlich: gute Leute zu finden. Gute Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker, gute Chorleiter, gute Organisten, die so viel Esprit haben, so viel Leidenschaft, dass sie das den jungen Leuten auch wirklich sehr gut anbieten und sie mitnehmen können.
An diesem dicken Brett bohren die Windsbacher schon länger. Wie ist das Verhältnis zu Frankens evangelischem Vorzeige-Knabenchor?
Puschke: Die Windsbacher machen ja seit Jahrzehnten die Motetten-Reihe in Nürnberg. Klar, das ist wunderbar und immer gut besucht, aber ich habe mich rechtzeitig vor zwei Jahren mit Martin Lehmann, dem Leiter der Windsbacher, getroffen. Wir haben uns gut verstanden und gesagt, wir probieren das aus: neben den Motetten, die regelmäßig stattfinden, ein eigenes, richtig großes Abendkonzert in der ION. Das gab es in den letzten Jahren nicht.
Die Windsbacher wollen sich bei diesem Festival quasi vor Ihrer Haustür eben auch gerne zeigen und vor allen Dingen mit der Königsdisziplin A capella. Wir haben Simone Rubino dazugenommen; das ist ein wunderbarer italienischer Vibraphonist und Percussionist, der gerade so richtig durch die Decke geht, ein ganz toller junger Typ. Die Windsbacher und Rubino haben sich über das ION-Projekt kennengelernt und jetzt gleich eine CD mit diesem Programm gemacht. Ich finde es super, dass eine solche Vernetzung dann diese Nachhaltigkeit erfährt.
Ich versuche, die Leute zusammenzubringen und sage: Wir schrauben alle an einem 360-Grad-Koloss. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und wirklich zusammenarbeiten. Bisher habe ich eine ganz gute Ahnung, dass das in Nürnberg gelingen kann. Ich habe den Eindruck, hier wollen eigentlich alle miteinander, und die wollen alle nach vorne. Das gefällt mir.
Die letzten ION-Leiter, Wilfried Hiller und Robert King, blieben drei Jahre, Folkert Uhde zuletzt fünf Jahre. Zuvor prägte Werner Jacob eine ganze Ära; 17 Jahre lang war er ION-Chef. Wie lange wollen Sie bleiben?
Puschke: Mein Vertrag läuft bis 2022. Ohne aus dem Nähkästchen zu plaudern – da steht drin, dass sich Anfang 2021 der Stiftungsrat und der Vorstand mit mir unterhalten, wie es weitergeht. Gut, ich habe jetzt noch nicht mal meine erste Saison hinter mich gebracht, aber ich glaube, wenn die mich mögen und ich die auch alle weiter mag, dass diese Spuren, die ich da jetzt lege wirklich ein Stück weit zu Wurzeln werden und dass ein bisschen was organisch wächst. Bei den vielen Wechseln, die da in den letzten 15 Jahren stattgefunden haben, würde das dem Festival, glaube ich, ganz gut tun. Vorstellen könnte ich es mir auf jeden Fall. Man gibt sehr viel Energie da hinein, baut viele Netzwerke auf, knüpft sehr viele Kontakte. Da ist es eigentlich ich ganz klug, wenn man das auf einen ein bisschen längeren Zeitraum anlegt.
Wie sieht es mit dem Kartenvorverkauf aus? Sind Sie zufrieden?
Puschke: Wir sind mit vier oder fünf Konzerten schon 14 Tage vor dem Start so gut wie ausverkauft. Die Orgel hat es weniger einfach, aber das ist überall so. Ich bin ein bisschen erstaunt, dass schon so viele Karten verkauft worden sind. Wenn ich in Berlin ein Festival mache,
kriege ich oft eine Woche vor Festivalstart eine gefühlte Herzattacke. Kein Mensch entscheidet sich hier eine Woche vorher, was er nächsten Freitag macht.
Aber jetzt müssen wir noch einen guten Endspurt hinkriegen.
Gerade die abendlichen Orgelkonzerte könnten noch einen Schub gebrauchen. Vor allem auf den Heinrich-Schütz-Abend am Anfang darf man hinweisen. Sie markiert das Ende der Schütz-Gesamtwerkeinspielung von Hans-Christoph Rademann, und das wird auch gefeiert in Nürnberg. Gerade die Psalmen Davids von Schütz sind so etwas wie die DNA, ein Grundmuster der geistlichen Chormusik für mich. Da wird so unglaublich viel darauf aufgebaut. Andere Projekte wie der Elias, aber auch die Windsbacher sind natürlich Selbstläufer.
Im Vorwort zum Programm der diesjährigen ION schreiben Sie: "Allein schon die Kirchen als Herz der ION sind schlichtweg atemberaubend." Was macht Nürnberg "gerade im Sommer zu einer aufregenden Musikfestival-Stadt"?
Puschke: Ich hoffe, dass es nicht am Klimawandel liegt, aber in den letzten beiden Jahren war es diese Mischung aus unfassbar gutem Wetter, gepaart mit den vielen Menschen, die ohnehin in der Stadt sind und internationales Flair verbreiten. Das bunte, trubelige Gefühl, das passt zu so einem Festival; dass man abends auch nach dem Konzert, wenn man um zehn Uhr aus der Kirche kommt, draußen noch einen Wein trinken kann. Dazu die wirklich fußläufige Erreichbarkeit der ganzen Spielorte. Wie an einer Schnur gezogen reiht sich hier ein auratischer, toller Kirchenraum an den anderen. Du kannst innerhalb von zehn Minuten sechs, sieben, acht Konzertkirchen ablaufen und triffst dabei überall immer wieder Leute. Das ist für mich so ein typischer Festival-Charakter. Den werden wir in den nächsten Jahren noch versuchen weiter auszubauen. Mal schauen, wo es noch ein paar spannende Höfe gibt, wo man ein bisschen was machen kann.