Die KZ-Gedenkstätte Dachau bietet Besucher*innen jetzt die neue, kostenlose Augmented-Reality-App "ARt" – dabei werden die realen Eindrücke vor Ort um computergesteuerte Zusatzinformationen erweitert. Nicht zum ersten Mal nutzt damit die Gedenkstätte modernste Augmented-Reality-Technik für die Vermittlung der Geschichte. Im Sonntagsblatt-Interview erklären Dr. Elisabeth Fink und Nicole Steng von der KZ-Gedenkstätte Dachau, was ihnen bei der Erinnerungsarbeit wichtig ist – und wie moderne Technologien dabei helfen können.

Hat sich die Reaktion der Besucher auf das Museum und das Gelände im Laufe der Zeit verändert? Sieht man einen Unterschied zwischen den Reaktionen von jungen Leuten, die den Zweiten Weltkrieg nur aus der Schule kennen, und Älteren, die vielleicht eher auch noch persönliche Erfahrungen damit verbinden?

Dr. Elisabeth Fink: Im Vorgängerprojekt "Die Befreiung" haben wir festgestellt, dass die junge Generation sich sehr angesprochen fühlt. Wir haben Schüler*innen eingeladen, den Prototyp der App zu testen, und sie gefragt, wie sehr sie sich davon angesprochen fühlen. Da haben wir viel positives Feedback bekommen, besonders durch diesen Aspekt, dass die Geschichte näher an sie heranrückt. Ich denke, viele Jugendliche haben den Eindruck, das ist alles sehr lange her. Das KZ wurde vor 76 Jahren befreit, das liegt gerade aus der Perspektive eines Jugendlichen lange zurück. Aber durch die Fotos aus der App "Die Befreiung" oder die Zeichnungen in unserem jetzigen Projekt "ARt" rückt das Geschehen näher an uns heran, weil diese Fotos auf dem Bildschirm in die Umgebung integriert werden.

Haben Sie dazu auch Feedback bekommen?

Dr. Elisabeth Fink: Ja, das haben die Schüler*innen auch genau so gesagt. Auch die Verbindung der Bilder mit Audioaufnahmen, in denen die Erfahrungen der ehemaligen Häftlinge aus Tagebucherinnerungen noch einmal dargestellt werden, wurde als sehr eindrücklich empfunden. Die Schüler*innen hatten allerdings nicht den Eindruck, dass sie vom Gesehenen überwältigt wurden, sie wurden vielmehr dazu angeregt, sich mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen. Unsere Angebote sind allerdings für alle da, und wir haben auch sehr gutes Feedback von der älteren Generation bekommen, die sich ebenfalls freut, die Geschichte des KZ in einer neuen Darstellungsform zu sehen.

Erinnerungsarbeit in der KZ-Gedenkstätte Dachau (v.l.): Stefan Marx, Dr. Gabriele Hammermann, Nicole Steng, Dr. Elisabeth Fink und Anne-Sophie Panzer bei der Vorstellung des Projekts "Art meets Augmented Reality. Das KZ Dachau in Zeichnungen."

Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau in der neunten Klasse. Finden Sie diese Besichtigung, die fast alle bayerischen Schüler machen, sinnvoll? Oder sind Sie der Meinung, dass sie an Wichtigkeit verloren hat?

Nicole Steng: Ich glaube es ist wichtig, dass man einen Anlass hat, hierherzukommen und sich hier informieren zu lassen. Wir sind aus Bildungsgründen vielleicht nicht immer damit einverstanden, dass das nur in Form von Rundgängen geschieht. Manchmal würde man sich wünschen, man hätte ein bisschen mehr Zeit mit den Schüler*innen, einfach dass man manches noch etwas mehr vertiefen kann. So ein Rundgang ist zweieinhalb Stunden lang, aber viele Schulklassen haben dafür oft keine Zeit und sind nach zwei Stunden wieder weg. Das ist sehr wenig Zeit. Aber ich denke, einen Anlass zu haben, hierherzukommen, ist wahnsinnig wichtig. Ich kenne das von Freunden, die sagen: "Ich wohne hier jetzt schon seit 25 Jahren, aber ich war noch nie da, obwohl ich das immer mal machen wollte."

Projekt "Art meets Augmented Reality. Das KZ Dachau in Zeichnungen."

Die KZ-Gedenkstätte Dachau hat vorige Woche in Zusammenarbeit mit dem Berliner Start-up "Zaubar" die kostenlose App "ARt Dachau - Augmented Reality" gelaunched. Damit ist es möglich, Einblicke in die Erfahrungen der Inhaftierten zu erhalten – und zwar durch Häftlingszeichnungen, die mithilfe von Augmented Reality auf dem Smartphonebildschirm zum Teil der Umgebung werden. Der Rundgang der App, der teils zerstörte Gebäude wieder vor Augen ruft und mit Audiobeiträgen verknüpft ist, dauert etwa eine Stunde. Die KZ-Gedenkstätte Dachau empfiehlt den Download vor dem Besuch im App Store oder im Google Play Store.

Ist die Vermittlung der Geschichte an junge Leute dadurch schwieriger geworden, dass es kaum noch Zeitzeug*innen gibt?

Nicole Steng: Ich glaube, das liegt gar nicht so sehr daran, ob es Zeitzeug*innen gibt oder nicht. Die Vermittlung ist oftmals vor allem davon abhängig, was für Vorwissen vorhanden ist. Viele Schüler*innen kommen bar jeden Wissens am Anfang der Unterrichtseinheit Nationalsozialismus in die Gedenkstätte. Die Referent*innen versuchen dann, Lehrer*innen zu ersetzen. Dafür haben sie aber nur maximal zweieinhalb Stunden Zeit und müssen nun die komplette NS-Geschichte darin verpacken. Das ist natürlich schwierig. Wenn jetzt Schüler*innen kommen, die die NS-Geschichte ausreichend besprochen haben, die über den Kriegsverlauf bereits etwas wissen und einige Eckdaten kennen, ist das viel einfacher. Für die ist es natürlich einerseits eindrücklich, den Ort zu sehen, andererseits natürlich aber auch interessant, über Biografien zu lernen, weil wir in den Rundgängen viel mit Biografien arbeiten.

Bei Zeitzeug*innen haben die Schüler*innen dann einen Menschen mit seiner oder ihrer Biografie dann direkt vor sich...

Ja, sozusagen als "Sahnehäubchen" ist  ein Zeitzeug*innengespräch wahnsinnig eindrücklich. Es ist einfach beeindruckend, jemanden kennenzulernen, der das wirklich alles noch "an der eigenen Haut" erlebt hat. Also – unbedingt machen, unbedingt, wer weiß, wie lange wir das noch machen können. Aber ich glaube, Zeitzeug*innen an sich sind nicht notwendig, um die Geschichte hier zu vermitteln. Das ist ein ganz anderer Zugang.

"Dadurch, dass es leider nur noch wenige Zeitzeug*innen gibt, die davon berichten können, werden wir die Möglichkeit in absehbarerer Zeit nicht mehr haben."

Dr. Elisabeth Fink: Es ist natürlich mit großen Herausforderungen verbunden. Es ist Konsens, dass das eindrücklichste gedenkstättenpädagogische Erlebnis, das man haben kann, ein Zeitzeug*innengespräch ist. Dadurch, dass es leider nur noch wenige Zeitzeug*innen gibt, die davon berichten können, werden wir die Möglichkeit in absehbarerer Zeit nicht mehr haben. Unsere Projekte "ARt" und "Die Befreiung" sind ein Ergebnis der Suche nach neuen Wegen der Vermittlung. Wir fragen uns, wie wir gerade Jugendliche ansprechen können, ohne ein Gespräch mit einem Zeitzeugen ermöglichen zu können.

Wo liegt die Verantwortung jedes Einzelnen, die Geschichte weiterzutragen?

Dr. Elisabeth Fink: Max Mannheimer, ein ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Dachau, hat das sehr schön gesagt: "Die junge Generation trägt zwar keine Verantwortung für das, was geschehen ist, sehr wohl aber eine Verantwortung für die Gegenwart." Das ist ein Leitspruch, dem wir alle versuchen sollten zu folgen. Das, was sich hier im KZ Dachau und in anderen Konzentrationslagern ereignet hat, darf sich nicht noch einmal wiederholen. Da ist natürlich die Verantwortung jedes Einzelnen gefragt.