Church Ladies – so bezeichnet man in den USA Frauen, die ihr soziales Leben rund um die Kirche und den sonntäglichen Gottesdienst organisieren. In der Bezeichnung schwingt oft auch mit, dass es sich dabei um besonders schamhafte oder sogar verklemmte Damen handele. 

Blick hinter die Fassade

Adäquat ins Deutsche übersetzen lässt sich der Begriff kaum, wahrscheinlich haben die Übersetzerinnen des Buches von Deesha Philyaw deshalb im Titel gleich ganz darauf verzichtet. Im Original heißt das Werk allerdings "The secret lives of church ladies", was noch ein wenig mehr über den Inhalt verrät: Die afroamerikanische Autorin wagt in ihrem Debüt einen Blick hinter die prüde Fassade. 

"Church Ladies" ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die jeweiligen Protagonistinnen sind Schwarze Frauen aus vier Generationen, die entweder selbst Church Ladies sind oder eine solche als Mutter haben. 

Kitsch- und klischeefrei, dafür mit einem klaren Blick für Schönheit wie Abgründe, erzählt Philyaw aus deren Leben. Oft ist es nur ein kurzer, präziser Blick auf bestimmte Situationen, mit dem sie eine ganze Palette an Konflikten, Sehnsüchten, Hoffnungen und Ängsten zeichnet. 

Sünderinnen als Heldinnen

Philyaws Heldinnen sind keine Heiligen, es sind Sünderinnen. Gleich in der ersten Geschichte lernen wir die 40-jährige Eula kennen, Church Lady, Lehrerin und Single. Gemeinsam mit ihrer Freundin, die die Ich-Erzählerin ist, feiert sie den Milleniums-Jahreswechsel 1999/2000. Wir erfahren, Eula hatte noch nie Sex mit einem Mann – und nimmt fälschlicherweise an, das gelte auch für die ebenfalls unverheiratete Erzählerin. Umso größer ihr Entsetzen, als diese sie mit der Wahrheit vertraut macht. 

Jungfräulich ist aber auch Eula nicht. Immer zu Silvester hat sie Sex mit der Erzählerin. Als diese ihr jedoch vorschlägt, nicht länger auf den vermeintlich Richtigen zu warten, sondern aus dem Jahreswechsel-Ritual eine feste Beziehung zu machen, blockt sie erschrocken ab. 

Allein in dieser Geschichte steckt so viel: Das Begehren, das nicht im Einklang mit den von Kirchen vorgegebenen Moralvorstellungen gelebt werden kann. Die Lust, die sich dennoch Bahn bricht. Das darauf folgende Schuldgefühl, der Schmerz, die Enttäuschung. Am Ende bleibt offen, wie die beiden Frauen weiter verfahren – sie wissen es vermutlich selbst nicht in diesem Moment, den Deesha Philyaw hier eingefangen hat. 

Im besten Sinne woke

Auch die anderen Geschichten haben es in sich. Da gibt es Priester, die ihre Ehefrauen betrügen, abwesende Väter, überforderte Mütter, eine Anleitung einer selbstbewussten Ehebrecherin für potenzielle Liebhaber oder den Mord an einem übergriffigen Nachbarn.

Die weiblichen Hauptfiguren müssen dabei stets ringen: Um ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung, ihre Würde, aber auch mit sich selbst und den von ihnen verinnerlichten Moralvorstellungen. Manche rebellieren, manche resignieren und fügen sich, die meisten bewegen sich irgendwo dazwischen.

Bei aller Kritik an kirchlichen Machtstrukuren ist das Buch aber keinesfalls eine einseitige Abrechnung mit Kirche, vielmehr eine ehrliche, zum Teil autobiografisch geprägte Bestandsaufnahme der komplexen Beziehungen afroamerikanischer Frauen zu Kirchen und Klerus. 

Deesha Philyaws "Church Ladies" ist witzig und spannend erzählt – und im besten Sinne woke: Die Protagonistinnen sind getrieben von einer Sehnsucht nach Freiheit, die ihnen nicht nur von der Kirche, sondern auch von einer rassistisch und patriarchal geprägten Gesellschaft vorenthalten wird. Die Kritik an all diesen Unterdrückungs-Strukturen ist nicht platt oder offensichtlich formuliert, sondern steckt inhärent in den Geschichten, die damit nicht das Mittel zum Zweck der Übermittlung einer Botschaft sind, sondern für sich stehen. 

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