Die Bilder aus der NS-Zeit und aus dem Zweiten Weltkrieg sind uns vertraut; es sind Schwarz-Weiß-Bilder. Schwarz-Weiß signalisiert Historisierung, erzeugt Distanz. Die Gegenwart ist bunt.

Die zweiteilige BR-Dokumentation "Jahre der Verführung" und "Jahre des Untergangs" präsentiert nun aber bislang unbekannte Farbfilme von Hobbyfilmern aus der Zeit von 1931 bis 1945. Ihr unverfälschter privater Blick auf den Alltag dieser Zeit und nicht zuletzt die Farbigkeit der Bilder rücken das Gestern – das Heute dieser Menschen – auf frappierende Weise in die Gegenwart. Es sind Bilder aus einem Reich, das in einem Meer aus Fahnen versinken wird, in dem die Menschen in blindem Gehorsam in die Katastrophe marschieren werden. Es sind Menschen, die uns gleichzeitig ganz nah kommen und völlig fremd sind. Wer ihre Bilder heute sieht, weiß, was kommen wird. Gerade weil die meisten der Privataufnahmen so harmlos wirken, entsteht eine Spannung: Wo wird – und sei es nur am Rande – sichtbar, was in die kommende Katastrophe führte? Wer von diesen "ganz normalen" Menschen verhielt sich wie? Wer war oder wurde zum Täter? Wer starb bald an der Front oder im Bombenhagel?

Das Böse hinter dem Banalen

Die Farbe lässt das Historische plötzlich ganz nah erscheinen. Man begreift, dass der Nationalsozialismus zwar einerseits antimodern und reaktionär war, andererseits aber auch für einen Technik-optimistischen Aufbruch in die moderne Massengesellschaft stand. Nebenbei wird dabei klar, dass es eine "Stunde null" des demokratisch-bundesrepublikanischen Neuanfangs nie gab, sondern wie stark die Kontinuitäten waren und wie entschlossen die Deutschen die Tiefe und die Breite ihrer Beteiligung am verbrecherischen NS-Regime verdrängten.

Es ist faszinierend, wie es den BR-Redakteurinnen Michaela Wilhelm-Fischer und Despina Grammatikopulu gelingt, aus dem an sich banalen privaten Filmmaterial eine große Erzählung zu montieren. Jedes Nummernschild eines zufällig vorbeifahrenden Autos, jedes Ladenschild im Hintergrund haben sich die beiden genau angesehen; alles, was sich an Hintergrundinformationen zu den Amateurfilmern und den von ihnen gefilmten Personen in Erfahrung bringen ließ, haben die beiden in einer fast zwei Jahre dauernden Recherche zusammengetragen. "Wir haben manchmal Stunden damit verbracht, Kirchtürme oder markante Brunnen zu lokalisieren", sagt Despina Grammatikopulu. "Oft wussten wir nicht, in welchem Dorf die Szene aufgenommen wurde, wohin uns das Material bringen würde oder welche Geschichte dahintersteckt." Alles, was sie herausfanden, überprüften die Filmemacherinnen in Archiven, mit Zeitzeugen, Historikern oder Heimatvereinen.
 

Doku »Jahre der Verführung« - Begeisterte Kinder am "Tag der Deutschen Kunst" in München im Jahr 1937.
Begeisterte Kinder am Tag der Deutschen Kunst in München im Jahr 1937.
Doku »Jahre der Verführung« - Nürnberg 1936: Madonna mit einer Hakenkreuz-Fahne.
Nürnberg 1936: Madonna mit einer Hakenkreuz-Fahne.
Doku »Jahre der Verführung« - München, am 14. Juli 1939: Umzug am "Tag der Deutschen Kunst".
München, am 14. Juli 1939: Umzug am "Tag der Deutschen Kunst".
Doku »Jahre der Verführung« - Im Sommer 1938 an der Volkacher Schleife: Eine junge Frau schaut auf den Main.
Im Sommer 1938 an der Volkacher Schleife: Eine junge Frau schaut auf den Main.
Doku »Jahre der Verführung« - Verschwitzt bei einer Bergtour auf die Kampenwand in den Chiemgauer Alpen 1937.
Verschwitzt bei einer Bergtour auf die Kampenwand in den Chiemgauer Alpen 1937. Auf der Hütte gab es zur Stärkung Traubenzucker und frische Milch.
Doku »Jahre der Verführung« - Die "erste Ordinarifahrt der Ulmer im Großdeutschen Reich" 1938: Blick auf Schloss Wallsee in Niederösterreich.
Die "erste Ordinarifahrt der Ulmer im Großdeutschen Reich": Propagandafahrt auf der Donau bis in die Wachau in einem Boot des historischen Typs "Ulmer Schachtel" zur Feier des "Anschlusses" Österreichs im Jahr 1938. Blick auf Schloss Wallsee in Niederösterreich.
Doku »Jahre der Verführung« - Die "erste Ordinarifahrt der Ulmer im Großdeutschen Reich" 1938: Blick auf die Pfarrkirche St. Ägidius in Grein, Oberösterreich.
Die "erste Ordinarifahrt der Ulmer im Großdeutschen Reich": Propagandafahrt auf der Donau bis in die Wachau in einem Boot des historischen Typs "Ulmer Schachtel" zur Feier des "Anschlusses" Österreichs im Jahr 1938. Blick auf die Pfarrkirche St. Ägidius in Grein, Oberösterreich.
Doku »Jahre der Verführung« - München, 1937, »Tag der Deutschen Kunst«: begeisterte Mädchen und ein Meer aus Hakenkreuzfahnen
München, 1937, »Tag der Deutschen Kunst«: begeisterte Mädchen und ein Meer aus Hakenkreuzfahnen.
Doku »Jahre des Untergangs« - Adolf Hitler beim "Tag der Deutschen Kunst" 1939.
Endlich dem "Führer" ganz nah: private Farbfilmaufnahmen vom "Tag der Deutschen Kunst" 1939, wenige Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Links neben Adolf Hitler ist SS-Chef Heinrich Himmler zu sehen, rechts von ihm der "alte Kämpfer" und Präsident der Reichspressekammer, Max Amann (1891-1957).
Doku »Jahre des Untergangs« - Polen, 1940: Luftwaffensoldaten beim Einlegen von Patronengurten.
Polen, 1940: Luftwaffensoldaten beim Einlegen von Patronengurten.
Doku »Jahre des Untergangs« - Urlaub in Rottau in Oberbayern 1944.
Vom Krieg ist fast bis zum Schluss praktisch nichts zu sehen: Urlaub in Rottau in Oberbayern 1944.
Doku »Jahre des Untergangs« - Dampferfahrt auf dem Chiemsee 1944: Im Hintergrund die Fraueninsel, auf der im Rahmen der "Kinderlandverschickung" damals Hunderte Mädchen und Jungen aus den bombardierten deutschen Städten einquartiert waren.
Dampferfahrt auf dem Chiemsee 1944: Im Hintergrund die Fraueninsel, auf der im Rahmen der "Kinderlandverschickung" damals Hunderte Mädchen und Jungen aus den bombardierten deutschen Städten einquartiert waren.
Doku »Jahre des Untergangs« - Das Ende: das kriegszerstörte Nürnberg im Mai 1945.
Das Ende: das kriegszerstörte Nürnberg im Mai 1945.
Doku »Jahre des Untergangs« - Dachau, 2. Mai 1945: US-Soldaten posieren in NS-Uniformen.
Dachau, 2. Mai 1945: US-Soldaten posieren in NS-Uniformen.

Erst diese enorme Rechercheleistung ermöglicht den Blick aufs Große und Ganze dieses Teils der deutschen Geschichte, der eben alles andere war als ein "Vogelschiss", wie der Leiter des Programmbereichs BR-Fernsehen, Andreas Bönte, bei der Vorstellung der Doppel-Doku im Münchner NS-Dokuzentrum betonte. Projekte wie dieses sind jedenfalls ausgezeichnete Argumente für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In ihnen stecken gut angelegte Gebühren.

Aus insgesamt 22 Stunden Material haben sich die Filmemacherinnen bedient. Ausgewählt haben die Regisseurinnen vor allem Bilder mit Bayern-Bezug. Manche der Filme lagen jahrzehntelang vergessen auf Dachböden. Eine wichtige Quelle war neben anderen Sammlungen das Archiv "Helden der Geschichte" des Bremer Filmhistorikers Hermann Pölking-Eiken.

Vertonte Stummfilme

Natürlich handelte es sich ursprünglich um Stummfilme. Die Filmemacher haben ihnen Geräusche hinzugefügt: ein im Hintergrund vorbeifahrendes Auto, Stimmengewirr und Geschirrklappern, die muhende Allgäuer Kuh, das Klirren des Schnees, durch den die Menschen in Nürnberg im extrem kalten ersten Kriegswinter stapfen.

Der älteste der Farbfilme ist aus dem Oktober 1931. Es ist noch kein richtiger Farbfilm, sondern ein im Linsenrasterverfahren belichtetes Schwarz-Weiß-Zelluloid, das farbig erscheint. Die Technik erwies sich als teure Sackgasse.

Ab 1936 waren dann die modernen Agfa-Dreischicht-Farbfilme auf dem Markt. Auch sie waren sündhaft teuer und für Normalbürger mit kleinem Geldbeutel nicht erschwinglich.

Man musste entweder einem Filmclub angehören, wie der Dachauer Bäckermeister Josef Bielmeier, oder eben anderweitig privilegiert sein: Eine von Eva Braun gefilmte Ostereiersuche mit den Kindern von Martin Bormann am Obersalzberg ist unter den Filmausschnitten. Daneben bayerisch Idyllisches am Tegernsee, wo man sich schon 1935 rühmte, eine "judenfreie" Sommerfrische bieten zu können, wie der Film erläutert (Sprecher ist der Schauspieler August Diehl).

Wo beginnt es, das Böse? Nur einmal huscht beim fröhlichen Faschingsumzug 1938 in Nürnberg, der Stadt der NS-Rassegesetze und Nazi-Parteitage, etwas Verstörendes durchs Bild: Auf einem der Wagen steht eine "Todesmühle"; an ihr hängt die Hetzkarikatur eines Juden am Galgen. Im fröhlichen Trubel des Narrenumzugs kündigt sich der Holocaust an.

Wie durchs Schlüsselloch blicken wir in ganz normale deutsche Wohnzimmer, an Weihnachten oder bei einer "Friedenszigarre" zu Silvester 1942/43. Es sind Bilder, die nie für die Augen der Öffentlichkeit gedacht waren. Und es verbergen sich abgründige Geschichten hinter den an sich banalen Bildern mit lachenden Badenden und fröhlichen Urlaubern in Südtirol oder auf der Zugspitze.

Die Filme von August Lautz und seiner Familie sind so etwas wie der Faden, an dem sich die Erzählung der Dokumentation entlangbewegt. Es beginnt mit fröhlichen Bildern vom Hopfensee im Allgäu, Bilderbuch-Bayern: Wer hier wohnt oder ein Ferienhaus mit Seeblick besitzt, hat es geschafft.

August Lautz ist Chemie-Ingenieur in Wolfen-Bitterfeld. Dort ist die Agfa-Filmfabrik; deswegen hat Lautz Zugang zu dem exklusiven Material. Alle in der Familie sind dem Filmhobby zugetan. Doktor Lautz ist nicht nur Agfa-Mann, er ist auch glühender Nationalsozialist und Ortsgruppenleiter der NSDAP in Wolfen. Zu sehen sind die Privatfilme einer nationalsozialistischen Bilderbuchfamilie, keine pöbelhaften Aufsteiger. Es geht herzlich und liebevoll zu. Man ist wohlhabend, gebildet, künstlerisch – Teil der Elite des "Dritten Reichs".

Tochter Brigitte heiratet den vielversprechenden Juristen Georg Prechtel, der in München bis zum Oberstaatsanwalt aufsteigt. Ihr gemeinsamer Sohn ist der Schauspieler Volker Prechtel (1941-1997), dessen markantes Gesicht 1986 einem internationalen Publikum bekannt wurde, als er in der Verfilmung des Umberto-Eco-Romans "Der Name der Rose" die Rolle des Malachias von Hildesheim spielte; viele Kinder kennen ihn als "Drechslermeister Zacharias" aus den Pumuckl-Filmen.

Im August 1939, wenige Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, heiratet die künstlerisch veranlagte Tochter Susanne, eine Goldschmiedin, den Architekten Ludwig Stigler aus Bozen.

Ludwig Stigler (dessen vollen Namen die Autorinnen in ihrem Film ebenso wenig nennen wie die der anderen Familienmitglieder) ist eine gute nationalsozialistische Partie: Er ist Partei- und SS-Mitglied seit 1931. Seit 1937 ist er Obersturmführer und Träger des "Totenkopfrings der SS". Eine schnelle Suche in den Genealogie-Datenbanken im Internet bestätigt, was die BR-Regisseurinnen anhand der Bilder von der Hochzeitsgesellschaft herausgefunden haben: Der Bräutigam ist das uneheliche Kind des österreichischen Arztes Robert Stigler, auch er ein glühender Nazi der ersten Stunde. Während des Kriegs führte er in einem Kriegsgefangenenlager rassenphysiologische Studien an Kriegsgefangenen aus Afrika und Asien durch.

Der Putschist, der nach Argentinien floh

Ludwig Stigler hatte in Wien zusammen mit einem Partner, ebenfalls aus Südtirol, ein erfolgreiches Architekturbüro geführt. Doch während man 1932/33 für den jüdischen Unternehmer William Zimdin das luxuriöse Grandhotel "Panhans" am Semmering renovierte – inklusive Neubau eines topmodernen Hallenbads –, baute Stigler das Büro zu einer Spionageabteilung der Münchner NSDAP-Zentrale aus. "Lt. Belegen bei der Post- und Telegraphendirektion Wien [...] hatte er eine Nachrichtenstelle eingerichtet" heißt es in seinen österreichischen Strafakten 1948.

Beim gescheiterten nationalsozialistischen Umsturzversuch am 25. Juli 1934 wurde der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ermordet. Wegen seiner Verwicklung in diesen "Juliputsch" wurde Ludwig Stigler 1934 verhaftet. Sechs Monate später floh er ins "Altreich".

Von alldem gibt es natürlich kein Filmmaterial. Stattdessen begleitet die Doku Ludwig und Susanne auf ihrer ausgedehnten Hochzeitsreise. Im teuren BMW 327 Sportcabriolet reisen sie über nagelneue Autobahnen nach München, sie besuchen Stiglers Mutter in Südtirol. Es geht nach Sonthofen, wo eine Ordensburg der Partei steht und eine Adolf-Hitler-Schule. Wegen der Architektur oder weil man sich eine mögliche Schule für den erhofften Sohn ansah? Dann der letzte Sonnenuntergang im Frieden. Aber selbst im Krieg wirken die Bilder weiter friedlich, auch die des Dachauer Bäckermeisters Sepp Bielmeier. Der Filmverrückte leistete sich das teure Material und filmte, filmte, filmte – durchaus zum Verdruss seiner Töchter, die seine liebsten Protagonistinnen waren und die von den Filmemacherinnen ausfindig gemacht werden konnten.

Bäckermeister Bielmeier profitierte vom KZ Dachau, deren Wachmannschaften er belieferte. Vermutlich bei einer solchen Gelegenheit gelang ihm die vermutlich einzige Filmaufnahme, die von einer Privatperson innerhalb der Mauern eines Konzentrationslagers gedreht wurde. Nach dem Krieg bezeugten KZ-Überlebende Bielmeiers Menschlichkeit: Immer wieder habe er es riskiert, im Lager Häftlingen Brot zuzustecken.

1948 gehörte der sportliche Familienvater zu den Gründern des Ski-Clubs Dachau. Bei den Badefreuden der Bielmeiers in der Amper ist vom Krieg nichts zu spüren. Dafür radelt gelegentlich ein SS-Mann durchs Dachauer Idyll.

Diesem setzen die Filmemacherinnen Farbaufnahmen von US-amerikanischen Soldaten nach der Befreiung des Konzentrationslagers 1945 entgegen. 90 Prozent der Münchner Altstadt sind zerstört. Millionen Menschen sind tot, verstümmelt oder auf der Flucht.

Der filmende SS-Obersturmführer Ludwig Stigler taucht derweil unter. Über Südtirol fliehen er und seine Familie nach Argentinien, wo sie ab 1948 in Buenos Aires leben. In den 50er-Jahren kehrte die Familie nach Bayern zurück. Stigler blieb unbehelligt. Bis zu seinem Tod 1994 lebten Ludwig und Susanne Stigler am Ammersee – in einem Haus mit Garten und in Seenähe.

"Jahre der Verführung / Jahre des Untergangs" machen die Normalität der NS-Diktatur anschaulich – und wie einfach es war, sich wohlzufühlen, wenn man auf der richtigen Seite war. "Diese Bilder treffen uns unerwartet", sagt die Leiterin des Münchner NS-Dokumentationszentrums, die Historikerin Mirjam Zadoff. Zunächst sei es in der historischen Aufarbeitung um die Täter, dann um die Opfer gegangen. "Von den Mitmachern, Profiteuren und Zuschauern, von der großen Masse wissen wir noch viel zu wenig."

Ein Zitat des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968), selbst vom NS-Staat rassisch verfolgt und später Ankläger im Auschwitzprozess, geht Filmemacherin Michaela Wilhelm-Fischer seit der intensiven Auseinandersetzung mit den vordergründig harmlosen Bildern und ihren verborgenen Abgründen nicht mehr aus dem Kopf: "Nichts gehört der Vergangenheit an. Alles ist Gegenwart und kann wieder Zukunft werden."

Dass sie begreifbar macht, wie wahr dieser Satz ist – das ist das größte Verdienst dieser außergewöhnlichen Dokumentation.

TV-TIPP

Beide Teile der Dokumentation, "Jahre der Verführung" und "Jahre des Untergangs", sind in der Mediathek des BR abrufbar.