"Staunenswert" heißt die Kampagne, mit der das Land Sachsen-Anhalt sechs Einträge in der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO propagiert. Mit den Franckeschen Stiftungen in Halle soll bald ein siebter dazukommen. 

1698 hatte der Pietist August Hermann Francke dort ein Waisenhaus gegründet, von dem aus sich die lange bedeutendste Bildungsanstalt Europas entwickelte. Ein idealer Ausgangspunkt für eine Spurensuche in dem Bundesland, in dem die Reformation ihren Anfang genommen hat.

Francke wollte Luthers Ideen lebendig werden lassen

51 Weltkulturerbestätten gibt es in Deutschland. Das Bauhaus in Dessau sowie das Gartenreich Dessau-Wörlitz, der Naumburger Dom, Stiftskirche, Schloss sowie Altstadt von Quedlinburg, die Luthergedenkstätten in Eisleben und Wittenberg sowie die Himmelsscheibe von Nebra – sechs UNESCO-Ziele in einem Bundesland, von denen allein drei im Umkreis von 35 Kilometern beieinanderliegen, das ist schon beeindruckend. Sachsen-Anhalt ist damit Spitzenreiter in Deutschland.

August Hermann Francke, der seine Stiftung der Legende nach mit "vier Thaler und sechzehn Groschen" als Grundvermögen startete, passt da gut rein. Der 1663 als Sohn eines Juristen in Lübeck geborene Theologe wollte die Ideen Martin Luthers über die Grenzen Europas hinaus lebendig werden lassen und entwickelte den damals als radikal empfundenen "Halleschen Pietismus".

Danach sollte jeder Mensch durch das Lesen der Bibel zu Gott finden. Voraussetzung war natürlich, diese auch lesen zu können. Vor den damaligen Toren der Stadt Halle wollte Francke Schulen für alle Stände, natürlich für beiderlei Geschlechter, schaffen. Millionen deutschsprachiger Volksbibeln wurden gedruckt und ein internationales Netzwerk aufgebaut, durch das die Bibel in viele andere Sprachen übersetzt wurde.

Pflanzstätte für die Jugend

Mit seiner Schulstadt strebte Francke eine Pflanzstätte für Kinder und Jugendliche an, aus der heraus die Gesellschaft durch breite Bildung und Erziehung zur Selbstverantwortung nach christlichen Maßstäben verändert werden sollte. Wer im Waisenhaus aufgenommen wurde, blieb fortan weg von der Straße und war von Armut verschont, wurde aber dazu erzogen, die dem Pietismus eigene Hinwendung zum Individuum weiterzutragen und sich als Werkzeug Gottes zu betrachten.

Auf mittlerweile 14 Hektar erstreckt sich heute mitten in der Stadt ein Gelände mit Gebäuden und Plätzen, die von 40 pädagogischen, wissenschaftlichen, sozialen und kulturellen Einrichtungen geprägt sind. Darunter das Kinderkreativzentrum "Krokoseum", ein Pflanzgarten, die Kulissenbibliothek mit Kleinoden aus 300 Jahren Buchkultur und die Wunderkammer.

Käse, Damenschuh und Embryos

Im ehemaligen Schlafsaal des Waisenhauses wurde vor 300 Jahren damit begonnen, rund 3000 Objekte aus aller Welt zusammenzutragen, die den Kindern die Vielfalt der Schöpfung zeigen sollten. Blickfang ist das an der Decke hängende Krokodil, ein Mäuse- und auch ein Menschenembryo, aber auch Kuriositäten wie ein versteinertes Stück Käse, ein chinesischer Damenschuh und allerhand weiterer Exponate aus anderen Kulturen. Die Kammer gilt als das einzige vollständig erhaltene barocke Kuriositätenkabinett in Deutschland.

Die Schulstadt bestand bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, verlor in der DDR dann aber ihre Selbstständigkeit und verfiel zusehends. Seit 1991 wurden die historischen Gebäude wiederaufgebaut. Heute sind die Franckeschen Stiftungen eine Stiftung öffentlichen Rechts mit Kuratorium und Freundeskreis. Sie verfolgen ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke.

Regelmäßig finden hier auch Sonderausstellungen zu aktuellen, gesellschaftlich relevanten Themen statt. Das Veranstaltungsprogramm umfasst jährlich rund 100 Einzelevents. Man arbeitet eng mit der Martin-Luther-Universität zusammen, die auch in einigen Räumen des Gebäudekomplexes anzutreffen ist.

Wunderkammer
Im ehemaligen Schlafsaal des Waisenhauses wurde vor 300 Jahren damit begonnen, rund 3000 Objekte aus aller Welt zusammenzutragen, die den Kindern die Vielfalt der Schöpfung zeigen sollten.

Es luthert allerorts in Wittenberg

Der Reformator hatte 1546 in Halle gepredigt. In der Marktkirche der Stadt ist heute noch seine Totenmaske zu sehen. Weitaus lebendiger ist Martin Luther aber im 80 Kilometer weiter gelegenen Wittenberg, wo er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Missbrauch des Ablasshandels der katholischen Kirche an die Schlosskirche genagelt haben soll. Auch wenn seine sterblichen Überreste in dem Gotteshaus begraben liegen, er ist allgegenwärtig.

Im Lutherhaus, dem einstigen Augustinerkloster, in dem die Familie Luther rund 35 Jahre lang lebte, wurden die Thesen verfasst. Hier fanden auch zahlreiche Vorlesungen, aber auch die berühmten Tischgesellschaften statt. Noch bis Ende Oktober 2023 wird die Dauerausstellung zu sehen sein, deren Herzstück die original erhaltene Lutherstube ist, die aber auch originale Gemälde der beiden Lucas Cranachs zeigt. Voraussichtlich wird das Lutherhaus mit neuer Dauerausstellung dann im April 2025 wiedereröffnet.

Moderner, digitaler und interaktiver

"Die Konzeptionsphase für diese neue Dauerausstellung läuft noch. In erster Linie soll die Ausstellung moderner und auch digitaler und interaktiver werden", erklärt Sprecherin Nina Mütze. Zudem sei geplant, eine eigene, dauerhafte Kinderausstellung mitzuintegrieren.

Zum 500-jährigen Jubiläum von Luthers Bibelübersetzung und dem Druck des Septembertestaments in Wittenberg im Jahr 1522 hat man sich im Lutherhaus entschlossen, keine "gewöhnliche" Sonderausstellung anzubieten. Dafür gibt es jetzt einen "Escape Room" unter dem Motto "Tatort 1522". Die Besucher müssen in fünf verschiedenen Szenarien wie Luthers Küche oder seiner Schreibstube versteckte Rätsel finden, deren Lösung dann Türen öffnen und zugleich Hinweise auf ein verschwundenes Buch liefern.

Bei dieser Detektivarbeit lernt man Zeitgenossen Luthers wie Philipp Melanchthon oder den Kurfürsten Friedrich den Weisen kennen. Hat man das Buch gefunden, liest man den berühmten Bibelvers "Im Anfang war das Wort", womit sich ein Kreis schließt. Während der je nach Geschicklichkeit etwa anderthalb Stunden dauernden Rätselei lernt man einiges über Luther kennen – vor allem aber seinen Einfluss auf die deutsche Sprache. "Tatort 1522" wird noch bis zum 9. Juli 2023 zu sehen sein.

Im Escape-Room
Im Escape-Room des Lutherhauses Wittenberg.

Wem das alles zu viel Krimi ist, der kann nur wenige Hundert Meter weiter in Richtung Stadtzentrum die historischen Stätten der Reformationszeit sowie die Stadtkirche St. Marien besuchen, wo Luther rund 2000 Mal predigte und Johannes Bugenhagen erster evangelischer Stadtpfarrer war.

Dort findet man zahlreiche Werke von Lucas Cranach d. Ä., der 2022 seinen 550. Geburtstag gefeiert hätte, und seinem Sohn Lucas Cranach d. J., die einen Katzensprung von der Kirche entfernt auch lebten. Die "Mutterkirche der Reformation", wie die Stadtkirche gerne bezeichnet wird, wird gekrönt von dem prächtigen Cranach-Altar, in dessen Szenen Luther immer wieder eingefügt wurde.

Cranach-Hof
Die beiden Cranachs sind im Wittenberger Cranach-Hof ompiräsent.

Im Ensemble Cranach-Haus mit seinem Wittenberger Hof findet man heute ein Hotel mit Gastwirtschaft neben der ehemaligen Druckerei "Cranachs Welt", in der sich alles Wissenswerte zum Leben und Wirken der Cranach-Familie erfahren lässt. Im Zuge der Renovierungen der Gebäude wurden außerdem Wandmalereien freigelegt. Was man ebenso lernt: Die Cranachs waren nicht nur als Drucker, Maler und Grafiker aktiv, sondern auch Ratsmitglieder und Bürgermeister in Wittenberg sowie Immobilien- und Apothekenbesitzer.

Wer einfach nicht genug vom Reformator kriegen kann, ist in Wittenberg ohnehin richtig – nicht nur, wenn gerade wieder mal ein Jubiläum ansteht. Seit 1938 heißt man sogar offiziell "Lutherstadt", Straßen, Plätze und Hotels haben sich nach ihm benannt. Diesen Zusatz im Namen trägt auch das rund 100 Kilometer entfernte Eisleben, das mit dem Geburtshaus Luthers ein eigenes Welterbe-Prädikat besitzt.

Seit 2007 lässt man hier in einer Dauerausstellung in 13 Räumen mit etwa 250 Exponaten die Kindheit Luthers wieder aufleben. Dass er am 18. Februar 1546 ausgerechnet wieder in Eisleben war, als das Herz zu schlagen aufhörte, ist ein Zufall. Sein Sterbehaus der Familie Drachstedt am Markt gehört seit 1996 ebenfalls zum Weltkulturerbe der UNESCO.

Im Panorama eintauchen ins lutherische Wittenberg

Ein Highlight, das es seit dem Reformationsjubiläumsjahr 2017 in Wittenberg gibt, ist Yadegar Asisis 360°-Panorama, für das ein Gebäude entstand, um das meterhohe Rundum-Bild mit Szenen, wie sie anno 1517 hätten in Wittenberg stattfinden können, zu zeigen. Bis 2024 soll die 15 mal 75 Meter große Fläche, die wie ein mittelalterliches Wimmelbild wirkt, das mit Lichteffekten und Musik präsentiert wird, zu sehen sein. Was danach mit dem Kubus geschieht, steht in den Sternen.

Doch in Sachsen-Anhalt, dessen Investitions- und Marketinggesellschaft sowohl für den Tourismus als auch für die Wirtschaftsförderung arbeitet, werden sicherlich auch hierzu Ideen formuliert werden. Erst im Frühjahr 2022 konnte man mit dem Chip-Hersteller Intel einen milliardenschweren Branchenprimus ins Land nach Halle holen. Derzeit bewirbt sich die Stadt um den Standort des "Zukunftszentrums Deutsche Einheit und Europäische Transformation".

Sieben Orte in Ostdeutschland haben sich als Standort im Zuge eines Bundeswettbewerbs beworben. Die Stadt Halle will dafür am lokal bedeutsamen Verkehrsknotenpunkt Riebeckplatz einen Gebäudekomplex für Forschung, Bildung und Begegnung mit Büros, Konferenz- und Veranstaltungsräumen sowie Ausstellungsflächen schaffen. Anfang 2023 soll die Entscheidung fallen.

Yadegar Asisis 360°-Panorama
Yadegar Asisis 360°-Panorama mit Szenen, wie sie anno 1517 hätten in Wittenberg stattfinden können.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden