Seinen Namen kennen wir nicht, nur A., den ersten Buchstaben seines Vornamens. Er stammt aus Osteuropa, ist etwa 38 Jahre alt, scheint nicht ganz unwichtig in seinem Beruf zu sein und ist verheiratet. Deshalb bestimmt er die Zeit, wann er sie – die Erzählerin, seine Affäre – treffen kann. Ihre Zusammenkünfte liegen in seiner Hand, sind spontan und auch die Dauer abhängig von ihm.
Gefangen im Kopfkino
Sie – die Erzählerin – kann weder vorhersehen, wann er anruft, noch wann er sie sehen möchte. Sie wartet, bangt, hofft. Sie ist gefangen rund um das – wir schreiben 1992 – Festnetztelefon. Nur ein paar Gewohnheiten passen noch in ihr Leben. Der Rest verschwindet hinter ihm. Und sie? - Sie wehrt sich nicht, sie schwärmt. Sie tut mehr als das. Sie ist besessen – und das weiß sie auch. Ganz und gar. Aber friedlich dabei, reflektiert, gefangen in ihrem Kopfkino.
Wofür? Für diese einzigartigen Momente der Gemeinsamkeit, für den Sex, für die Hingabe. Der Rest der Zeit wird im wahrsten Sinne des Wortes "vertrieben." Nur das Schreiben gelingt ihr noch – und lässt uns damit Zeuge werden. Auch Zeuge dessen, dass sie um ihre Besessenheit weiß, dass sie fürchtet "abnorm zu erscheinen." Weil sie "ununterbrochen einen Mann im Kopf" hat.
Von der Erzählerin wissen wir wenig, nur soviel, dass sie Lehrerin ist, Söhne hat – und alles geheim hält, was nicht mit ihm, mit A. zu tun hat. Ihre Kleider, kauft sie, um ihn zu beeindrucken, Florenz besucht sie, um an die Leidenschaft zu denken. Die Leidenschaft mit A. Sie hört Chansons aus den 80er Jahren.
"Die sentimentalsten Lieder, denen ich vorher keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wühlten mich auf. Ohne Umschweife und Zurückhaltung drückten sie die Bedingungslosigkeit und auch das Umfassende einer Leidenschaft aus."
In Sylvie Vartans Chanson "Es ist fatal" heißt es: "C'est fatal, animal/ La guerre entre nous/ Mais le premier qui fera du mal/ Deviendra presque fou/ C'est fatal, animal/ L'amour entre nous." Worte wie fatal, Krieg, Schmerz, verrückt und Liebe tauchen in der ersten Strophe auf. Ganz so weit geht "Eine vollkommene Leidenschaft" nicht und ist damit auch nicht trivial. Das macht Annie Ernaux aus, auch wenn der damalige Verlag das 1992 noch nicht verstanden hatte und das Cover wirklich nur zum Fremdschämen taugt.
Mutig und auf hohem Niveau
Jenseits der nun großen Werke der frisch gekürten Nobelpreisträgerin ist "Eine vollkommene Leidenschaft" mutig, weil es auf hohem literarischen Niveau etwas beschreibt, das irgendwann meistens versiegt (was manchmal auch ganz gut ist). Weil die Kurzerzählung uns das leidenschaftliche Kopfkino einer Frau näherbringt, das auch uns für eine kurze Zeit lang wieder schwärmen lässt, erinnern lässt, uns wieder mit Worten, Bildern, Liedern, Gefühlen umgibt, in einer Intensität, wie sie vor allem Teenager oder junge Menschen erleben können.
Denn Ernaux schreibt Geschichten über sich selbst, über das eigene Leben, genannt Autofiktion. Sie erzählt auf der Grundlage eigener Erlebnisse – präzise bis ins letzte Detail. Ihr mächtigstes Mittel ist diese fast chirurgische Präzision. Wobei nie ganz sicher ist, ob nicht doch das ein oder andere Detail ausgedacht wurde. Sie schreibt klar, offen und reflektiert über ihr Begehren.
Erinnert an Bachmann oder Kane
Dabei erinnert sie an Ingeborg Bachmanns "Malina" oder Sarah Kanes einzigartigen Monolog in "Gier":
"Und ich will Verstecken spielen und dir meine Kleider geben und dir sagen Ich mag deine Schuhe und auf den Stufen sitzen während du badest und deinen Nacken massieren und deine Füße küssen und deine Hand halten und essen gehen und mich nicht beklagen wenn Du mein Essen isst."
Sie erlaubt sich und uns dabei weitaus mehr als Leidenschaft oder Nostalgie, sie offenbart diese Sehnsucht nach einer anderen Zeit, nach Gefühlen, nach einem Leben, das nicht immer rational, politisch korrekt, ausgewogen ist. Das nicht auf Instagram oder TikTok erscheint, sondern in Romanen und Chansons, in Briefen, die man nie abschickt oder Tagebucheinträgen, die irgendwann vergilben und zerfallen – oder aber Literatur werden.
Orte voller Erinnerung
Aber zurück zu "Eine vollkommene Leidenschaft" – am Ende verlässt A. Frankreich. Die verlassene Geliebte nimmt allein von ihm Abschied, sie erinnert, sie verhandelt, sie rechnet die Tage aus, die sie nicht mehr voneinander gehört haben. Sie klammert sich an Orte und Begebenheiten, die sie an die gemeinsame Zeit erinnern. Und sie schreibt, um zu bewahren, aber sie bewahrt nicht.
Dann sehen sich die beiden noch einmal wieder, er meldet sich noch einmal, aber auch nur einmal. Dann beginnen Morgen, "an denen sie aufwacht und nicht mehr an ihn denkt," aus denen wohl Wochen, Monate, Jahre werden. Zum Ende ihrer Erzählung heißt es:
"Er hatte einmal zu mir gesagt: ‚Über mich wirst du kein Buch schreiben.‘ Aber ich habe kein Buch über ihn geschrieben, nicht einmal eines über mich. Ich habe lediglich das, was seine bloße Existenz mir gegeben hat, in Worte gefasst, die er wahrscheinlich nicht lesen wird und die nicht für ihn bestimmt sind: eine Art weitergereichtes Geschenk."
Und ein Geschenk für uns, kurz, bündig, für einen dunklen Winterabend. Für ein paar Stunden Schwärmerei.
Autorin: Annie Ernaux
Annie Ernaux wurde 1940 in Lillebonne in der Nähe von Le Havre geboren. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften lebte sie in Bordeaux und Annecy, bevor sie in die Nähe von Paris zog, wo sie auch heute noch wohnt und arbeitet. Erst mit dem autobiografischen Roman "Die Jahre" begann 2017 auch in Deutschland eine begeisterte Rezeption. Dabei wurde Annie Ernaux wohl nicht unbedingt für diese Kurzgeschichte mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, aber auch in ihr – in diesem Kurzwerk - findet sich, wofür die Schriftstellerin so gelobt wurde.