Hass und Verrohung im Netz stoßen zunehmend auf Widerstand. Das bayerische Justizministerium will Kommunalpolitiker besser vor verbaler Gewalt schützen. Und vergangene Woche standen wegen Internetdelikten in Schwabach und München zwei Männer vor Gericht - der eine hatte den Anschlag auf eine Moschee bejubelt, der andere gegen Flüchtlinge gehetzt. Wie das Internet zu einem friedlicheren Ort werden und was die Kirche dazu beitragen kann - darüber sprach der evangelische Landesbischof und EKD-Ratsvorsitzende, Heinrich Bedford-Strohm, mit dem Sonntagsblatt anlässlich des "Safer Internet Day" am 11. Februar 2020.



Herr Bedford-Strohm, für wie groß halten Sie die Gefahr, die der Gesellschaft durch Hassrede im Internet entstehen könnte?

Bedford-Strohm: Die Folgen der technologischen Revolution in der Kommunikation werden immer noch unterschätzt. Hatespeech hat viel damit zu tun, wie die digitalen Medien funktionieren. Aber man muss den richtigen Weg finden zwischen Alarmismus auf der einen Seite und Besänftigung oder Ignorieren auf der anderen Seite. Unsere Gesellschaft hat immer noch eine starke zivilgesellschaftliche Infrastruktur. Die übergroße Mehrheit wählt demokratische Parteien. Trotzdem haben wir ein Problem. Das führt bis zu körperlichen Bedrohungen von Menschen, die politische Verantwortung tragen - besonders auch in den Kommunen. Die muss man schützen.

Ist das Hasspotenzial immer dagewesen, und die digitalen Medien bringen es nur ans Licht - oder verstärken sie es maßgeblich?

Bedford-Strohm: Besonders im rechtsextremen Bereich gab es immer schon Menschenfeindlichkeit. Aber diese war kaum sichtbar, da die öffentliche Kommunikation maßgeblich von Redaktionen in Zeitungen oder im Rundfunk geprägt war, die Informationen geprüft haben: Was stimmt eigentlich? Was ist sagbar, was muss tabu bleiben? Antisemitismus beispielsweise ist ein solches Tabu - darüber kann man nicht diskutieren. Jetzt kann jeder jede Information ungeprüft ins Netz stellen. Problematisch ist dabei, dass in den digitalen Medien ein Geschäftsmodell zugrundegelegt wird, das auf die Maximierung von Klickzahlen und Verweildauer orientiert ist. Dieses System macht die öffentliche Kommunikation viel stärker als früher von kommerziellen Faktoren abhängig und fördert dadurch das Extreme. Der Aspekt der Verantwortung für das Gemeinwesen tritt dahinter zurück.

Hass im Internet - Zum Safer Internet Day


Algorithmen spülen nach oben, was am meisten Klicks bekommt ...

Bedford-Strohm: Studien zeigen, dass Hass und blanker Unsinn mehr geklickt wird als Wahrheit und Gemäßigtes - daran erkennt man die neue Dynamik. Das Video "Die Erde ist eine Scheibe" wird sechsmal mehr angeklickt als ein Video, das die wissenschaftlich korrekte Erklärung bringt. Obwohl jeder weiß, dass es Unsinn ist. Es entsteht eine Situation, als ob die Unwahrheit plötzlich Wahrheit und als ob Hass akzeptabel wären. Wir müssen fragen, wie es gelingen kann, die Algorithmen ethisch verantwortlich zu gestalten.

Wo liegt die Verantwortung?

Auf unterschiedlichen Ebenen: Auf der individuellen Ebene können Menschen selbst entscheiden, wie sie mit sozialen Medien umgehen. Dort müssen bestimmte Regeln des Anstands gelten, und man muss sich selbst schützen. Auf Organisationsebene müssen Unternehmen die Konsequenzen ihres Handelns hinterfragen und ihre Berufsethik neu aufstellen. Da ist noch viel Handlungsbedarf bei Google und Facebook, bis hin zu den Programmierern, die entsprechend geschult werden müssen.

Auf politisch-struktureller Ebene muss man sicherstellen, dass ein neues Medium mit einem gesetzlichen Rahmen versehen wird, der systemische Unverantwortlichkeit verhindert. Der ehemalige ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm hat ein Modell vorgeschlagen, dass wir in Europa eigene Server einrichten, die nach europäischen Normen funktionieren. Und auf sozialkultureller Ebene müssen wir diskutieren: Was gilt als normal? Wo findet eine Verschiebung des Konsenses statt, die nicht hinnehmbar ist? Da stellen wir eine Enthemmung fest.

Welche Rolle spielt die Kirche beim Thema Hassrede?

Bedford-Strohm: Wir müssen dafür sorgen, dass das, was als normal gilt, sich nicht verschiebt. Es kann nicht normal sein, Menschen herabzusetzen. Daran darf man sich nicht gewöhnen. Da haben wir als Kirche eine wichtige Funktion, und da ist es mir dann egal, wenn uns jemand Moralismus vorwirft - bestimmte Grundnormen müssen einfach gelten. Dass wir einander mit Achtung und Respekt begegnen und das auch einklagen, ist keine moralistische Appellitis, sondern eine Selbstverständlichkeit.

In den sozialen Medien laufen die Debatten wahnsinnig hektisch ...

Bedford-Strohm: Wer in sozialen Medien schnell reagiert, hat den Vorteil. Wer das professionell nutzt, kann viel manipulieren. Auf AfD-Seiten wird das zum Beispiel schamlos genutzt, um Angst zu verbreiten. Das sehe ich als Gefahr für den öffentlichen Diskurs. Es geht dann nämlich nicht mehr um den Austausch von Argumenten auf der Basis von Fakten, sondern um das Schüren von Stimmungen. Auch wir als Kirche müssen versuchen zu vermeiden, uns in Blasen zu bewegen. Die Kunst ist, beides zu tun: klare Kante zu zeigen - und zu versuchen, Menschen ins Gespräch zu bringen und die Bilder, die man sich voneinander gemacht haben, fluider zu machen.

Kann man mit Hass-Verbreitern Mitleid haben, wenn sie abgehängte, vereinsamte Leute sind?

Bedford-Strohm: Jeder Mensch ist zunächst ein Mensch mit Würde - das ist eine gut reformatorische Unterscheidung zwischen dem Menschen und seinen Taten und auch seinen Worten. Für jeden gilt, dass er sich ändern kann und dass ihm das auch zuzubilligen ist. Wenn ein Mensch aufgrund seiner persönlichen Situation Fehler macht, dann muss man klarmachen, dass dies nicht akzeptabel ist und - wo nötig - auch das Strafrecht anwenden - aber das Ziel muss die Resozialisierung sein. Die Motive für Hass zu verstehen bedeutet keinesfalls, Hass zu billigen.

Sie fordern, für soziale Medien ein Kontrollgremium zu schaffen wie bei öffentlich-rechtlichen Sendern den Rundfunkrat.

Bedford-Strohm: Das sind im Moment lediglich Denkansätze. Medien sollen unabhängig sein und sich an Normen wie Menschenwürde orientieren. Wenn man keine Instanz hat, wo man Verantwortung einklagen kann, besteht Handlungsbedarf. Ob das zu schaffen ist, ein europäisches soziales Netzwerk so breit aufzustellen, dass es konkurrenzfähig ist, in dem der Algorithmus nicht kommerz-, sondern wahrheitsbasiert ist - diese Frage ist offen. Aber es ist sinnvoll, nicht klein beizugeben. Ich wünschte mir eine Suchmaschine, bei der die Ergebnisse auf einem Wahrheitscheck basieren.

Soziale Medien bedienen trotzdem wichtige Bedürfnisse - etwa nach Dialog.

Bedford-Strohm: Ich bin selbst dankbar für die Möglichkeiten dieser Medien und freue mich zum Beispiel jeden Tag über die in unserer Familiengruppe digital geteilten Fotos meines Enkels. Auf meiner öffentlichen Facebook-Seite möchte ich den Menschen zeigen, was alles Tolles in der Kirche läuft, und bekomme viele positive Rückmeldungen.

Die etablierten Medien sind massiv unter Druck. Wie wichtig ist Qualitätsjournalismus heute?

Bedford-Strohm: Der Qualitätsjournalismus war noch nie so wichtig wie heute. Wir brauchen Gatekeeper, die uns helfen, uns in der Flut von Informationen zurechtzufinden, die uns an der Hand nehmen und zeigen: Auf die Information kannst du dich verlassen, die haben wir geprüft. Oder: Dieser Aspekt ist wichtig. Diesen Prüfvorgang können wir nicht mehr alleine bewältigen. Ich werbe dafür, den Wert von guter Information entsprechend zu schätzen und dafür zu bezahlen.

Wegen des EKD-Flüchtlingsschiffs haben Sie Morddrohungen erhalten und deswegen auch Anzeige erstattet. Fühlen Sie sich verunsichert?

Bedford-Strohm: Ich fühle mich nicht bedroht, ich habe keine Angst, das erreicht mich innerlich nicht.