Überall Krisen, Konflikte und Kriege - für viele Menschen scheint die Welt momentan aus den Fugen zu geraten. Millionen Menschen sind auf der Flucht, und viele davon wollen nach Deutschland, eines der stabilsten Länder dieser Welt.
Auch wenn sich die Lage hierzulande beruhigt hat und 2016 weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen als im vergangenen Jahr - man muss kein Pessimist sein, wenn man glaubt, dass die Flüchtlingsfrage bald wieder ein Thema sein wird.
Wie kann der Einzelne helfen, die Kirche, der Staat, die Gesellschaft? Tausende Ehrenamtliche haben sich für Flüchtlinge engagiert, haben Unterkünfte hergerichtet, Suppe ausgegeben oder Behördengänge begleitet.
Doch wo sind die Grenzen des Machbaren? Kirchenobere predigen gerne Toleranz, Offenheit und Nächstenliebe - doch was ist mit Ängsten, Sorgen und Misstrauen? Darf man diese Emotionen einfach wegdrücken? Darf man das bei einer Frage, die Deutschland im vergangenen Jahr mehr beschäftigt hat als jede andere Frage, die Europa an den Rand der Spaltung gebracht hat, das Parteienspektrum in Deutschland verändert und für erbitterte Diskussionen gesorgt hat in Parteien, unter Freunden und in Familien?
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm (56), hat sich immer wieder für eine humanitäre Haltung in der Flüchtlingskrise ausgesprochen. In Predigten, Talkshows, Interviews und Zeitungsbeiträgen hat er klargemacht, dass Christsein und der Einsatz für Arme, Schwache und Ausgegrenzte zusammengehören.
Kritiker warfen ihm daraufhin vor, einer Gesinnungsethik zu folgen und die mit der Krise verbundenen Probleme in Deutschland und Europa auszublenden. Nun hat er in seinem Buch "Mitgefühl" (Claudius Verlag) dargelegt, woran man sich in der gegenwärtigen Lage orientieren kann und was zu tun ist.
Extreme Lösungswege lehnt Bedford-Strohm ab. Er verweist darauf, dass Deutschland nicht unbegrenzt Menschen aufnehmen kann. Er drängt daher bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf "geregelte und faire Verfahren und eine ebenso faire internationale Lastenverteilung".
Ebenso falsch ist es aus seiner Sicht zu sagen, "Wir machen jetzt dicht". "Wenn man die Bilder aus Aleppo sieht, kann man gar nicht anders, als Mitgefühl zu empfinden und zu hoffen, dass es Wege gibt, die Menschen irgendwie zu retten", schreibt er.
Mehrere Schlüsselerlebnisse haben Bedford-Strohms Überzeugung geprägt: Er mischte sich unters Volk, als am ersten Septemberwochenende 2015 über 20.000 Menschen am Münchner Hauptbahnhof ankamen, Flüchtlinge vor allem aus den Kriegsgebieten Syriens und des Nordirak. Die einzigartige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung werde in die Geschichte eingehen, ist er sich sicher.
Prägend war für ihn auch die unmittelbare Konfrontation mit Flüchtlingen ein Jahr zuvor im Nordirak. Nur wenige Wochen vorher hatte dort der sogenannte Islamische Staat die Großstadt Mossul eingenommen. Seine Milizen hatten die Dörfer der Ninive-Ebene überfallen, Frauen und junge Mädchen entführt und versklavt, eine regelrechte Jagd auf Christen, Jesiden und andere religiöse Minderheiten veranstaltet. Viele waren in die Wüste oder in die Berge geflohen. Bedford-Strohm setzte sich zu den Flüchtlingen ins Zelt und hörte ihnen zu.
Nach seiner Rückkehr plädierte er für eine militärische Schutzzone der Vereinten Nationen. Vergeblich.
Mitte September 2015 stand der Bischof dann an der ungarisch-serbischen Grenze in Röszke, bevor Ungarn das letzte noch offene Stück des Stacheldrahtzauns an der Grenze zu Serbien schloss. Die Balkanroute war dicht, verzweifelte Menschen steckten im Schlamm fest. Der Bischof konnte ihnen nicht helfen.
Vor-Ort-Besuche an den Brennpunkten der Flüchtlingskrise hat der Bischof immer wieder in seinen dichten Terminkalender eingeschoben, dieses Jahr bei Flüchtlingen im türkischen Diyarbakir oder an Bord der Werra, einem Schiff der Bundesmarine, das gegen Schleppernetzwerke vorgeht.
Am meisten Hoffnung macht ihm die spontane Hilfsbereitschaft, wie er sie am Münchner Hauptbahnhof erlebte: "Es war schlicht und einfach Empathie. Ein Mitgefühl, das das Leid, das vor Terror und Gewalt fliehende Menschen erleben, zum eigenen Leid werden lässt. Das Ausmaß, in dem solche Empathie angesichts des Leids der Flüchtlinge überall in Deutschland sichtbar und spürbar geworden ist, das ist das eigentlich Historische an dem, was wir erlebt haben und erleben."
Empathie steht im Zentrum der Ethik Bedford-Strohms. Der Respekt vor der Würde des Menschen gründet auf der Gottebenbildlichkeit. In der biblischen Schöpfungsgeschichte kommt für ihn zum Ausdruck, dass jeder Mensch einen unendlichen Wert besitzt, der ihm von Gott zugesprochen wird und der ihm deswegen durch niemanden aberkannt werden kann.
Im Neuen Testament wird dies noch verstärkt, weil Gott selbst in Jesus Christus Mensch geworden ist: "Stärker kann man das humanitäre Erbe, dem wir verpflichtet sind, nicht begründen als mit der Überzeugung, dass uns in einem Menschen Gott selbst begegnet: in einem Gekreuzigten, in einem, der als politisch und religiös Verfolgter den Foltertod gestorben ist."
Auf der Grundlage dieses Glaubens gibt es keine Gottesbeziehung mehr ohne Beziehung zum Nächsten, folgert Bedford-Strohm. Die Bekräftigung der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist für ihn deshalb die wichtigste Quelle für das, was er "Ethik der Einfühlung" nennt. Zahlreiche Beispiele aus dem Alten und Neuen Testament belegen "Einfühlung" als Charakteristikum jüdisch-christlicher Ethik, gipfelnd in der Spitzenformulierung im Gleichnis vom Weltgericht: "Ich bin ein Fremder gewesen", sagt Christus, "und ihr habt mich aufgenommen". (Matthäus 25, 35)
"Universalismus des Liebesgebots"
Damit der "Universalismus des Liebesgebots" gelingt, sind für Bedford-Strohm jedoch "konkrete und dichte personale Beziehungen im sozialen Nahbereich" nötig, sie bedingen sogar einander. Einfacher gesagt: Sich um Flüchtlinge, die Fernen, zu kümmern, steht nicht in Konkurrenz zur Nächstenliebe, der Beziehung zu Söhnen und Töchtern, Freunden und Nachbarn. Sie bedingen sich gegenseitig.
Empathie hat für den Bischof immer auch eine politische Dimension. Hier stimmt er überein mit dem Verfassungsrechtler Udo Di Fabio, dass Kirchen zwar selbst keine politischen Akteure seien. Aber sie "irritieren den politischen Prozess", sie nehmen Stellung - "nicht mit klerikalistisch-bevormundender moralischer Besserwisserei, sondern als vitale Akteure einer demokratischen Zivilgesellschaft".
Bedford-Strohm musste sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, einem gesinnungsgeleiteten moralischen Rigorismus zu folgen, einer Gesinnungsethik unter Verdacht von Blauäugigkeit und Humanitätsduselei. Dem tritt er in seinem Buch entgegen, wenn er erstmals von "Leitkultur" spricht.
Bedford-Strohm versteht Leitkultur "im menschenrechtlichen Sinne" und meint damit den "übergreifenden Konsens der gemeinsamen menschenrechtlichen Grundorientierungen". Wesentliche christliche Überzeugungen hätten in diesem menschenrechtlichen Grundkonsens Eingang gefunden. Deswegen läge es ganz in der Ziellinie dieser christlicher Überzeugungen, wenn sie als "menschenrechtliche Leitkultur" auch von denen geteilt und bejaht werden können, die sich von anderen religiösen oder weltanschaulichen Traditionen her verstehen.
Flüchtlinge müssen die westlichen Werte respektieren.
"Die Gleichberechtigung von Frauen gehört zu dieser menschenrechtlichen Ausrichtung unserer Gesellschaft", schreibt Bedford-Strohm. Aber auch das Antisemitismus-Tabu. "Wenn Menschen jetzt aus arabischen Ländern zu uns kommen, in denen Antisemitismus Teile der Kultur mitbestimmt, dann müssen wir ihnen in dieser Hinsicht klare Lernerfahrungen hier in Deutschland zumuten."
Bedford-Strohms "Ethik der Einfühlung" denkt Humanität und Realismus zusammen. Zwar ende der Horizont der Verantwortung nicht an den bayerischen, den deutschen oder europäischen Grenzen, doch könne niemand allen Menschen in Not auf der Welt helfen.
"Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich" - Bundespräsident Joachim Gauck hat es aus Sicht des Bischofs auf den Punkt gebracht. Entscheidend ist für ihn die Frage, "wie wir mit den Grenzen unserer Möglichkeiten umgehen". Tröstlich formuliert er ganz im Geiste von Luthers Rechtfertigungslehre: "Nicht dadurch, dass wir das universale Liebesgebot erfüllen, finden wir inneren Frieden, sondern dadurch, dass wir uns mit aller Begrenztheit unserer Kraft von Gott geliebt fühlen dürfen."
Mit seinem Buch und seiner "Ethik der Einfühlung" gibt der "oberste Protestant" in Deutschland eine Antwort auf drängende Fragen - aber nicht von oben, sondern von weit unten, aus dem Schlamm von Röszke, den Zelten der Jesiden und dem Getümmel am Münchner Hauptbahnhof.
Mit viel Einfühlung holt er die vielen Zweifler am Merkel'schen "Wir schaffen das" ab. Ein wichtiger Beitrag zur vieldiskutierten Leitkultur in Deutschland.
BUCHTIPP: Heinrich Bedford-Strohm: Mitgefühl. Ein Plädoyer. 128 Seiten, Hardcover, Claudius 2016, 10 Euro. ISBN 978-3-532-62483-8. Erhältlich im Buchhandel oder hier bei uns im Claudius Verlag.