Aus heutiger Sicht ist es kaum zu glauben: Als nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg die alliierten Sieger Gebiete entlang des Rheins besetzten, übersahen sie einen kleinen Landstrich zwischen Koblenz und Mainz. Auf der Karte ähnelt er einem Flaschenhals. Der Bürgermeister des Rheinstädtchens Lorch rief daraufhin 1919 kurzerhand den "Freistaat Flaschenhals" aus, führte bunte Geldscheine ein - und die Region wurde zum Schmugglerparadies.

Knapp 100 Jahre später wird es eng im Weingut Nies in Lorchhausen am Mittelrhein, als "Staatspräsident" Peter Josef Bahles rund 100 Besucher zu einer kulinarischen Weinwanderung durch die Weinberge und das historische Lorch begrüßt. Der große Zuspruch an diesem Samstag hat die heutige "Regierung" des "Freistaats Flaschenhals" überrascht. Und es könnte bald noch enger werden. Denn die Tourismus-Initiative, die heute mit dem Freistaat und einem eigenen "Reisepass" wirbt, ist sehr rührig.

Die zweite Karriere des "Flaschenhalses"

Es war Gilbert Sulek, der inzwischen verstorbene Inhaber des Lorcher Campingplatzes, der 1994 auf die Idee kam, die einmalige Zeitspanne des kleinen Landstrichs in den Jahren 1919 bis 1923 unter dem Namen "Freistaat-Flaschenhals-Initiative" zu vermarkten. Betrieben wird sie von Weingütern, Hotels und dem Campingplatz. Die "Ministerien" sind mit Winzern und Hoteliers gut besetzt. Neben dem Präsidenten und der Finanzministerin gibt es das Auswärtige Amt, das Ministerium des Inneren, das Ministerium für Wirtschaft und Technologie sowie das Ministerium für Tourismus und Internet. Und es gibt besagten "Reisepass", der seinem Inhaber allzeit "freie Fahrt" durch das Territorium sowie einige kulinarische Vergünstigungen gewährt.

Lorch am Rhein mit der katholischen St. Martinskirche.
Wein, Besatzung, Schmuggler, Welterbe: Lorch am Rhein mit der katholischen St. Martinskirche gehört heute zum UNESCO-Welterbe Oberes Mittelrheintal.

Die Geschichte des kleinen Freistaats, der vom 10. Januar 1919 bis zum 25. Februar 1923 tatsächlich existierte, ist abenteuerlich: Sie beginnt mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands-Abkommens am 11. November 1918 im Wald von Compiègne. Zusätzlich zur Besetzung des linken Rheinufers verlangten die Siegermächte eine rechts des Rheins gelegene Besatzungszone. Drei Brückenköpfe sollten verhindern, dass Deutschland die im Rheinland vorhandenen Bodenschätze und Industrieanlagen nutzt, um wieder aufzurüsten.

Landrat unerreichbar im Niemandsland

Daher wurde ein jeweils 30 Kilometer breiter Halbkreis um drei linksrheinische Städte gezogen - Köln, Koblenz und Mainz. Die im Halbkreis liegenden rechtsrheinischen Gebiete wurden von den alliierten Truppen besetzt. Die Siegermächte hatten geplant, dass sich die Kreise überschneiden und kein Gebiet zwischen den Brückenköpfen unbesetzt blieb.

Doch zwischen Mainz und Koblenz ging das schief. Zwischen der amerikanischen und der französischen Besatzungszone blieb jener kleine Landstrich frei, der optisch dem Hals einer Flasche glich. Er gehörte keinem Besatzungsgebiet an und war auch vom Deutschen Reich abgeschnitten.

Der zuständige Landrat von Limburg an der Lahn residierte unerreichbar im Niemandsland und übergab daher die Verwaltungsaufgaben des Gebiets an den Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischeck. Der schritt, sicher nicht ganz bierernst, zur "Staatsgründung": Am 10. Januar 1919 erklärte er das flaschenhalsähnliche Gebilde, das sich zum Rhein hin öffnete, für unabhängig.

Dem französischen Kommandeur von Anfang an ein Dorn im Auge

Doch bald wurde klar, dass die Versorgung des "Freistaats" nicht zu sichern war. Die Alliierten hatten das Gebiet von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Zwar druckten die findigen Rheinländer ihr eigenes Geld zum Gebrauch im Flaschenhals. Weil man Geld aber nicht essen kann, mussten auch Waren besorgt werden. Nach Lage der Dinge ging dies nur durch die beiden angrenzenden Besatzungszonen: also durch Schmuggel.

Immer häufiger trieben Bauern aus den besetzten Gebieten nachts Kühe und Rinder über die Grenze. Winzer brachten karrenweise Kohle über Waldwege in den "Freistaat". Bezahlt wurden die Schmuggler mit der einzigen Ware, die bis heute im Flaschenhals in rauen Mengen vorhanden ist: selbst gebrannter Schnaps und vor allem Wein.

Dem französischen Kommandeur war die kleine Exklave von Anfang an ein Dorn im Auge - der florierende Schwarzhandel umso mehr. So ließ er am linksrheinischen Ufer starke Scheinwerfer zur Überwachung der Grenze aufstellen. Nach vier Jahren des fantasievollen Protests und passiven Widerstands wurde der Freistaat Flaschenhals am 25. Februar 1923 von marokkanischen Hilfstruppen der französischen Armee besetzt und Pnischeck verhaftet. Damit endete die Existenz des Freistaats Flaschenhals - zumindest vorläufig, wie seit 1994 die Tourismus-Initiative zeigt.

 

"Freistaat Flaschenhals Initiative (FFI)" im Internet: www.freistaat-flaschenhals.de

Rückseite eines 25-Pfennig-Notgeldscheins der Stadt Lorch am Rhein im sogenannten »Freistaat Flaschenhals« (1919-1923).
Rückseite eines 25-Pfennig-Notgeldscheins der Stadt Lorch am Rhein im sogenannten »Freistaat Flaschenhals« (1919-1923).